Stephen King – Duddits / Dreamcatcher

Kackwiesel und andere Aliens

Mit „Duddits“ knüpft Stephen King an seine klassischen Erfolge wie Der Friedhof der Kuscheltiere oder Es an: Was die vier Freunde Pete, Henry, Jonesy und Biber als harmlosen Jagdausflug in die Wälder von Maine geplant hatten, endet in einer bizarren tödlichen Bedrohung. Da fällt ihnen Duddits ein, ihr alter Freund mit telepathischen Fähigkeiten – er ist ihre letzte Hoffnung auf Rettung aus diesem nicht enden wollenden Alptraum …

„Duddits“ (im Original: Dreamcatcher) ist ein Roman des US-amerikanischen Schriftstellers Stephen King aus dem Jahre 2001. Im Jahre 2003 wurde er unter dem Titel „Dreamcatcher“ verfilmt. Das Manuskript, von Hand geschrieben, war ein Mittel des Autors, um sich von einem Autounfall im Jahre 1999 zu erholen und wurde von ihm in einem halben Jahr fertiggestellt. (Quelle: Wikipedia.de)

Der Autor

Stephen King, geboren 1947 in Portland, Maine, ist einer der erfolgreichsten amerikanischen Schriftsteller. Schon als Student veröffentlichte er Kurzgeschichten, sein erster Romanerfolg, „Carrie“ (verfilmt), erlaubte ihm, sich nur noch dem Schreiben zu widmen. Seitdem hat er weltweit 400 Mio. Büchern in mehr als 40 Sprachen verkauft. Im November 2003 erhielt er den Sonderpreis der National Book Foundation für sein Lebenswerk. (Verlagsinfo) Er lebt in Bangor, Maine, und Florida. Seine Erstleserin ist immer noch seine Frau Tabitha King. Inzwischen schreibt auch sein Sohn Joe Hill erfolgreich: „Blind“ (bei Heyne).

Sein Hauptwerk, das zeigt sich immer deutlicher, ist der Zyklus um den dunklen Turm. Er besteht bislang aus folgenden Romanen:

Schwarz (ab 1978); Drei; Tot; Glas; Wolfsmond; Susannah; Der Turm (2005), Wind (2013).

Handlung

Ein „Dreamcatcher“ ist ein ursprünglich von Indianern hergestellter Talisman, um böse Träume einzufangen und vom Schlafenden fernzuhalten. Das feine Gespinst wird in einem Rahmen geflochten und an die Decke gehängt. Es ist ein mächtiges Symbol, das im Film zwar oft vorkommt, aber viel zu wenig ernstgenommen wurde.

Das Ding und seine Bedeutung wird den vier Freunden Henry, Pete, Beaver (= Joe Clarendon) und Jonesy von einem stotternden Jungen vermittelt, den sie eines Tages aus den „Klauen“ größerer Jungs befreien, die ihm Hundekot zu essen geben wollen (damit fängt dieses unappetitliche Thema, das den ganzen Film durchzieht, an). Der Junge, der eigentlich Douglas Cavell heißt, nennt sich nuschelnd „Duddits“. Und er verfügt über besondere Gaben. Die gibt er an seine neuen Freunde weiter, beispielsweise Telepathie und die Findegabe. So findet Pete mit seinem Suchefinger ein verschwundenes Mädchen namens Josie in einem Schacht.

Gaben

Zwanzig Jahre später setzt die Gegenwartshandlung ein. Henry vertreibt einen seiner Patienten, weil er dessen Gedanken gelesen hat. Später muss er ständig daran denken, sich à la Papa Hemingway zu erschießen. Pete, der Autohändler, versucht, bei einer Blondine zu landen. Beaver versucht den Abend allein herumzubringen und Professor Jones, lebendig die Straße zu überqueren. Alle scheitern auf ganzer Linie.

Nach einer ganzen Weile verrät uns der Autor, wie es zu Jonesys Unfall kam: Weil er Duddits auf der anderen Straßenseite „sieht“, überquert Jonesy die Straße im dicksten Verkehr und wird prompt überfahren – er ist also nicht selbst schuld. Ein Todestraum vermittelt ihm Kontakt zu Duddits, der ihn vor „ister gay“ (= Mister Gray) warnt. Das ist der erste Hinweis auf das, was bevorsteht.

