Stephen King – Finderlohn (Bill Hodges 2)

Das vergrabene und heimlich geborgene Erbe eines ermordeten Schriftstellers setzt Jahrzehnte nach dessen Tod eine Kettenreaktion sich steigernder Gewalt in Gang, als der Täter feststellen muss, dass sein Schatz entdeckt wurde … – Das zweite Buch der Hodges-Trilogie ist erneut ein Krimi, der betont ‚normale‘ Menschen in eine brutale Krise = Bewährungsprobe stürzt: nicht so intensiv wie der Vorgängerband aber erneut beachtlich in der Darstellung eines quasi ‚logisch‘ ablaufenden Verhängnisses.

Das geschieht:

Vor mehr als drei Jahrzehnten hatte Morris Bellamy, ein soziopathischer Loser, den berühmten Schriftsteller John Rothstein überfallen, ihn erschossen und seinen Safe geplündert. Darin lagen nicht viele Dollarscheine, sondern vor allem zahlreiche Notizbücher, in denen Rothstein seit Jahren neue Storys und Romane sammelte, die er noch nicht veröffentlicht hatte. Auf diese Manuskripte hatte es Bellamy, der krankhaft von Rothsteins Werk besessen ist, damals abgesehen. Seine beiden Kumpane brachte er um, danach vergrub er Geld und Notizbücher in einem Koffer, um buchstäblich Gras über die Bluttat wachsen zu lassen. Doch kurz darauf vergewaltigte Bellamy im Suff eine Frau und wurde zu einer langen Freiheitsstrafe verurteilt.

Als er aus der Haft entlassen wird, kann er seinen Schatz nicht mehr finden: Schüler Pete Saubers hatte ihn zufällig entdeckt. Das Geld konnte seine Familie gut brauchen, während die Notizbücher Pete ebenso in den Bann schlugen wie Bellamy. Dieser sucht fieberhaft nach dem Inhalt des Koffers und kann die Spur aufnehmen, als Pete versucht, die Rothstein-Texte zu vergolden: Das Geld aus dem Koffer ist aufgebraucht, doch die Familie Saubers steckt weiterhin in finanziellen Nöten.

Bei der Fahndung nach ‚seinen‘ Notizbüchern geht Bellamy über Leichen. Er findet heraus, wer ihn ‚bestohlen‘ hat, und beginnt Pete zu bedrohen. Als dieser in Panik gerät aber schweigt, um seine Familie zu schützen, hat Bellamy leichtes Spiel mit dem unerfahrenen Teen. Doch eine dritte Partei mischt sich ein: Petes Schwester hat Wind von den Nöten des Bruders bekommen. Sie erzählt einer Freundin davon, die wiederum Kermit William Hodges informiert. Der ehemalige Polizist, der vor Jahren den berüchtigten „Mercedes-Mörder“ fing, hat eine kleine Detektei eröffnet und übernimmt den Fall. Allerdings könnte es zu spät sein, denn der zunehmend irrationale Bellamy hat den Saubers den Krieg erklärt, sich bewaffnet und weiter getötet, ohne sich um die Folgen zu scheren …

Der Mensch als der wahre Schrecken

Zum zweiten Mal lässt Stephen King, sonst (vor allem in der Werbung) als „König des Horrors“ bekannt, den ehemaligen Polizisten und Privatdetektiv Kermit Hodges auftreten. Der trifft auf zwar auf einen unzurechnungsfähigen und gerade deshalb gefährlichen Mehrfach-Mörder, wird aber darüber hinaus von Geistern, Monstern oder Außerirdischen verschont: „Finderlohn“ ist ein Kriminalroman, der (weitgehend) den Regeln dieses Genres folgt. King ist eben nicht ‚nur‘ ein Meister des Phantastischen, sondern vor allem ein Geschichtenerzähler, der auf den Grusel als Treibriemen längst nicht mehr angewiesen ist.

