Bram Stoker – Das Schloss des weißen Lindwurms (Gruselkabinett 35)



Sehr unbritisch: die Priesterin des Wurmgottes

England 1860: Der junge Australier Adam Salton folgt der Einladung seines einzigen noch lebenden Verwandten auf den Landsitz Lesser Hill. Richard Salton hofft, dass sein Großneffe dort eines Tages sein Erbe antreten wird. Das Anwesen liegt in einer äußerst geschichtsträchtigen Gegend, der es nicht an exzentrischen Bewohnern mangelt. Eine von ihnen ist die faszinierende Lady Arabella March, die Herrin eines auf einer Halbinsel gelegenen Schlosses mit dunkler Vergangenheit … (Verlagsinfo)

Vom Verlag wird das Hörbuch empfohlen für Hörer ab 14 Jahren.

Der Autor

Bram Stoker ist der Künstlername des irischen Schriftstellers und Theatermanagers Abraham Stoker (1847-1912), dessen Karriere mit der des damals berühmten Theaterschauspielers Henry Irving verbunden war, der von 1838 bis 1905 lebte. Stoker begann schon 1872 mit dem Veröffentlichen seiner Erzählungen, was 1897 in der Publikation des Horrorklassikers „Dracula“ gipfelte, der aber 1901 kräftig revidiert wurde. Stoker schrieb noch ein paar weitere unheimliche Romane („The Lair of the White Worm“, 1911 gedruckt, wurde erst 1986 vollständig veröffentlicht) und etliche Erzählungen wie etwa „Die Squaw“.

„The Lair of the White Worm“ wurde von Ken Russell verfilmt.

Die Inszenierung

Die Rollen und ihre Sprecher:

Adam Salton: Markus Pfeiffer (dt. Stimme von Adrien Brody, Colin Farrell in „Alexander“)
Richard Salton: Hasso Zorn (David Kelly)
Sir Nathaniel de Salis: Joachim Pukaß (David McCallum, DeForest ‚Pille‘ Kelley)
Lady Arabella March: Katja Nottke (Michelle Pfeiffer, Demi Moore)
Mimi Watford: Melanie Hinze (Brittany Murphy, Holly Marie Combs)
Edgar Caswall: David Nathan (Johnny Depp, Christian Bale)
Oolanga: Peter Reinhardt (Jeff Daniels)
Junge Frau: Anja Stadlober (Jennifer Hudson, Paris Hilton)

Marc Gruppe schrieb wie stets das Buch und gemeinsam mit Stephan Bosenius setzte er es um. Die Aufnahme fand in den |Planet Earth Studios| statt und wurde bei |Kazuya| abgemischt. Die Illustration stammt von Firuz Askin.


Handlung

PROLOG

Eine junge Frau hat sich im Dunkeln eines Verlieses verirrt und tastet sich voran. Es ist kalt, feucht, und ein beißender Gestank nimmt ihr fast den Atem. Vergeblich ruft sie nach Hilfe, doch das Einzige, das ihr Antwort gibt, ist eine Kreatur, die faucht, grollt und zischt. Ihr langer Schrei geht in seinem Fauchen unter – und verstummt …

Haupthandlung

Als der Australier Adam Salton am 12. Juni 1860 im Hafen von Southampton eintrifft, glaubt er noch, er sei ein Glückspilz. Sein Großonkel Richard hat ihm einen Brief nach Sydney geschrieben, in dem er ihn nach England einlud, und zwar auf den Stammsitz der Saltons, in die westenglische Gegend nahe der walisischen Grenze. Mr. Salton hat vor, Adam zu seinem Alleinerben zu machen. Adam zeigt seinem Onkel Richard seinen zahmen Mungo Mr. Bagels, der wirklich scharf auf Schlangen ist. Als sie auf dem Salton-Landgut Lesser Hill eintreffen, hat Adam schon einiges über die Gegend dort erfahren, vor allem über ihre Geschichte, die bis in die vorrömische Zeit zurückreicht.

Nathaniel de Salis

In Lesser Hill lernt Adam den freundlichen Nathaniel de Salis, den ältesten Freund seines Großonkels, kennen, einen ehemaligen Diplomaten. Nathaniel erzählt ihm von den adligen Großgrundbesitzern des Landes, den Caswalls, die das naheliegende Gut von Castra Regis durch Verwalter bewirtschaften. Nach einem Krach ging einer der Erbfolger ins Ausland. Der Erbe werde nun dieser Tage zurückerwartet. Nathaniel und Richard sind besorgt wegen der besonderen Hypnotiesierkunst aller Caswalls.

