Lemony Snicket – Die Schule des Schreckens (Eine Reihe betrüblicher Ereignisse 5)

Selten war ein Buchserientitel treffender formuliert: „Eine Reihe betrüblicher Ereignisse“. Sie brechen nacheinander über drei Waisen herein, die Baudelaire-Erben. Band 5 führt sie an die Prufrock-Privatschule, wo der stellvertretende Schuldirektor ihr neuer Vormund sein soll. Eigentlich. Der jedoch bittet sich Zeit für seine Übungsstunden auf der Geige aus. Ab in den Schuppen!

|Der Autor|

Verlagsinfo: „Lemony Snicket wurde in einem kleinen Ort geboren, in einem Landstrich, der heute unter Wasser steht. Mittlerweile lebt L. S. in der Stadt. In seiner Freizeit sucht er die Orte auf, an denen auch die Baudelaire-Kinder sich aufzuhalten gezwungen waren, um möglichst wahrheitsgetreu über ihr Schicksal berichten zu können. Wer will, kann L. S. im Internet unter http://www.lemonysnicket.de besuchen. Aber wir warnen dringend davor.“ So weit der Text im Buch. Nicht sonderlich aufschlussreich.

Der Zyklus „Eine Reihe betrüblicher Ereignisse“:

1) Der schreckliche Anfang
2) Das Haus der Schlangen
3) Der Seufzersee
4) Die unheimliche Mühle
5) Die Schule des Schreckens
6) Die dunkle Allee

|Der Illustrator|

„Brett Helquist wurde in Ginado, Arizona, geboren, wuchs im Orem, Utah [dem Mormonenstaat], auf und lebt heute New York City. Er studierte Kunst an der Brigham Young University [in Utah] und arbeitet seither als Illustrator für die „New York Times“ und viele andere Publikationen.“ (Die Einfügungen in eckigen Klammern stammen von mir.)

_Vorgeschichte_

Zunächst führten die drei Baudelaire-Kinder eine sorgenfreie Existenz. Sie verbringen den Schicksalstag am Strand und freuen sich des Lebens, jedes nach seinen Vorlieben. Violet, mit 14 Jahren die älteste von ihnen, denkt an eine neue Erfindung, denn sie hat die Fähigkeiten eines Ingenieurs.

Klaus, mit zwölf Jahren der zweitälteste des Trios, ist ein Bücherwurm und Wissenssammler – ein wandelndes Lexikon, aber nicht unfehlbar oder gar allwissend. Und schließlich wäre da noch die kleine Sunny, die noch ein Kleinkind ist, in alles hineinbeißt und kaum ein vollständiges Wort zu sagen vermag, geschweige denn ein verständliches. Aber Sunnys markante Aussprüche werden jedes Mal vom Autor übersetzt.

Doch an besagtem Schicksalstag brennt das Haus ihrer Eltern, in dem sie behütet und geliebt aufwuchsen, vollständig nieder. Der Nachlassverwalter Mr. Poe, ein ewig kränkelnder Bankangestellter, weiß mit den Kindern nichts anzufangen und bringt sie zu einem Vormund nach dem anderen, zuerst zu Graf Olaf, der nur ihr Vermögen will, dann zu Onkel Monty, der vorzeitig das Zeitliche segnet, und schließlich zu Tante Josephine Anwhistle, die am Seufzersee wohnt.

Doch die Kinder fürchten, dass Graf Olaf, der bereits in mehreren Verkleidungen hinter ihnen her war, auch diesmal einen Weg finden wird, die Vormundschaft über sie zu erringen. Zwar soll Violet erst das Familienvermögen erben, wenn sie 18 und volljährig ist, doch Graf Olaf kennt einen Weg, dies zu umgehen: Er muss Violet nur heiraten und das Vermögen gehört ihm.

_Handlung_

Diese Schule scheint nicht gerade die allergewöhnlichste zu sein, finden die drei Waisen. Die Gebäude der Prufrock Privatschule haben die Form von Grabsteinen. Passend dazu besteht das Motto der Schule aus dem alten Spruch: „Memento mori“ – „Gedenke des Todes“/“Bedenke, dass du sterben musst“.

Der stellvertretende Schuldirektor Nero könnte ein Schild „Nicht willkommen!“ auf der Brust tragen. Er verbittet sich jede Störung, hänselt die Kinder, indem er alles, was sie sagen, nachäfft, und besteht darauf, dass sie an seiner Schule jeden Abend sechs Stunden seinen miserablen Eigenkompositionen für die Geige lauschen. Bei Missachtung müssen sie ohne Besteck essen und dem Direx eine Tüte Bonbons kaufen. Ohne Zweifel ist Mr. Nero schon vor langer Zeit sämtlicher Tassen im Schrank verlustig gegangen.

