Stephen Baxter – Die letzte Flut

Langsame Apokalypse

Die nahe Zukunft: Der Meeresspiegel steigt rasant an. Städte werden überflutet, Millionen von Menschen sind auf der Flucht. Was ist die Ursache für diese verheerende Flut? Der Klimawandel? Oder ein anderes, bisher unbekanntes Phänomen? Als die Wissenschaftlerin Thandie Jones eine sensationelle Entdeckung macht, beginnt ein gnadenloser Wettlauf mit der Zeit. Denn die Flut bedroht das Überleben der ganzen menschlichen Zivilisation… (Verlagsinfo)

Hintergrund der Geschichte ist, dass sich im Tiefengestein der Erde große Wasserkavernen befinden. Diese Kavernen brechen auf und überfluten die Kontinente. In den ersten Jahren steigt der Meeresspiegel um wenige Zentimeter pro Jahr, dann um mehrere Meter pro Jahr, schließlich um hunderte Meter pro Jahr. Über einen Zeitraum von 50 Jahren beschreibt der Roman die Flucht der Menschen vor der nicht aufzuhaltenden Flut. Die einen fliehen in höhere Gebiete, die anderen versuchen ihr Glück auf Flößen und die dritten bauen Archen, um zu überleben. (Wikipedia.de)

Fortsetzung: „Die letzte Arche“ (2011).

Der Autor

Stephen Baxter (* 13. November 1957 in Liverpool) ist ein englischer Science-Fiction-Autor, der seit 1995 diese Tätigkeit hauptberuflich ausübt. Baxter studierte Mathematik in Cambridge und wurde als Ingenieur an der Southampton-University promoviert. Einige Jahre lang lehrte er Mathematik, Physik und Informatik.

Sein Stil als Hard-SF-Schreiber gilt als einzigartig. Er hat viele Preise gewonnen: Den Philip K. Dick Award, den John W. Campbell Memorial Award, den British Science Fiction Association Award, den deutschen Kurd-Laßwitz-Preis und den Seiun Award (Japan). Den Sidewise Award für Geschichten, die sich um alternative Zeitlinien drehen, erhielt er zum einen für seinen Roman Voyage (dt. Mission Ares) und zum anderen für seine Erzählung Brigantia’s Angels, für die Erzählung Huddle bekam er den Locus Award. Stephen Baxter stellt in jedem seiner Romane eine Frage und leitet dann Antworten aus dem aktuellen Kenntnisstand der physikalischen Gesetze und Theorien her.

Die mittlerweile umfangreiche Bibliografie findet sich HIER.

Handlung

1. Teil: Juli bis August 2016 (Anstieg des Meeresspiegels: 1-5 m)

Die Britin Lily Brooke, die in der US-Luftwaffe als Captain gedient hat (sie hat beide Staatsbürgerschaften), ist eine von mehreren westeuropäischen und amerikanischen Geiseln, die in Spanien in die Hände von lokalen Milizen, Rebellengruppen oder islamistischen Terroristen gefallen sind. Die 40-jährige Helikopterpilotin wird mit ihrer Gruppe von einer zur anderen Hand weitergereicht, bis sie schließlich in Barcelona unter schrecklichen Bedingungen freikommt. Kurz zuvor wird der aufmüpfige Amerikaner erschossen, und die vier Überlebenden (plus ein Baby) schwören einander, in Verbindung zu bleiben, komme was wolle.

London

Es regnet unablässig. Ein Helikopter der AxysCorp bringt sie erst nach London, wo Helen, die das Opfer einer Vergewaltigung geworden ist, ihr Baby, die kleine Grace, hergeben muss. Sie wird bald erfahren, dass die kleine saudische Prinzessin von allen möglichen Leuten beansprucht wird. Fortan muss sich Helen durchfragen, um ihre Tochter wiederzubekommen.

Fulham

Ein Taxi bringt Lily zu ihrer Schwester in den Stadtteil Fulham. In dieser Wohngegend der Upper Middle Class lebt ihre Schwester Amanda Caistor mit ihren zwei Kindern Kristie (11) und Benjamin (14). Jetzt erst erfährt Lily, dass ihre Mutter vor zwei Jahren gestorben sei und ihren zwei Töchtern ihren Besitz zu gleichen Teilen vererbt habe. Die Überschwemmung der alten Villa musste Mum nicht mehr miterleben.