Romane wie dieser mögen King – der dem Horror keineswegs abgeschworen hat – eine willkommene Abwechslung bieten. Außerdem ermöglichen sie es ihm, sich auf einen Aspekt zu konzentrieren, der King seit jeher mindestens ebenso wichtig wie die überzeugende Darstellung übernatürlichen Grauens ist: Im Mittelpunkt stehen für King seine Figuren, die er scheinbar simpel aber eigentlich ungemein geschickt mit einem Leben erfüllt, das sie über die Eindimensionalität bedruckten Papiers hinaushebt. King beschreibt Menschen in der Krise. Sie werden geprüft und müssen Entscheidungen treffen. Daraus ergeben sich Konsequenzen, da Fehler gemacht werden.

Auf dieser Ebene ist es in der Tat nebensächlich, ob Kings ‚Helden‘ – in der Regel überforderte Durchschnittsmenschen – einem Geschöpf aus dem Jenseits oder einem sehr realen Verbrecher wie Morris Bellamy begegnen: Schon lange hat King deutlich gemacht, dass der wahre Schrecken im Menschenhirn lauert. Dort sitzt er lange gut verborgen. Da man seinen Mitmenschen nicht in den Kopf schauen kann, mag der Nachbar, der Freund, sogar der Lebenspartner dort hässliche Gedanken wälzen, bis diese eines schlechten Tages in die Tat umgesetzt werden.

Die Macht des Wortes

Wie es sich für einen redlichen Unterhaltungsschriftsteller gehört, bemüht sich King, den altehrwürdigen Krimi ein wenig gegen den Strich zu bürsten. Zwar wird wie erwähnt mehrfach (und hässlich) gemordet, doch generell konstruiert King ein Verbrechen der ganz eigenen Art, wobei er sich im gewählten Metier auskennt. In der Welt des Buches – das heute zunehmend digital daherkommt – ist er daheim, auf einschlägiges Wissen greift King nicht zum ersten Mal zurück.

Die Hauptfigur ist dieses Mal zwar kein Schriftsteller. Stattdessen geht es um ein Gut, das vor allem oder sogar nur den regelmäßigen Lesern dieser Welt bekannt und teuer ist: die erzählte Geschichte. Sie kann im Kopf etwas in Gang setzen und dem Geist buchstäblich neue Tore öffnen. Mancher Autor scheint exakt in Worte zu fassen, was den Leser gerade beschäftigt. Dann entsteht ein unsichtbares aber festes Band, denn ein solcherart beeindruckter Leser wird weiterhin die Werke ‚seines‘ Verfassers bevorzugen – eine für beide Seiten vorteilhafte Beziehung.

Allerdings gibt es auch hier ein zu viel des Guten. Nicht der Mensch John Rothstein ist Morris Bellamys Mentor und Meister, sondern der Autor gleichen Namens. Als dieser nicht mehr den gewünschten Stoff liefert und damit einseitig (und ahnungslos) den Pakt aufkündigt, den Bellamy mit ihm geschlossen hat, bringt ihn der enttäuschte Jünger kurzerhand um. Ihm bleibt das literarische Erbe, über das er allein verfügen kann. Damit ist Bellamy, der es zu nichts gebracht hat, endlich an eine privilegierte Stelle im Räderwerk des Lebens gerückt.

Vermächtnis mit ungeahnten Folgen

Geld ist Bellamy dagegen gleichgültig. Damit hat King einen besonders gefährlichen Gegner geschaffen: den Fanatiker, der buchstäblich über Leichen geht, ohne an die Gefahr für das eigene Leben zu denken – eine Figur, die ebenfalls immer wieder in Kings Geschichten auftaucht.

Der Autor verschärft die Lage, indem er dem ohnehin unberechenbaren Bellamy einen Teenager gegenüberstellt, der – eine dritte Konstante in Kings Werk – mit der Pubertät und dem Übergang in die Welt der ‚Erwachsenen‘ mehr als genug beschäftigt ist. Darüber hinaus fehlt Pete Saubers das Fundament einer stabilen Familie. Nur das unrechtmäßig in Besitz genommene Fundgeld aus dem Rothstein-Koffer kann den finanziellen Ruin der Saubers, eine sonst sicherlich folgende Scheidung und somit das Ende der Familie verhindern. Das für Pete daraus entstehende Gewissensdilemma ist wichtig, da sonst einige Handlungswendungen unlogisch wären.