Wenn es ein Quartier gibt, das noch schlimmer als die Kojen in der Sägemühle von Glück & Partner sein kann, so finden es die Kinder hier: Einen Schuppen, darin drei Strohsäcke – und jede Menge Krebse, die eifersüchtig ihr Revier gegen die Eindringlinge verteidigen, indem sie sie mit ihren Scheren zwicken und zwacken.

Dass die beiden einzigen Lehrer die Namen von Fischarten tragen, verheißt ebenfalls nichts Gutes. Mr. Remora isst ständig Bananen, als wäre er ein Gorilla, und seine Geschichten, die er zum Auswendiglernen diktiert, bestehen lediglich aus zwei Sätzen. Mrs. Bass („Seebarsch“) ist eine fanatische Anhängerin des metrischen Systems und lässt alles und jedes in Zentimetern ausmessen, so etwa Schals oder Seifenstücke. Andere Schulfächer gibt es momentan nicht, weil der Sportlehrer ausgefallen ist. Und die kleine Sunny muss als Sekretärin in Mr. Neros Vorzimmer schuften.

Der einzige Lichtblick, dessen die drei Waisen ansichtig werden, besteht in den Drillingen Quagmeir. Allerdings sind von den Drillingen nur noch zwei übrig: Duncan und Isidora (nach der Tänzerin Isadora Duncan), denn ihr Brüderchen Quentin hat bereits das Zeitliche gesegnet. Sie führen Notizbücher über alles und Isidora dichtet satirische Zweizeiler. Sofort schließen die Baudelaires die Quagmeirs ins Herz. Ach, hätten sie sich das mal vorher überlegt! Wenigstens bekommen sie Tipps, wie sie der Krebse Herr werden: Die Zwicker lassen sich durch Lärm vertreiben, der sich leicht mit Schuhen erzeugen lässt, an deren Sohle man Metallplättchen geklebt hat.

Denn nun tritt Graf Olaf, den wir schon lange nicht vermisst haben, auf den Plan. Vize-Direx Nero schnallt natürlich rein gar nichts, als ihm die Baudelaires erzählen, dass der neue Sportlehrer Dschingis mit Graf Olaf identisch sei. Vielmehr verweist er auf seinen „hoch entwickelten Computer“, der einen Bildschirm in schwindelerregendem Grün anzeigt, dass die Daten von Graf Olaf gespeichert seien und keinesfalls mit Trainer Dschingis übereinstimmen. Als ob sich niemand verkleiden könne! Der Trainer hat seine einzige Augenbraue mit einem Turban verdeckt und das auf den linken Knöchel tätowierte Auge mit den Schäften seiner Laufschuhe. Er schleimt sich sofort bei Mr. Nero ein.

Doch was führt Graf Olaf im Schilde? Die Waisen ahnen noch nicht, was auf sie zukommt, als sie vom schrecklichsten Mädchen der Schule davon informiert werden, dass Trainer Dschingis sie abends zum Training auf dem Rasen bestellt hat. Weil es dunkel zu werden beginnt, müssen sie zunächst einen Kreis in Leuchtfarbe auf den Rasen pinseln. Auf diesem Kreis laufen sie dann x-mal herum.

Schon am zweiten Abend des erschöpfenden Herumgerennes schwant ihnen, dass der Kreis eigentlich eine Null darstellt. Und dass ihr Leben unausweichlich darauf zusteuert …

_Mein Eindruck_

Endlich finden die einsamen Baulaire-Waisen also Schicksalsgenossen. Und was für nützliche. Denn Isidora, die Dichterin, und Duncan, der Reporter, zeichnen alle wichtigen Informationen auf, die die Baudelaires für die Aufklärung von Graf Olafs Plänen benötigen.

Wieder einmal wird ihre permanente – und wohlbegründete – Verschwörungstheorie bestätigt. Leider lauert die Gefahr aus einer ganz anderen Ecke auf sie, als sie nach ihren Erkenntnissen vermutet haben. Und die Baudelaires können wohl nichts dafür, dass sie durch ihre Gefährdung auch die Quagmeirs in Gefahr gebracht haben. Diese sind schließlich ebenfalls bevorzugte Beute von Graf Olaf & Co.: Millionenerben.

Am Schicksal der Baudelaires nehmen Kinder gerne Anteil, wie man an den Verkaufserfolgen in den USA ablesen kann. Doch dieser permanenten Verfolgung scheint nach dem 11. September eine sonderbare Aktualität zugewachsen zu sein. Die mörderischen Anschläge auf New York und Washington haben die Amerikaner die Angst vor Terror gelehrt. Verschwörungstheorien haben Hochkonjunktur, nicht nur im Heimatschutzministerium.

Und wo sitzen die Helfer und Drahtzieher der Terroristen innerhalb des riesigen Landes? Wie Graf Olaf können sie tausend Gestalten annehmen und sich bei nichts ahnenden Erwachsenen einschmeicheln. Hinzu kommen noch jene Vertreter unter den Erwachsenen, die zu schwach sind, um sich entweder der Gefahr bewusst zu werden oder sich weigern, sich damit auseinanderzusetzen und Maßnahmen zu ergreifen.