Während die beiden Schwestern ihr Leben neu sortieren, geht Lilys Begleiter Gary, ein Klimaforscher, zur Themse runter, um sich die Beine zu vertreten. Nach fünf Jahren Geiselhaft ist er endlich wieder in Freiheit und will sie genießen, aber der Dauerregen macht den Spaziergang nicht gerade zu einem Vergnügen. Die Web-Nachrichten, die er Lily zeigt, sind bestürzend: Der Meeresspiegel ist um sage und schreibe einen Meter gestiegen, die englische Ostküste ist ebenso wie ein Großteil der Westküste dabei abzusaufen; schon ist East Anglia großenteils überflutet. Und nun nähert sich auch noch ein Sturm von der Nordsee her, der mehr Wasser in die Themse-Mündung drücken wird.

Sturmflut

Lily, Gary, Helen und Piers, der britische Soldat, sollen am nächsten Tag zu einem Empfang von Nathan Lammockson, dem Direktor von AxysCorp. Der Treffpunkt liegt in der Themsemündung auf einer schwimmenden Stadt, die sich großspurig „Hydro-Metropole“ nennt. Lammockson ist der reichste Mann Großbritanniens, hat aber viel für Publicity übrig, die ihn als Wohltäter aussehen lässt – daher auch die Rettungsaktion in Barcelona. Er vorgesorgt und jede Menge Helikopter bereitgestellt. Er schwört, Helen helfen zu wollen. Dann kommt die Springflut…

Der Sturm drückt die Wassermassen in die Themsemündung und immer weiter flussaufwärts, bis zum Flutsperrwerk, das sieben Meter hoch ist. Die Flut überspringt diese Hürde mit Leichtigkeit und stürzt sich wie ein gieriges Monster auf alles Land in der Schwemmebene, die dahinter liegt. Piers, der Soldat, und die anderen haben alle Hände voll zu tun. Lily muss ihre Schwester und deren Kinder retten. Helen schafft es in letzter Minute auf höheres Gelände in der Innenstadt, wo ein Berater des Außenministeriums ihre Mission unterstützt, Grace wiederzubekommen.

Die wichtigste Begegnung hat jedoch Gary Boyle. Er trifft eine alte Kollegin wieder, Thandie Jones aus den USA. Sie vertritt eine höchst ketzerische Ansicht, um den plötzlichen Anstieg des Meeresspiegels zu erklären. Denn der Anstieg wiederspricht allen Klimamodellen. Sie meint, das Wasser komme aus der Tiefe. Gary ist verwundert, aber er verschafft ihr die Finanzierung für eine Expedition nach Island. Und so kommt es, dass Lily vier Wochen später eine Einladung nach Island bekommt, während das Haus ihrer Schwester in Fulham evakuiert wird…

2. Teil: Mai 2017 (Anstieg des Meeresspiegels: 5-80 m)

Lilys Einladung kann leider erst im Mai/Juni 2017 eingelöst werden. Nach einem Zwischenspiel in Houston, Texas, wo sie Piers Michaelmas wiedergesehen hat, steigt sie zusammen mit Thandie Jones in ein Tauchboot, das in der Lage ist, sehr tief runterzugehen. Da unten, vor Islands Südküste, erstreckt sich der Mittelatlantische Meeresrücken – bis hinunter zur Antarktis. Als Nahtstelle zwischen zwei Kontinentalplatten macht der Meeresrücken besonders deutlich, welche gewaltigen Kräfte in der Erdkruste wirken: Hier quillt heißes Magma aus dem Erdinneren, das die zwei Platten mehrere Zentimeter pro Jahr auseinanderdriften lässt (sehr zum Schaden aller anderen Platten).

Doch Lily und Thandie stoßen in mehreren tausend Metern Tiefe nicht nur auf heißes Magma, sondern auf etwas viel Schlimmeres: Aus dem Tiefengestein öffnen sich große Wasserkavernen und entlassen Zillionen von Litern Wasser in den umgebenden Ozean. Ihr kleines Tauchboot wird von einer heftigen Aufwärtsströmung erfasst und an die Oberfläche gezwungen. Thandies Theorie ist damit bestätigt: Die Wasserkavernen sind es, die den Meeresspiegel so rasant ansteigen lassen, nicht das schmelzende Eis von den Gletschern in Grönland und anderswo. Das bedeutet, die Flut wird kommen, viel schneller und viel höher als bislang erwartet…

Mein Eindruck

Das Geschehen überspannt einen Zeitraum von knapp 40 Jahren. Solange dauert es, bis auch die Spitze des höchsten Berges der Welt, des Mount Everest (8848 m) vor den Augen der letzten Überlebenden überspült wird. Lily und die anderen Musketiere, die sich als überlebende Geiseln einen heiligen Schwur geleistet haben, auf einander aufzupassen, begleitet mit ihren erstaunlichen Erlebnissen diese Entwicklung. Und da sie die Ehre hat, ihrem selbsternannten Beschützer Nathan Lammockson folgen zu dürfen, überlebt sie nicht nur diese lange zeit voller Katastrophen, sondern wird Zeugin, wie Nathans Erfindergeist Techniken und Verfahren entwickelt, wie man das Beste daraus machen kann.