Es ist typisch für King, dass er Schwarz-Weiß-Zeichnungen vermeidet. Pete Saubers ist kein Held, aber Morris Bellamy ist auch kein eindimensionaler Kapitalkrimineller. Mehrfach ertappt man sich dabei, Anflüge von Mitleid für diesen durch und durch verkorksten Mann zu empfinden, der an seinem Versagen keineswegs allein schuldig ist. Dadurch versteht man die irrwitzige Fixierung auf die Rothstein-Manuskripte, die wiederum ein Verhalten steuert, das rational schwer zu kalkulieren ist und daher für zusätzliche Spannung sorgt.

Der Detektiv als Katalysator

Diese Unberechenbarkeit wird zum Problem, als der systematisch ermittelnde Kermit Hodges die Handlung betritt. Das geschieht relativ spät; die beiden ersten Drittel des Romans gehören Bellamy und Pete Saubers. Auch später ist Hodges eher Zeuge als Täter: Sowohl Bellamy als auch Pete legen ihn mehrfach herein. Selbst das finale Duell ist faktisch schon entschieden, als Hodges auf der Bildfläche erscheint.

Eigentlich könnte King auf Hodges sogar ganz verzichten. Dieser scheint primär mitzuwirken, weil „Finderlohn“ als Teil 2 einer Kermit-Hodges-Trilogie vermarktet wird. Stattdessen scheint sich der Detektiv zurückzuhalten bzw. seine Kräfte für Teil 3 zu sparen. Den bereitet King mit einer Nebenhandlung vor: Der Schlag auf den Schädel, der den „Mercedes-Killer“ Brady Hartsfield im Finale von Teil 1 beinahe tötete, hat in dessen Hirn eine verhängnisvolle Neuverdrahtung in Gang gesetzt: Hartsfield, der scheinbar den Verstand verloren hat, entwickelt übernatürliche Kräfte à la „Firestarter“ (1980; dt. „Feuerkind“). In „End of Watch“ (2016) wird der frischgebackene Mutant böse und übermächtig zurückkehren und dabei selbstverständlich wieder auf Hodges treffen.

Ungeachtet dieses Konstruktionsfehlers beeindruckt wie in „Mr. Mercedes“ abermals Kings Geschick, die Handlung mehrfach in unerwartete Richtungen zu treiben, ohne dabei die Fäden freizugeben bzw. ein Verknoten zu gestatten. Zwar fehlt die Wucht, die King-Werken wie „Shining“, „Friedhof der Kuscheltiere“ oder „The Green Mile“ – um drei willkürlich ausgewählte Beispiele zu nennen – auszeichnet. Stattdessen bietet „Finderlohn“ eine rasante Lektüre, die bis zum (leicht trügerisch ‚glücklichen‘) Ende unterhält.

Autor

Normalerweise lasse ich an dieser Stelle ein Autorenporträt folgen. Wenn ich ein Werk von Stephen King vorstelle, pflege ich dies zu unterlassen, wie man auch keine Eulen nach Athen trägt. Der überaus beliebte Schriftsteller ist im Internet umfassend vertreten. Nur zwei Websites – die eine aus den USA, die andere aus Deutschland – seien stellvertretend genannt: diese und diese bieten aktuelle Informationen, viel Background und zahlreiche Links.

Diese Besprechung wurde zuerst 2016 auf Buchwurm.org veröffentlicht.

Taschenbuch: 542 Seiten
Originaltitel: Finders Keepers (New York : Scribner 2015)
Übersetzung: Bernhard Kleinschmidt
http://www.randomhouse.de/heyne

eBook: 1454 KB
ISBN-13: 978-3-641-16402-7
www.randomhouse.de/heyne

MP3-CD: 3 CDs (894 min; ungekürzt, gelesen von David Nathan)
ISBN-13: 978-3-8371-3153-6
www.randomhouse.de/Hoerbuch-Download

Hörbuch-Download: Laufzeit: ca. 894 Minuten (ungekürzt, gelesen von David Nathan)
ISBN-13: 978-3-8371-3154-3
www.randomhouse.de/Hoerbuch-Download

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