Stephen King – Danse macabre. Die Welt des Horrors

Von der Magie des Schreckens

Der Horrormeister aus Maine vermittelt in diesem Wälzer einen wertvollen Überblick über fast alle Erscheinungsformen von Horror und Fantasy: in Film, Radio, Buch und Fernsehen. Comics hat er zwar ausgespart, kommt aber immer wieder darauf zu sprechen. Außerdem ist der betrachtete Zeitraum auf die 30 Jahre von 1950 bis 1980 begrenzt. Dennoch ist „Danse macabre“ eines der grundlegenden Sekundärwerke zur Schauerliteratur, das in keinem Regal eines ernsthaften Horrorlesers fehlen sollte.

Der Autor

Stephen King, geboren 1947 in Portland, Maine, ist einer der erfolgreichsten amerikanischen Schriftsteller. Schon als Student veröffentlichte er Kurzgeschichten, sein erster Romanerfolg, „Carrie“ (verfilmt), erlaubte ihm, sich nur noch dem Schreiben zu widmen. Seitdem hat er weltweit 400 Mio. Büchern in mehr als 40 Sprachen verkauft. Im November 2003 erhielt er den Sonderpreis der National Book Foundation für sein Lebenswerk. (Verlagsinfo) Er lebt in Bangor, Maine, und Florida. Seine Erstleserin ist immer noch seine Frau Tabitha King. Inzwischen schreibt auch sein Sohn Joe Hill erfolgreich: „Blind“ (bei Heyne).

Sein Hauptwerk, das zeigt sich immer deutlicher, ist der Zyklus um den dunklen Turm. Er besteht bislang aus folgenden Romanen:

Schwarz (ab 1978); Drei; Tot; Glas; Wolfsmond; Susannah; Der Turm (2005), Wind (2013).

Stephen King wurde bei der Erschaffung der Saga um den Dunklen Turm maßgebend von dem Gedicht „Childe Roland to the Dark Tower Came“ von Robert Browning inspiriert („Herr Roland kam zum finstern Turm“), welches sich wiederum unter anderem auf Edgar’s Song in Shakespeares Drama „König Lear“ bezieht. Dieser Hinweis ist der Wikipedia entnommen, die nicht nur einen Spezialartikel zum Zyklus enthält, sondern auch jeden einzelnen Roman vorstellt.

Die Themen

Zunächst erklärt King den Sinn und Zweck dieses Buches und wie es zustande kam. Dann wird es interessant: Er beschreibt, was er denn nun als „Horror“-Themen betrachtet. Und das ist so ziemlich alles, was uns einen Schrecken einjagt, indem es denjenigen Punkt findet, wo unsere schwächste Abwehrstellung ist: an der Grenze von Glauben und Wissenschaft, welche uns die Welt erklären, und an unserem Realitätssinn, welcher extrem einfach zu erschüttern ist, wie jeder bestätigen kann, der zwei bis drei Tage Schlafentzug hinter sich hat.

Drei Archetypen

Er stellt drei Archetypen des Horrors auf: der Vampir („Dracula“ und Ghule etc.), der Werwolf („Dr. Jekyll und Mr. Hyde“) sowie das Ding ohne Namen („Frankenstein“ und andere Golems, aber auch die „Großen Alten“ Lovecrafts). Darauf kann er immerhin 99% aller Horrorgestalten zurückführen, was doch sehr für seinen Scharfblick spricht.

Nach „einer ärgerlichen autobiografischen Unterbrechung“, in der er von sich und seiner Familie erzählt (als ob uns das interessieren würde!), finden Horrorshows in Radio und Fernsehen eine entsprechende Würdigung. Sie ist zwar interessant und amüsant dargeboten, doch leider sind solche TV-Werke nur am Rande für uns von Bedeutung. Denn lediglich Kultserien wie „Outer Limits“ und „Unheimliche Schattenlichter “ (The Twilight Zone) fanden den Weg zu unseren Sender. Das macht aber nichts, denn King lässt, aus eigener bitterer Erfahrung sprechend, kaum ein gutes Haar an solchen Fernseherzeugnissen.

Die Tradition

Größte Bedeutung haben hingegen die rund 200 Seiten, die er der Horror-Literatur spendiert. Er hat zehn Schriftsteller und ihre exemplarischen Werke ausgewählt, um zu demonstrieren, was er für epochale Werke „guter“ Horrorliteratur hält. Allerdings befindet sich Qualitätsstandard ständig auf Kollisionskurs mit dem der anerkannten Kritiker, so dass er sich bemüßigt fühlt, ein ums andere mal, letztere anzugreifen, um seine Position zu verteidigen. Der Leser muss selbst ein Urteil fällen.