Das Thema ist also nicht, wie Menschheit im Schnellvorlauf absäuft – was ja bereits längst begonnen hat -, sondern wie man Vorkehrungen dafür trifft, trotz dieser angekündigten Katastrophe zu überleben. Der Wege sind gar viele, und Lily überlebt nur deshalb, weil sie bereit ist, bestimmte Entscheidungen zu treffen. Andere, wie etwa Warlords oder Piraten, haben ihre eigenen, zerstörerischen Entscheidungen getroffen. Sie leben nicht aus eigener Kraft, sondern auf räuberische Weise vom Leben und Besitz anderer. Im Falle von Tibet, dem hochgelegenen „Dach der Welt“, stoßen Lily, Lammockson und Co. nicht etwa auf helfende Hände, sondern auf Menschenfresser. Nur ein winziger Augenblick genügt, um Lily den Schock ihres Lebens zu versetzen: Da öffnet sich das Tor zu Tibets Warlord-Territorium einen Spaltbreit und auf Pfähle aufgespießte Köpfe werden sichtbar.

Der Leser wird deshalb eine Menge neuer Erfindungen im Einsatz vorfinden, von einem Spiegelkocher, der mit Sonnenenergie betrieben wird, bis hin zu einem gummiartigen Boden, der die Boote und Flöße der letzten Überlebenden dieser Wasserwelt verbindet. Dieser ist ein Produkt der gentechnischen Experimente an Bord der „Arche Drei“, eines riesigen Passagierdampfers, den Lammockson in den peruanischen Anden nach dem Vorbild der echten „Queen Mary“ hat bauen lassen. Er hat vorausgesehen, dass die Flut eines Tages bis in 4000 Meter über dem Meer steigen würde. Nach und nach verwandelt er das atomgetriebene Schiff in eine schwimmende Fabrik, ein Labor und schließlich in ein Schlachtschiff. Denn Piraten gibt es, wie gesagt, überall auf der Welt. Am Ende fällt ihnen auch das stolze Schiff zum Opfer.

Doch keine Bange! Thandie Jones ist bereits zur Stelle: im letzten U-Boot der US Navy. Da dies mehr als einmal passiert, kokettiert Thandie bereits mit ihrer Rolle als Lilys Schutzengel. Allerdings darf sie nicht ein drittes Mal tun, denn das wäre doch zu vorhersehbar und langweilig. Nein, die Unglücke, denen Lily zum Opfer fällt, sorgen für Nervenkitzel und Spannung – wird sie ertrinken oder von den Haien gefressen, bangt der Leser. Der Autor verkneift sich detaillierte Kampfszenen, lässt so manche Rebellion, so manchen Piratenüberfall nur in der Rückblende Revue passieren. Einzige Ausnahme ist die Schlacht im Stadion von Cuzco. Mehr darf hier nicht verraten werden.

Nicht nur Lammockson, sondern auch die Musketiere von Barcelona sorgen sich immer wieder darum, wer nach ihnen kommen werde. Wird es eine Generation geben, die die finale Flut überleben kann? Und tatsächlich: Helen Grays saudische Tochter Grace bekommt von einem angeblichen Qechua-Indio einen Sohn namens Manco, und Lily hat die Ehre, seinen Werdegang unter den Bootsleuten mitverfolgen zu können. Als er ein eigenes Kind bekommen, ist sie schon siebzig, doch der kleine Boris kennt keine andere Welt als diese endlose Wasserwüste. Als die Spitze des Everest versinkt, ist er nur gelangweilt. Na und, bloß ein weiterer dämlicher Felsen, über den sich die Altvorderen aufregen.

Fortsetzung folgt

Warum heißt das Schiff „Arche Drei“ fragt sich Lily wiederholt. Zusammen mit Thandie und Gary Boyle sucht sie Antworten auf das Rätsel der beiden anderen Archen. Nummer eins scheint ein Generationenraumschiff zu sein, und listig sorgt sie mit Thandie dafür, dass die schwangere Grace Gray an Bord aufgenommen wird. Von ihrem Schicksal ist also in der Fortsetzung „Die Arche“ zu lesen. Bleibt noch die Frage zu klären, worum es sich bei „Arche zwei“ handelt.

Die Übersetzung

S. 175: „eine kleine Steigung des Wasserspiegels“: Ich habe noch nie eine schräg stehende Wasseroberfläche gesehen, nicht mal im Zahnputzglas, wenn ich es schräg halte (außer bei Wellen usw.). Gemeint ist deshalb wohl der ANSTIEG des Meeresspiegels.