Tante Josephine vom Seufzersee beispielsweise hat vor allem Angst, nicht zuletzt auch vor Graf Olafs neuester Inkarnation „Kapitän Talmi“. Die Schwäche, die den Baudelaires an der „Schule des Schreckens“ in den Rücken fällt, ist die egomanische Selbstbezogenheit des Stellvertretenden Schuldirektors Nero. Diese Eitelkeit macht ihn anfällig für die Schmeicheleien von „Trainer Dschingis“. Das Bewusstsein, durch einen Computer vor Graf Olaf geschützt zu sein, wiegt Nero in trügerischer Sicherheit. Neros Verhalten ist kindlich: Wer seinem miserablen Geigenspiel nicht lauscht, muss ihm Bonbons kaufen. Seine Strafen sind ebenso lächerlich wie demütigend: Besteckentzug.

Seine Lehrer Remora und Bass vermitteln Unsinn: dämliche Geschichten und Vermessung ohne Sinn und Verstand. Ganz offensichtlich sind auch ihre Figuren überspitzt gezeichnet. Ihre Lehren haben nichts mit der Wirklichkeit zu tun, sondern dienen nur der Befriedigung ihrer Eitelkeit – würdige Helfershelfer ihres Direx. Die harsche Kritik an einer solchen Schule hat der Autor in satirischer Übertreibung verpackt, so dass Kinder darüber lachen oder wenigstens schmunzeln können. Dahinter verbirgt sich jedoch tiefe Abneigung gegen die dargestellten Missstände.

Die Hilfsmittel und Erfindungen, die sich die Baudelaires und Quagmeirs gegen die idiotischen Erwachsenen einfallen lassen müssen, sind aber ebenso an den Haaren herbeigezogen. Wer würde schon an das Vertreiben zudringlicher Krebse durch laute Schuhe denken? Beide Seiten der Satire zusammen ergeben eine unterhaltsame Groteske, die vor allem durch die abgedrehten Dialoge unterhaltsam wird.

Violet und Klaus machen sich ja klar verständlich, aber Sunny sagt immer nur ein einziges Wort, das keiner bekannten Sprache entstammt: Babysprache. Dennoch wird es sofort als kompletter Satz erkannt und übersetzt. Auch dies ein Beispiel dafür, dass normale Erwachsene eben keine Babysprache verstehen, gute und schlaue Kinder dagegen schon. Die Snicket-Romane erklären nicht nur ausgefallene Wörter, sie vermitteln dem jungen Leser auch das Gefühl, mehr vom Buch und den Baudelaires zu verstehen als die „doofen“ Erwachsenen. Sicher mit ein Grund für den Erfolg.

_Unterm Strich_

Wie immer dauert es eine ganze Weile, bis die Baudelaire-Waisen die spezielle Verrücktheit ihres neuen Domizils – als „Heim“ kann man es nicht bezeichnen – herausgefunden und die Schwächen ihres neuen Vormunds am eigenen Leib zu spüren bekommen haben. Sodann müssen sie sich etwas einfallen lassen, denn Graf Olaf, der niemals weit entfernt sein kann, heckt bestimmt schon etwas aus, um sich die geistigen und / oder charakterlichen Schwächen der Erwachsenen zunutze zu machen.

Diesmal jedoch brauchen die Waisen mindestens ebenso lange wie ihre neuen Freunde, die Quagmeirs, um dahinter zu kommen, wie trickreich eingefädelt die Falle ist, die sich der Widersacher diesmal ausgedacht hat. Wieder einmal ist es der Vormund, der ihnen in den Rücken fällt. Und so wie’s aussieht, wird das auch immer so bleiben.

_Die Geschichte hinter den Geschichten_

Der nächste Band, der den Titel „Die dunkle Allee“ trägt, ist die direkte Fortsetzung. Die Baudelaires begegnen ihren Freunden unter sehr unerwarteten und unangenehmen Begleitumständen wieder. Allmählich erhalten wir eine zunehmende Zahl von Hinweisen, dass es für die Übergriffe auf die Baudelaires weitere wichtige Gründe gibt. Diese kennt der Chronist der Ereignisse, der sich „Lemony Snicket“ nennt, offenbar recht gut, verrät sie uns aber nicht. Sie haben etwas mit der Dame Beatrice zu tun, die er im ersten Band vorgestellt hat. Bis wir endlich den ganzen Umfang dieser Metastory erfahren, dürften noch sehr viele Romane erzählt werden: Es gibt insgesamt 13 Bände von Lemony Snickets Berichten.

Gebundene Ausgabe: 224 Seiten
Originaltitel: A Series of Unfortunate Events :The Austere Academy, 2000
Aus dem US-Englischen übersetzt von Klaus Weimann