Auf einer Halbinsel liegt das Schloss von Diana’s Grove, und Nathaniel erzählt, einst habe es dort ein Heiligtum, einen Tempel und sogar ein Nonnenkloster gegeben. Doch auch dieser Ort hat eine blutige Geschichte, denn der König von Mercia, der zum Heidentum zurückkehrte, ließ alle Nonnen massakrieren. Heute lebt dort nur Lady Arabella March, die Witwe des Kapitäns March, der wenige Wochen nach ihrer Hochzeit Selbstmord beging. Zumindest nimmt man das an.

Lady Arabella March

Die schöne Witwe, Lady Arabella March, begrüßt Adam und Nathaniel. Doch als sie Adam einlädt, zeigt sich Nathaniel auffallend zurückhaltend. Er verrät Adam, die Lady sei hochverschuldet und suche dringend einen Mann zum Heiraten. Adam ist nicht wenig von der Lady bezaubert, gesteht er, als sie beide nach Castra Regis gehen, um Edgar Caswall zu begrüßen.

Vor dem Gutshaus erblickt Adam eine bezaubernde junge Frau, und Nathaniel erklärt ihm, es handle sich um Mimi Watford, die verwaiste Enkeltochter des Pächters der Caswalls. Mimi lädt Adam gerne zu sich auf die Mercy Farm ein. Dann begrüßen alle Edgar Caswall.

Edgar Caswall ist ein finster dreinblickender junger Mann, der in Begleitung eines afrikanischen Schamanen namens Oolanga auftritt. Adam ist erstaunt zu bemerken, dass Oolanga ein lebhaftes Interesse für Arabella an den Tag legt und ihr sogar seine Verehrung bezeigt, indem er sich ihr zu Füßen wirft. Doch die Lady ist empört über solches Betragen und weist Oolange, der sie weiterhin verfolgt, die Tür. Stattdessen interessiert sie sich brennend für das Wohlergehen seines Herrn, Sir Caswalls. Edgar hingegen lädt sich ungeniert bei den Watfords ein.

Mimi

Am nächsten Tag ist Adam bei den Watfords zum Tee und wird entsetzt Zeuge einer grässlichen Szene. Sir Caswall macht nicht Lady Arabella den Hof, sondern Mimi, in die sich Adam schon verliebt hat. Es ist ein bemerkenswerter Kampf des Willens: einerseits der herrische Gutsbesitzer, der Unterwerfung fordert, auf der anderen Seite die immer schwächer werdende junge Frau, die sich zusehends einer Ohnmacht nähert. Nur Adams Protest bewahrt Mimi vor einem kompletten Zusammenbruch. Adam erklärt Mimi seine Liebe, die Mimi gerne erwidert, denn sie braucht offensichtlich dringend Schutz. Den Segen der beiden Mentoren Richard und Nathaniel hat Adam jedenfalls.

Castra Regis

Edgar Caswall verschwindet, um sich einem anderen seltsamen Zeitvertreib zuzuwenden: Er lässt einen riesigen Drachen steigen, um damit das Wetter zu beeinflussen, indem er elektromagnetische Kräfte lenkt. Vorerst beeinflusst er jedenfalls nur das Verhalten der Vögel. Sie meiden Castra Regis wie die Pest. Das kommt den Pächtern aber nur gelegen, denn die Vögel fraßen ihre Ernte.

Nathaniel und Adam gehen unweit Diana’s Grove spazieren. An einem Steinhaufen, der ein Gedenkstein für einen Doppelmord an Christen ist, hat Adams Mungo Mr Bagels tags zuvor vier und heute weitere sechs Schlangen getötet. Als Arabella March energisch gegen das Treiben des Mungos protestiert, wird das Tier ganz wild gegen sie, als ob sie eine weitere Schlange darstelle. In ihrer Panik feuert sie mit einer Pistole auf den Mungo, verfehlt ihn aber zum Glück.

Adam und Nathaniel fragen sich, ob es einen Zusammenhang zwischen Lady March und Schlangen gibt. Nathaniel erzählt, dass Arabella als junges Mädchen einmal verschwunden war. Als sie drei Tage später wieder auftauchte, wirkte sie wie hypnotisiert. Sie konnte sich nur an ein Verlies und einen Brunnenschacht erinnern. Sobald sie von einem Fieber genesen war, legte sie einen veränderten, grausamen Charakter an den Tag und wollte unbedingt den Herrn von Diana’s Grove heiraten, Kapitän March. Er starb nach wenigen Wochen. In letzter Zeit häufen sich Todesfälle im Umkreis des Schlosses, und die Schäfer klagen über verschwundene Tiere. Irgendein grässliches Geheimnis umgibt das Schloss.

Der Wurm

Unter dem Einfluss von Edgar Caswalls Machenschaften verändert sich die natürliche Umgebung von Castra Regis, Lesser Hill und Diana’s Grove auf bizarre Weise, die Adam Salton und seine Mimi ziemlich unangenehm finden. Und etwas Böses braut sich offenbar zusammen, findet Nathaniel.