Wie auch immer – dies sind Kings Favoriten:

1) Peter Straub: Geisterstunde (Ghost Story)
2) Anne River Siddons: Das Haus nebenan (The house next door)
3) Shirley Jackson: Spuk in Hill House (The Haunting of Hill House)
4) Ira Levin: Rosemarie’s Baby
5) Jack Finney: Die Körperfresser kommen (Invasion of the Body Snatchers)
6) Richard Matheson: Die seltsame Geschichte des Mr. C (The Incredible Shrinking Man)
7) Ray Bradbury: Das Böse kommt auf leisen Sohlen (Something wicked this way comes)
8) Ramsey Campbell: Die Puppen in der Erde (The doll who ate his mother)
9) James Herbert: Unheil (The fog)
10) Harlan Ellison: Strange Wine (Stories: „Croatoan“ und andere)

Aufgrund der zeitlichen Begrenzung kommt unter den genannten Engländern leider Clive barker nicht vor. Dafür finden dessen Landsmänner wie etwa Arthur Machen („Der Große Gott Pan“) lobende Erwähnung.

Als erfahrener Literaturanalytiker und Schriftsteller findet King immer einen grundlegenden Nenner in jedem dieser Werke, der das Genre vorangebracht hat. Sei es die regionale Bedeutung für den amerikanischen Süden (Siddons), sei es die Erneuerung des Spukhaus-Motivs (bei Jackson), sei es eine neue, moderne Sprache (Campbell) oder die ätzende Kritik an aktuellen Problemen (v.a. Ellison) – stets dient das jeweilige exemplarische Werk zum Beleg von Kings These, dass Horror eine angemessene Ausdrucksform für zeitgenössische Themen ist.

Horror mag häufig erzkonservativ erscheinen, aber das ist er nur, weil er darauf beharrt, dass menschliche Werte wie Würde, Hoffnung, Glaube und Liebe Vorrang vor den Bedrohungen haben, denen sich Menschen heute ausgesetzt sehen: Atomkraftwerke, Flugzeugabstürze, Giftmüll, Genexperimente, die Gräuel eines Krieges (wie in Vietnam) usw. Würde ein Roman die täglichen Katastrophen aufgreifen, so müsste der Lektor das Buch unweigerlich ablehnen, weil es zu nahe an der beunruhigenden Realität dran ist, statt seine wichtigste Aufgabe zu erfüllen: zu unterhalten.

Horror, Magie, Kinder

Ich habe bereits eine der Thesen aus dem Schlusskapitel erwähnt, das den Titel trägt „Der letzte Walzer – Horror und Moral, Horror und Magie“. Magie ist für Kinder wie die Luft zum Atmen, sie ist selbstverständlich und überall – bis zu einem gewissen Alter (etwa acht). An diesem Punkt treffen sich Horror und Fantasy. Die Grenze ist fließend, wie Stephen Donaldsons Romane um Thomas Covenant zeigen. „Durch Lügen erzählen die beiden Genres die Wahrheit im Leben des Menschen“, postuliert King, und ich bin geneigt, ihm zuzustimmen. Immer mehr Menschen suchen diese Wahrheit in Büchern, die praktisch Lügengeschichten wie einst in der Antike die „Odyssee“ sind. Sie verbreiten ihre eigene Magie.

Doch es kommt darauf an, diese Lügen von der Realität zu unterscheiden, sondern kann es zu üblen Entgleisungen kommen – wie dieses letzte Kapitel in Zeitungsmeldungen über Morde klar macht. „Ich habe Stimmen gehört, die Stimmen haben mir befohlen, sie/ihn zu töten“, erkären Mörder immer wieder, die zuvor unauffällige Zeitgenossen waren.

Unterm Strich

Ich kenne kein anderes Werk, das sich auf so persönliche Weise und mit einem umfassenden Faktenwissen mit den Erscheinungsformen von Horror und Fantasy auseinandersetzt. „Danse macabre“ enthält zahlreiche Denkanstöße und eine Vielzahl humorvoller Anekdoten, die es zu einer unterhaltsamen Lektüre machen.

Da nicht nur der Autor, sondern auch der Übersetzer (Stand: 1988) und die Ullstein-Redaktion (Stand: 2000) ihre erklärenden und ergänzenden Fussnoten eingefügt haben, befindet sich das Werk anno 2000 quasi auf dem neuesten Stand. Zwei Best-of-Listen für Filme und Bücher sowie ein ausführliches Titelregister tragen zusätzlich zum Gebrauchswert des Buches bei.

Leider hat die Liste der 100 besten Horror-Bücher – dazu zählt auch Goldings „Herr der Fliegen“ – den kleinen Nachteil, dass etliche der Werke entweder nicht auf Deutsch erschienen oder inzwischen seit den achtziger Jahren nicht mehr aufgelegt worden sind.

Einen Durchhänger hatte ich lediglich in den Kapiteln über Radio- und TV-Serien, wohingegen ich die letzten 200 Seiten über die Bücher verschlungen habe, auch wenn nicht jeder Leser sie leicht finden wird.

Übersetzungsfehler

Geärgert habe ich mich nur über die fehlerhafte Schreibung des Namens des berühmtesten Hobbits: „Frodo“ heißt hier immerzu „Fredo“. Das spricht ja nicht gerade für die Sachkenntnis der Redaktion und des Übersetzers.

Taschenbuch: 688 Seiten
Originaltitel: Danse macabre, 1981
Aus dem Englischen von Joachim Körber.
ISBN-13: 978-3548362595

https://www.ullstein-buchverlage.de

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