Idylle der Jäger

Sechs Monate später trifft sich das Quartett glücklich wieder zu einem Wochenende in Duddits‘ Waldhütte „Hole in the wall“, wo die Traumfänger unter der Decke hängen. Jonesy hinkt zwar noch, kann aber laufen und Schneemobil fahren. Da taucht ein Fremder namens Rick McCarthy in Jonesys Zielfernrohr auf, und um ein Haar hätte er das Objekt, das er für einen Hirsch hielt, erschossen. Wenn er doch nur abgedrückt hätte! Rick hat der schwere Magen-Darm-Probleme, die nicht nur extrem unangehm duften, sondern sich schon bald als tödlich erweisen. Und gleich darauf donnern Armeehubschrauber über die Hütte, deren Piloten das Waldgebiet zu Quarantänezone erklären.

Kackwiesel

Während Beaver seinen lebensgefährlichen Kampf mit dem Kackwiesel-Alien, das McCarthy entschlüpft ist, aufnimmt, beschließen die Sondertruppen um Colonel Abraham Curtis und Major Owen, das Alien-verseuchte Gebiet unter Beschuss zu nehmen. Ein roter Pilz, den die Blue Boys kurzerhand „Ripley“ getauft haben, breitet sich überall aus, auch in Duddits Jagdhütte. Dies scheint der erste Schritt im Lebenszyklus der Aliens zu sein.

Invasionen

Unterdessen gelingt einem der überlebenden Aliens, dem Grauen Mann, der Angriff auf Jonesy. Er übernimmt dessen Bewusstsein, bis auf einen winzigen Teil, in den sich Jonesy zurückziehen kann: eine Ort wie eine Bibliothek oder ein Archiv. Und dort hilft ihm Duddits zu überleben.

Während Alien-Jonesy mit einem Affentempo das Sperrgebiet verlässt, um den nächsten See zu verseuchen, folgen ihm Henry und Major Owen, aber sie werden wiederum von einer Gruppe unter Colonel Curtis verfolgt. Keiner der Infizierten darf entkommen – das war schon immer so, seit Curtis Aliens jagt…

Mein Eindruck

So konventionell das Setting für einen Alien-Invasionsroman ist, so reizvoll ist doch Kings Umsetzung der Invasionsfolgen. Während man bei Heinleins „Die Marionettenspieler“ und Jack Finneys „Invasion der Körperfresser“ ebenfalls auf körperliche und geistige Übernahmen stößt, so gewinnt King doch der Möglichkeit, sich telepathisch zu verständigen, nicht nur negative Aspekte ab. Die negative Sichtweise war für Kalte Krieger in den fünfziger und sechziger Jahren sinnvoll oder politisch korrekt. Für King ist sie das nicht mehr ausschließlich.

Duddits

Dafür sorgt alleine schon seine Figur des Duddits. Der schüchterne Mann mit dem Lispeln, den wir im Abstand von 20 Jahren kennenlernen, ist jedoch anders als im Film kein Alien, der heldenhaft unseren vier Jungs zu Hilfe kommt, sondern offenbar ein beinahe „normaler“ Mensch mit besonderen Fähigkeiten. Und einen Teil davon gibt er an seine Freunde und Retter weiter, so etwa die Gabe, die „Linie“ zu sehen, die zu etwas Gesuchtem hinführt. Außerdem wissen sie durch Empathie, wo sich die anderen der Gruppe jeweils befinden. Und wie Henry im Curtis-Camp demonstriert, kann er Gedanken lesen und Bilder übertragen.

Evastöchter

Wäre man unbedarft, könnte man annehmen, dass die vier Jungs mit ihrer Telepathie zu den Herrschern der Gesellschaft aufsteigen. Das Gegenteil ist der Fall: Henry steht kurz davor, sich umzubringen; Jonesy hat einen schweren Unfall erlitten, weil er eine Vision von Duddits hatte. Nicht einmal mit den Evastöchtern kommen sie richtig klar. In der Jagdhütte wird ihnen wieder einmal der Ernst ihrer Lage klar: Am Rande der Zivilisation wird ihnen ihre Außenseiterposition deutlich. Na, und dann schlägt das Schicksal zu, wie man so schön sagt.

Verteufelt

Die Alien-Invasion dient dazu, die Vor- und Nachteile einer potentiell telepathischen Gemeinschaft aufzuzeigen und zu testen. Colonel Curtis beispielsweise verteufelt jeden der Infizierten, weil die über die Kraft verfügen könnten, seine Gedanken zu beeinflussen. Na, gnade Ihnen Gott und Curtis! Er schreckt aber nicht davor zurück, die telepathischen Fähigkeiten eines Infizierten zu missbracuhen, um Henry und Owen zur Strecke zu bringen. Curtis demonstriert die utilitaristische Nutzung von – ansonsten abzulehnenden – Machtmitteln, solange sie seinen Zwecken dienlich sind. In der Not frisst der Teufel Fliegen.