Adam und Nathaniel glauben, dass sich etwas Böses aus dem unergründlich tiefen Brunnenschacht in dem Schloss über das Land ausbreitet, und Nathaniel hat sogleich eine geschichtliche und naturhistorische Erklärung parat. Doch wie kann man herausfinden, welches Geheimnis das Schloss wirklich birgt? Das fasst Adam als Aufforderung auf, sich in den Keller des Schlosses einzuschleichen und festzustellen, was dort vor sich geht. Gibt es wirklich einen „Lindwurm“, ein Mittelding zwischen Wurm und Drache, wie der Volksmund behauptet?

Im Kellerverlies des Schlosses wird er unverhofft Zeuge einer grausigen Szene, die sich zwischen Arabella, Oolanga und der Kreatur, die in der Tiefe haust, abspielt …

Mein Eindruck

Der heutige Stoker-Fan muss sich in dieser verfilmten Erzählung mit einer Reihe seltsamer Begegnungen und Phänomene herumschlagen, die in der gekürzten Fassung bislang ziemlich unbegründet daherkamen, doch im Hörspiel endlich einen Sinn ergeben.

Draculas Ersatz

Da ist zunächst einmal der jämmerliche Dracula-Ersatz des Edgar Caswall. Wie ein Vampir verfügt er über die psychische Kraft, sein Opfer durch eine Art Hypnose niederzuringen und gefügig zu machen. Adam Salton selbst, ein würdiger Nachfolger von Jonathan Harker, wird mehrmals direkt oder indirekt Zeuge einer solchen Konfrontation. Doch seltsamerweise schafft es Caswall nie, Mimi Watford zu unterwerfen und sie seinen Zwecken zuzuführen, welche auch immer das sein mögen. Denn ein untoter Blutsauger ist er mitnichten.

Sein Schamane Oolanga spielt in Caswalls Plänen erstaunlicherweise überhaupt keine Rolle, sondern verfolgt seine eigenen Absichten. Er erinnert an gewisse Figuren in Sherlock-Holmes-Erzählungen. Und so kommt es zwar dazu, dass Adam seine Mimi Watford, die sich ohne Widerrede in eine Heirat mit ihm flüchtet, zwar in Sicherheit bringen muss, aber nicht vor Caswall, sondern vor dem anderen Bösewicht: Lady Arabella.

Lady Arabella und der weiße Wurm

Lady Arabella ist die mit weitem Abstand interessanteste Figur des gesamten Romans, und zwar nicht nur, weil sie die Priesterin (nicht mehr die Verkörperung) des weißen Wurms ist. Der Wurm wiederum ist eine Erscheinungsform des altägyptischen Gottes Apophis. Arabella ist, wie Oolangas Verehrung bezeugt, eine Priesterin der weißen Göttin, der Großen Mutter, die über Schlangen gebietet und somit über Gesundheit oder Verderben der Menschen. Man kann sie sich gut als Zauberin Circe vorstellen, doch sie verwandelt zum Glück niemanden in ein Schwein.

Arabella lebt in Diana’s Grove, dem Dianenhain. Diana/Artemis/Kybele* war eine der Verkörperungen der Weißen Göttin, die im Altertum von zahlreichen Völkern, in denen das Matriarchat herrschte, verehrt wurde. Die Weiße Göttin, das hat unter anderem die gleichnamige Untersuchung von Robert Ranke-Graves zu belegen versucht, wurde von den patriarchalischen Kulten und Religionen abgelöst, so wie als zentrale Herrschaftsstruktur die Familie vom Königtum und seiner Theo- bzw. Bürokratie abgelöst wurde.

Kybele (Kleinasien), Rhea, Astarte, Diana – sie alle wurden von Göttern wie Zeus bzw. Jupiter ersetzt. Artemis / Diana, die wandlungsfähige und jähzornige Mondgöttin, ist in der kultischen Verehrung die Herrin über die Tiere sowie über Fruchtbarkeit und Vegetation, außerdem Schutzherrin der Jungfrauen und Nymphen. Jeder Frevel in dieser Hinsicht wird von ihr in vielen Sagen bestraft. Ihre Opfer sind u.a. Orion, Aktäon und Admetos (dem sie Schlangen ins Brautgemach schickte).

Diana zu Ehren wurden kultische Tänze um Bäume aufgeführt. Ihr Kultbild im Artemis-Tempel zu Ephesos, einem der sieben Weltwunder der Antike, wies zahlreiche Brüste auf, um ihre Fruchtbarkeit zu kennzeichnen. Vor der Eheschließung opferten ihr Burschen und Mädchen. Häufig wurde sie als Schutzgöttin bei der Entbindung verehrt, doch nicht als Mutter, sondern quasi als Hebamme. Auffallend ist, dass sie wie ihr Bruder Apollon, der Sonnengott, nie einen Ehepartner hatte wie Zeus oder Hades.

