Stephen King – Basar der bösen Träume

In 20 kurzen bis langen, zwischen 2009 und 2015 entstandenen Storys erweist Stephen King abermals der konzentriert auf die Idee zielenden Erzählung seine Referenz, wobei keineswegs immer der blanke Horror im Mittelpunkt steht; das routiniert Unterhaltsame siegt generell über das nur Banale und Mittelmäßige, sodass der seitenstarke Band die Lektüre wert ist.

Inhalt:

– Vorwort, S. 11-15

Raststätte Mile 81 (Mile; 2011), S. 17-88: Um in den USA Beute zu machen, tarnt man sich als menschenfleischgieriger Außerirdischer am besten als – Automobil.

Premium Harmony (Premium Harmony; 2009), S. 89-108: Obwohl seine Ehekrise das erhoffte rasche Ende erfährt, ist Ray anschließend nicht wirklich zufrieden.

Batman und Robin haben einen Disput (Batman and Robin Have an Altercation, 2012), S. 109-130: Sandersons alter Vater mag seinen Verstand verloren haben, doch seine Reflexe sind hellwach, als der Sohn in Lebensgefahr gerät.

Die Düne (The Dune; 2011), S. 131-154: Seit 80 Jahren rudert Harvey Beecher hinaus zur kleinen Insel; er ist süchtig nach dem, was ihm dort eine Sanddüne offenbart.

Böser kleiner Junge (Bad Little Kid*), S. 155-216: Ein Dämon hat die ideale Körpermaske gefunden, in deren Schutz er sein Opfer verfolgt und piesackt, bis dieses den Spieß unverhofft umdreht.

Ein Tod (A Death; 2015), S. 217-238: Sheriff Barcley muss die Hinrichtung eines Mörders beaufsichtigen, den er nicht unbedingt für schuldig hält.

Die Knochenkirche (The Bone Church; 2009), S. 239-252: Die Erinnerung an eine katastrophal geendete Expedition zu einem uralten Elefantenfriedhof sucht den einzigen Überlebenden heim.

Moral (Morality; 2009), S. 253-298: Für das vorsätzliche Begehen einer scheinbar geringfügigen ‚Stellvertretersünde‘ erhalten Nora und Chad viel Geld – und zerstören ihre Leben.

Leben nach dem Tod (Afterlife; 2013), S. 299-318: William stirbt zum wiederholten Male und wird im Jenseits vor eine Wahl gestellt, die er abermals mit einem Trick für sich entscheiden will.

Ur (Ur; 2009), S. 319-412: Wesley kann mit seinem E-Book-Reader Bücher aus parallelen Welten und Nachrichten aus der Zukunft herunterladen, bis man beim Hersteller auf diesen Versandfehler aufmerksam wird.

Herman Wouk lebt noch (Herman Wouk Is Still Alive, 2011), S. 413-442: Die Wege eines alten aber glücklichen Paares und zweier junger aber unglücklicher Frauen kreuzen sich kurz aber blutig.

Ein bisschen angeschlagen (Under the Weather; 2011), S. 443-470: Wahre Liebe und Wahnsinn verschmelzen, als sich die Krankheit der Gattin folgenreicher endet als der Ehemann wahrhaben will.

Blockade Billy (Blockade Billy; 2010), S. 471-534: Billy ist keine Leuchte, doch auf dem Spielfeld ist er geradezu mörderisch zum Sieg entschlossen.

Mister Sahneschnitte (Mister Yummy*), S. 535-562: Der Tod nimmt eine Gestalt an, die seine nächsten Opfer friedlich stimmt.

Tommy (Tommy; 2010), S. 563-570: Was ist viele Jahre nach dem Ende der Hippie-Ära vom „Sommer der Liebe“ geblieben?

Der kleine grüne Gott der Qual (The Little Green God of Agony; 2011), S. 571-612: Mancher Schmerz ist buchstäblich lebendig – und schwer zu bändigen, wenn man ihn aus seinem ‚Gastkörper‘ lockt.

Jener Bus ist eine andere Welt (That Bus Is Another World; 2014), S. 613-628: Hässliche Ereignisse lassen sich ignorieren, wenn man sie aus einiger Entfernung beobachtet.

Nachrufe (Obits*), S. 629-692: Wessen Nachruf Mike schreibt, der oder die muss sterben – und es gibt katastrophale Nebenwirkungen.

Feuerwerksrausch (Drunken Fireworks; 2015), S. 693-742: Der Wettstreit zweier grenzdebiler Familien um das spektakulärste Feuerwerk findet seinen explosiven Höhepunkt.

Sommerdonner (Summer Thunder; 2013), S. 743-766: Das Ende der Welt kommt sanft und sommerlich, bleibt aber hässlich und tödlich.