Der Erinnerungspalast

Einen weiteren Aspekt des Einsatzes von Telepathie als Machtmittel ist die Herrschaft des Grauen Mannes über Jonesys Körper. Wie ein Heinlein’scher Marionettenspieler bedient er dessen Körper wie eine Puppe. Dazu gehören auch ausgewählte Erinnerungen und Sprachmuster. Doch Jonesy ist ein besonderer Trick gelungen: Ähnlich wie Hannibal Lecter in seiner unteridischen Haft ist es ihm gelungen, sich einen „Erinnerungspalast“, eine „Gedächtniskathedrale“ zu schaffen, in der er sich vor den mentalen Zugriffen seines Schmarotzers in Sicherheit bringen kann. Aber nur so lange, wie er diesem den Zugriff verwehren kann, also nicht an gefährliche oder verräterische Themen wie etwa denkt. Dieser mit verschiedenen sprachlichen und geistigen Mitteln ausgetragene Zweikampf gelingt ihm leider zunehmend weniger gut, bis sich die Lage für ihn gefährlich zuspitzt. Wenigstens kommt es zu einigen grotesk-komischen Szenen, in denen er verschnaufen kann.

Jesus loves you (not): Symbiose, Utopie

Das Gegenteil von Schmarotzertum ist Symbiose. Dieser biologische Begriff lässt sich leicht auf die mentale Zusammenarbeit der vier Jäger in der Waldhütte anwenden. Der Initiator für ihren Zusammenschluss ist Duddits. Aber er ist weit davon entfernt, eine Jesusgestalt darzustellen, auch wenn es am Schluss des Buches ganz nach Opfertod aussieht. Er hilft einfach seinen Freunden, allerdings durch seine speziellen Gaben, die seine Freunde verändern. Und diese erwidern sein Geschenk durch ihren Beistand, ihre menschliche Wärme. Bis hin zum letzten Besuch. Sein letztes Opfer wird durch freundschaftliche Solidarität gefordert, nicht um eines höheren Auftrags willen.

Dass Symbiose auch bei Henry funktioniert – neben Jonesy der einzige Überlebende der Gruppe – , demonstriert er im Curtis-Camp. Er zeigt den unter Quarantäne gestellten und von Curtis insgeheim bereits zum Tode verurteilten Zivilisten des Sperrgebiets, was ihnen blüht, wenn sie sich nicht schnellstens vom Acker machen. Und er zeigt ihnen, wie es geht. Zuvor hat er bereits Major Owen „umgepolt“ und diesen so vor dem Schicksal erspart, von Curtis wegen Illoyalität umgenietet zu werden. Ist es also Loyalität, Freundschaft oder einfach nur Beistand, das Owen dazu bewegt, Henry und Jonesy zu helfen? Das muss der Leser selbst herausfinden.

Realistisch?

Ich habe mich die ganze Zeit gefragt, ob die Telepathie, die King schildert, wirklich so aussähe, wenn es sie einmal gäbe. Ist Kings Darstellung realistisch? Sie mag ja plausibel erscheinen, aber wohl nur um der Verständlichkeit willen und um die Handlung voranzutreiben. Aber denken Menschen wirklich so?

Ich glaube, Menschen denken, empfinden und träumen auf wesentlich mehr Ebenen, als uns Herr King weismachen will. Das weiß er vielleicht, zeigt es aber nur durch Kursivschrift oder banale Sätze wie „Diese Stimmen erschollen in seinem Kopf.“ Diese Umsetzung der Telepathie erscheint mir schrecklich traditionell und veraltet. Außerdem frage ich mich, ob wir Menschen wirklich in ganzen Sätzen denken. Der Sprachforscher Noam Chomsky hat dazu eine einflussreiche Theorie aufgestellt, dass es eine Tiefenstruktur und eine Oberflächenstruktur bei der Bewerkstelligung von Sprache und Sätzen gibt. Viele Sätze werden nicht geplant, sondern kommen spontan von einem unter-bewussten Ort, den die wenigsten Sprecher kontrollieren. (Das Aussprechen vorformulierter Sätze soll hier nicht berücksichtigt werden, denn hier hilft ein Umweg über die Schrift und ihre eigenen Konventionen.)

Die Alternative bei C.J. Cherryh

Möglicherweise gibt es eine realistischere Umsetzung dessen, was Telepathie sein kann. In ihren beiden Jugendromanen „Rider at the Gate“ und „Cloud’s Rider“ (1995/96) führt die Science Fiction-Autorin Caroline J. Cherryh eine Dimension des persönlichen Erlebens hinzu, die sie als „Imaging“ bezeichnet, eine eingeschränkte Art der Telepathie.