S. 202: „Geborgene-Erde-Fahne“: Keine Ahnung, ob die die Erde irgendwo geborgen sein kann, aber sie ist ganz bestimmt geborgt. Und zwar von unseren Enkeln.

S. 256: „Kapalken“: plattdeutsch für „Nichtsnutz“; siehe auch https://www.ndr.de/kultur/norddeutsche_sprache/plattdeutsch/woerterbuch101_region-3896.html.

S. 302: „Ästuare des Forth und des Clyde“: Gemeint sind die Mündungen der beiden schottischen Flüsse. Hätte man ja auch so übersetzen können.

S. 463: „Wasser, das von [i]hrem Spiegelkocher erhitzt worden war.“ Das I fehlt.

S. 486: „Dies war die Pampa, einst eine der trockensten Wüsten der Welt.“ Da die Pampa aber eher eine Steppe ist und sich zumeist in Argentinien befindet, meint der Autor wohl die auf chilenisch-peruanischer Seite befindliche Atacama-Wüste.

S. 581: „Nathan nickte den Wachen zu. Einer von ihnen zückte einen Schlagstock und hieb NATHAN von hinten gegen die Beine.“ Es ist schwer vorstellbar, dass der Milliardär Nathan Lammockson seine eigene Folterung befiehlt. Daher ist wohl sein Sohn Hammond gemeint, mit dem er in Streit liegt und den er demütigen will. Dieser ID-Fehler kann auch dem Autor unterlaufen sein.

Landkarten

Dem Text sind mehrere topografische Karten vorgeschaltet. Sie zeigen den wahrscheinlichen Verlauf der Küstenlinien zwischen den Jahren 2016 und 2052, also zwischen 5 m Meereshöhe mehr und 1000 m Anstieg gegenüber dem Jahr 2008, als das Buch entstand. Bei +100 m sind die Kontinente noch erkennbar, aber schon bei +400 m nicht mehr. Bei +1000 m ragen nur noch Gebirgsketten aus dem Wasser. Diese sind heiß umkämpft.

Unterm Strich

Der Roman erzählt in fünf Teilen die Geschichte der Flut vom Jahr 2016 bis 2052, also fast 40 Jahre. Dieser Zeitraum reicht aus, dass die Wassermassen die Erdoberfläche vollständig bedecken. Die Frage, die sich die verschworenen Überlebenden der Barcelona-geiselnahme stellen, lautet jedoch, ob sich bis dahin die Menschheit genügend angepasst haben wird, um weiterzubestehen. Das ist der große Spannungsbogen des Buches.

Jeder Teil (bis auf den letzten) verfügt über seinen eigenen Spannungsbogen, und der Leser verfolgt mehr oder weniger gespannt, ob und wie es unseren Helden gelingt, auch dieser Phase der langsamen Apokalypse zu überleben. Nicht alle schaffen es, aber Lily springt dem Tod mehr als einmal von der Schippe. Einmal wird die unfreiwillige Zeugin, wie ein Tsunami die Berge – naja, Hügel – von Cornwall unter sich begräbt. In letzter Sekunde bringt sie ihre Schwester und deren zwei Kinder zu einem bereitstehenden Helikopter. Sie hat gewusst, was kommt und rechtzeitig gehandelt, auch gegen den Widerstand ihrer Schwester.

Immer wieder stehen sie und ihr Gönner Nathan Lammockson vor solchen schwierigen ethischen Entscheidungen. Am Schluss gibt es zwei verschiedene menschliche Spezies: Die alte, traditionelle, der Lily angehört und die zu den Sternen fliegt, und die neue, die auf dem Ozean als Bootsmenschen leben kann. Und wer weiß? Vielleicht werden sich die beiden divergenten Spezies eines Tages wieder auf Terra – oder besser: „Aqua“, denn „Land“ gibt’s ja keins mehr – begegnen und übereinander staunen. Man darf also auf die Fortsetzung neugierig sein.

Ich hätte mir mehr Action gewünscht, aber der Autor beschränkt sich auf das Blutvergießen im Stadion von Cuzco. Mehr Gewalt muss es wohl für die meisten Leser echt nicht sein. Faszinierend ist jedoch der Verlauf des Schicksals der Handvoll zentraler Figuren und die vielen Veränderungen in Fauna, Flora und Wettersphäre, mit denen sie zurechtkommen müssen. In allen Umweltbereichen hat sich der Autor plausible Phänomene einfallen lassen. Und für einen Leser, der an der Zukunft interessiert, bieten diese Entwürfe fesselnden Lesestoff.

Taschenbuch: 752 Seiten
Originaltitel: Flood
Aus dem Englischen von Peter Robert
ISBN-13: 9783453533592

www.heyne.de

Der Autor vergibt: (4.0/5) Ihr vergebt: SchrecklichNa jaGeht soGutSuper (No Ratings Yet)