(* Erstveröffentlichung in diesem Buch)

Privileg des Erfolgreichen

Seit Jahrzehnten hält ausgerechnet Stephen King, dessen Romane an Seitenstärke stetig zunahmen, der Kurzgeschichte die Treue. Er wurde und wird nicht müde, ihre Vorteile zu preisen, während er die Nachteile keineswegs ignoriert: Der Markt für (honorierte) Storys ist stetig geschrumpft, Geld lässt sich heute vor allem mit Romanen verdienen, die – ein zusätzlicher Bonus – schon eine Serie vorbereiten: Erfolg lässt sich leichter planen = vermarkten, wenn er möglichst wenige Überraschungen = Risiken beinhaltet.

Ein Autor wie King, der trotz seines ‚Dienstalters‘ und einer eindrucksvollen Veröffentlichungsliste weiterhin in der Bestseller-Liga mitspielt, muss nicht auf dieses Karussell aufspringen. Ihm zahlt man auch für kurze Geschichten gutes Geld, da bereits der Name für die gewünschte Aufmerksamkeit des kaufenden Publikums sorgt. Auf diese Weise wirkt eine King-Story sogar als Köder; so schrieb der Verfasser „Ur“ zunächst als Quasi-Werbung für den Amazon-Kindle („Ur“).

Alle Jahre wieder kramt King zusammen, was er in einem halben Jahrzehnt neben seinen Romanen geschrieben hat, und stellt daraus eigene Story-Sammlungen zusammen. Dahinter steckt mehr als Recycling, denn King nimmt sich manche Erzählung noch einmal vor und überarbeitet sie, bis sie sich von der ursprünglichen Fassung deutlich unterscheidet. Den „Basar der bösen Träume“ ergänzte er außerdem durch drei bisher unveröffentlichte und damit neue Geschichten.

Kurz aber keineswegs schmerzlos

Wenn jemand sein Füllhorn nicht nur ausschüttet, sondern auch auskratzt, ist damit zu rechnen, dass sich unter schmackhaften Früchten das eine oder andere faule Ei finden wird. Diese Sammlung stellt keine Ausnahme dar, was u. a. daran liegt, dass ein Stephen King praktisch alles veröffentlichen kann, ohne dass ihm seine Verleger Einhalt gebieten würden. Deshalb müssen wir uns mit Seltsamkeiten wie den beiden Prosa-Gedichten „Die Knochenkirche“ und „Tommy“ abfinden, die beim besten Willen ihren Unterhaltungswert entweder gar nicht oder nur dem poesiegestählten Feingeist enthüllen möchten.

Nicht zu monieren sind dagegen jene Erzählungen, die King nicht als Horror-Meister präsentiert, sondern als Geschichtenerzähler. Noch immer gibt es Leser, zu denen nicht durchgedrungen ist, dass King in allen Genres sattelfest ist; dieses Mal präsentiert er mit „Ein Tod“ sogar eine Story, die im Wilden Westen spielt. „Feuerwerksrausch“ ist eine Komödie, in der niemand stirbt und die sogar ein (märchenhaft) gutes Ende nimmt.

Nichtsdestotrotz geht King auf Nummer Sicher. Mit „Raststätte Mile 81“ setzt er auf eine breitenwirksame Einleitung und liefert eine Gruselgeschichte, die klassischer nicht sein könnte. Dass sie nicht gerade originell ist, sondern recht offensichtlich alte King-Routinen bedient, ändert nichts an ihrem Unterhaltungswert – ein Urteil, das unter den meisten der hier gesammelten Geschichten stehen könnte, wobei die Schere unterschiedlich weit klaffen kann: „Die Düne“ beginnt stark und vielversprechend, um mit einem schlaffen Final-Gag zu (ver-) enden, während „Böser kleiner Junge“ belegt, wieso sich King so lange so weit oben halten konnte.

Der Mensch – das wahre Monster

Schon sehr früh und mit den Jahren immer stärker rückte King den Menschen als das wahre Monster in den Vordergrund. Wir benötigen keine ‚Monster‘ und keine Außerirdischen, um uns das Leben schwer zu machen. Die Hölle kann leicht ein Platz auf der Erde sein, wie King in unzähligen Variationen verdeutlicht hat. Sein Talent befähigt ihn, solche Binsenweisheiten nicht nur im US-amerikanischen Alltag zu verankern, sondern sie mit echten Leben zu füllen. Hinter seltsamen („Batman und Robin haben einen Disput“) oder scheinbar hochgestochenen („Herman Wouk lebt noch“) Titeln verbergen sich Geschichten, die vom Terror ausschließlich irdischer Herkunft erzählen. Armut, Hoffnungslosigkeit, Frustration, Zorn, Verzweiflung: Immer wieder stellt King diese Bausteine als Fundamente jäh ausbrechenden Wahnsinns (Blockade Billy“, „Ein bisschen angeschlagen“), aufflammender Gewalt („Jener Bus ist eine andere Welt“) und blind zuschlagenden Todes („Premium Harmony“) neu zusammen.