Die schriftliche Darstellungsweise sieht beispielsweise so aus: , wenn ein menschlicher Reiter sein telepathisches Pferd zu beruhigen versucht. Da aber Erleben, Sprechen und Imaging innerhalb des Erlebnisstromes ineinander übergehen, tauchen die mitten im Satz auf. An diese Darstellung muss man sich erst einmal gewöhnen. Es handelt sich praktisch nie um vollständige Sätze, die geäußert werden, denn dafür sind „Images“ nicht geeignet. Vielmehr sind es Erinnerungsbruchstücke, visuelle Szenen, also Einheiten (Meme), die sich leicht und schnell übertragen lassen. Das Teamwork zwischen einem Nighthorse und seinem Reiter entspricht einer Symbiose: Der Reiter gibt dem Pferd Futter und Zuneigung, das Pferd revanchiert sich mit dem Gerittenwerden und der Telepathie. Letztere ist auf dem Planeten Finisterre, wo alle Raub- und Beutetiere telepathisch sind, eine Überlebenstechnik. Daher bedeutet ein Nighthorse auch überlebenswichtigen Schutz.

Die Telepathie hat eine weitere Folge, die sich dem unvorbereiteten Leser von Cherryhs zwei Romanen nur allmählich erschließt. Der Erlebende kann mental durch andere starke Sinneseindrücke wie etwa von einem wahnsinnigen, telepathischen „Nighthorse“ derart geblendet sein, dass er nichts anderes mehr wahrnimmt und zu eigenen Gedanken unfähig ist.

Und es kann vorkommen, dass diese fremden „Sendungen“ lediglich vorgespiegelt sind, obwohl sie meist echt und wahr sind. Aber wer weiß schon, wozu ein „rogue horse“ fähig ist? Die Tatsache, dass die Wahrnehmung keineswegs mit der Wirklichkeit übereinstimmen muss, verwirrt erst einmal, erscheint aber nach etwas Nachdenken logisch: Beim Lügen ist es ja genauso. Nur dass diesmal die Lüge nicht als solche erlebt wird und auch nicht abgewehrt werden kann.

Mir erscheint Cherryhs Variante plausibler, aber ein Neurologe und Wahrnehmungsforscher würde dazu vielleicht etwas anderes sagen. King kommt seinem Leser durch Nutzung äußerst konventioneller Techniken und Darstellungen entgegen. Doch leider wird dadurch den meisten Lesern nicht deutlich, welche gewagten Spekulationen er hinsichtlich einer telepathisch vereinigten Gesellschaft in den USA anstellt. Für sie ist „Dreamcatcher“ einfach ein Abenteuerroman mit Kackwieseln und einigen durchgeknallten Typen, die durch den Schnee stapfen.

Unterm Strich

„Dreamcatcher“ funktioniert sowohl als Horror-Roman, als Militär-Thriller und sogar als Science Fiction-Roman. Die meisten Leser lassen sich nur darüber aus, wie wenig spannend die Handlung sei. Meiner Meinung nach liegt das daran, dass das Experiment übersehen, das der Autor hier anstellt: Wie sähe eine Gesellschaft aus, die sich auf Telepathie gründet? Würde sie sich friedlich entwickeln und bald die ganze Welt beglücken? Das haben manchen Science Fiction-AutorInnen schon durchgespielt, mit wechselndem Erfolg. Oder bedeutet Telepathie ein Machtinstrument, das es den entsprechend gewalttätig eingestellten Leuten (darunter Aliens) erlauben würde, die Erde zu beherrschen, vielleicht sogar die Menschheit zu vernichten? Die Folgen demonstriert King an nur einer Handvoll Figuren.

Bei der Darstellung der Telepathie hat King meines Erachtens viel zu viele Zugeständnisse an die Konventionen der Vermittlung gemacht, auf die ein Erzähler achten muss, um seine Geschichte zu übermitteln. Auch die Darstellung dessen, was man unter Telepathie verstehen kann, ist unrealistisch: Niemand (außer Einsteins Erben) formuliert vollständige Sätze, bevor er spontan spricht. Aber King gelingen packende Szenen, die sich mit Komik in allen möglichen Spielarten abwechselt. Ein King bleibt eben ein King. Und wer King-Fan ist, kommt an diesem Buch sowieso nicht vorbei.

Hardcover: 832 Seiten
Originaltitel: Dreamcatcher, 2001;
Aus dem Englischen übertragen von Jochen Schwarzer.
ISBN-13: 9783550083297

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