Generell ist King skeptisch, was die Macht der Vorsehung angeht – eine Haltung, die durch einen schweren Unfall 1999, der ihn in die Medikamenten- und Drogensucht abgleiten ließ, verstärkt hat. Nichts ist sicher, wobei King auch vor liebgewonnenen Klischees nicht haltmacht: Während der Kandidat in „The Green Mile“ noch unschuldig in der Todeszelle saß, trifft dies auf den scheinbar als Sündenbock verurteilten Trusdale nicht mehr zu („Ein Tod“), und übernatürliche Fähigkeiten machen nicht nur süchtig, sondern haben Effekte, die den Nutzen weit übertreffen („Nachrufe“).

Das Ende mag manchmal sanft und versöhnlich kommen, doch dann stellt es oft eine Erlösung dar, wenn die Figuren beispielsweise in einem öden Altenheim verdämmern („Mister Sahneschnitt“). Sollte es ein „Leben nach dem Tod“ geben, setzt sich die Banalität des Diesseits dort fort. Die Wiedergeburt nach King ist primär die ewige Wiederholung des vergeblichen Versuches, es beim nächsten Mal besser zu machen – sollte es ein nächstes Mal geben: Ganz besonders düster gibt King dieses Mal bei einem seiner Lieblingsthemen: dem (menschlich verschuldeten) Ende der Welt („Sommerdonner“).

Überraschungen oder Springteufel?

Kings Protagonisten mögen Dozenten oder Baseballtrainer sein, doch liegen ihre mittelmäßigen Universitäten oder stets verlierenden Mannschaften irgendwo in der Provinz. Mr. Und Mrs. Jedermann erleben in der Regel Herausforderungen der besonderen Art. Nicht immer stellt das Alltagsleben sie vor Entscheidungen, die sie überfordern. Sensationelle Entdeckungen („Ur“) entpuppen sich als wahre Schlangeneier, deren unfreundlicher Inhalt über die entsetzten Entdecker kommt, und obwohl King es nicht nötig hat, auf sie zu setzen (s. o.), macht er hin und wieder deutlich, dass es Dämonen eben doch gibt („Böser kleiner Junge“, „Der kleine grüne Gott der Qual“).

20 böse Träume bietet Stephen King uns im bekannten, d. h. trügerisch simplen Stil an, der sich in der deutschen Fassung erstaunlich einheitlich liest, obwohl insgesamt 15 (!) Übersetzer ihr Werk taten. Weiterhin setzt King auf eine klare Sprache, in der sich auch komplexe Sachverhalte durchaus ausdrücken lassen, und bildstarke Vergleiche. Selbstverständlich hat sich die Methode mit der Zeit abgenutzt. Noch einmal sei wiederholt, dass King zwar viele Epigonen und Nachfolger gefunden hat, die ihn freilich nicht verdrängen konnten. Er drischt mehr Stroh als früher, aber dazwischen glänzen weiterhin leckere Körner.

Autor

Normalerweise lasse ich an dieser Stelle ein Autorenporträt folgen. Wenn ich ein Werk von Stephen King vorstelle, pflege ich dies zu unterlassen, wie man auch keine Eulen nach Athen trägt. Der überaus beliebte Schriftsteller ist im Internet umfassend vertreten. Nur zwei Websites – die eine aus den USA, die andere aus Deutschland – seien stellvertretend diese und diese genannt: sie bieten aktuelle Informationen, viel Background und zahlreiche Links.

Gebunden: 766 Seiten
Originaltitel: The Bazaar of Bad Dreams (New York : Scribner 2015)
Übersetzung: Wulf Bergner, Ulrich Blumenbach, Jürgen Bürger, Jan Buss, Karl-Heinz Ebnet, Gisbert Haefs, Urban Hofstetter, Bernhard Kleinschmidt, Kristof Kurz, Gunnar Kwisinski, Jürgen Langowski, Johann Christoph Maass, Friedrich Mader, Jakob Schmidt u. Friedrich Sommersberg
www.randomhouse.de/heyne

eBook: 2115 KB
ISBN-13: 978-3-641-16403-4
www.randomhouse.de/heyne

MP3-CD: 3 CDs (23 h 20 min.; ungekürzt, gelesen von David Nathan)
ISBN-13: 978-3-8371-3283-0
www.randomhouse.de/Hoerbuch-Download

Hörbuch-Download: Laufzeit: 23 h 20 min. (ungekürzt, gelesen von David Nathan)
ISBN-13: 978-3-8371-3284-7
www.randomhouse.de/Hoerbuch-Download

Der Autor vergibt: (3.5/5) Ihr vergebt: SchrecklichNa jaGeht soGutSuper (No Ratings Yet)