Der Vegetationsgöttin wurden häufig Heiligtümer in feuchten, sumpfigen Gegenden errichtet – das deckt sich mit Diana’s Grove, dem alten Diana-Heiligtum, einer späteren Druiden-Kultstätte und Nonnenkloster, das durch den unergründlichen Brunnenschacht eine Verbindung zu Fluss, Sumpf oder gar Meer haben muss, wie Adam und Nathaniel, sein Van Helsing, vermuten. Den Wurm sollte man sich weniger als anämischen und zu groß geratenen Regenwurm oder Grottenolm vorstellen als vielmehr wie einen Lindwurm, also einen flügellosen Drachen.

Die Inszenierung

Die Sprecher

Der Dramaturg des Hörspiels hat jedes Recht, die Handlung und das Personal seinen Bedürfnissen anzupassen. So fielen beispielsweise die Rollen der Lilla und von Mimis Großeltern weg, ebenso diverse Szenen, die nur Verwirrung gestiftet hätten, die Handlung aber nicht weiterbringen. Das Grundgerüst der Story ist erhalten geblieben.

Genial ist die Verknüpfung des bislang unbekannten Prologs mit Nathaniels Erwähnung von Arabellas mysteriösem Verschwinden im Versteck des Drachen. Unterstellt man ihre mystische Vereinigung mit dem Drachen, so erklärt dies ihre Grausamkeit, ihre Schlangennatur und die Rolle als Priesterin des Schlangengottes. Das heißt, sie ist auf einmal die Gegenspielerin zu allen anderen Figuren, wenn auch nicht zu Caswall, der selbst sein Unwesen treibt.

Showdown

Da ein Drache ebenso gefährlich ist wie eine zu mächtige Lady Arabella, die sich anschickt, sich mit dem verrückten Sir Caswall zu vermählen, beschließen Adam und Nathaniel, ihr bzw. ihrem Wurm-Domizil den Garaus zu machen. In der Folge kommt es zu einem fulminanten Höhepunkt in der Handlung. Wie das im Einzelnen zustande kommt, soll hier nicht verraten werden, aber es ist trickreich eingefädelt. Hier folgt das Hörspiel ziemlich genau der literarischen Vorlage.

Die Sprecher könnten direkt aus einem viktorianischen Stück stammen, aber sie reden wie moderne Menschen, ohne Schnörkel und pompöses Getue um Etikette und Standesdünkel. Am gelungensten fand ich das Trio aus Adam, Richard und Nathaniel, zu dem sich die liebliche Mimi Watford gesellt. Ihnen stehen sinistre Gestalten gegenüber: die arrogant auftretende Arabella March, der hypnotisierende Edgar Caswall und der rätselhafte Oolanga, dessen Akzent irgendwo zwischen Indisch und „Afrikanisch“ liegt.

Geräusche

Die Geräusche sind genau die gleichen, wie man sie in einem realistischen Spielfilm erwarten würde, und die Geräuschkulisse wird in manchen Szenen dicht und realistisch aufgebaut, meist aber reichen Andeutungen aus. Mehrmals hören wir Schritte – im Gras oder auf Kies. Dann wieder rumpelt eine Droschke des Wegs. Am Hafen ertönen Nebelhörner und die Schreie von Möwen, und Möwen hören wir seltsamerweise auch auf den Hügeln von Lesser Hill. Aber die Lage des Schlosses Diana’s Grove wird vielleicht durch die Nähe des Meeres erklärt. Ich glaube, in der Buchvorlage befindet sich Diana’s Grove weiter im Landesinneren und ist lediglich ein altes Gutshaus, kein Schloss.

Sehr schön ist die Gewitterkulisse im Finale des Hörspiels gestaltet. Wer eine gute Anlage hat, sollte sie ordentlich aufdrehen, um den Donner richtig schön krachen zu lassen. Das passt auch zur finalen Explosion, den Schreien und dem Klirren zerberstender Fenster. Diese Szene hält für den aufmerksamen Zuhörer noch etliche weitere Zutaten bereit, aber ich will hier nicht alles verraten.

Sounds

In der aktuellen Frühjahrs-Staffel der drei Gruselkabinett-Hörspiele „Die obere Koje“, „Die Jagd der Vampire“ und „Das Schloss des weißen Lindwurms“ spielen Sounds erstmals eine auffallend bedeutende Rolle, um die Atmosphäre einer Szene zu verstärken. Musik allein reicht einfach nicht mehr, um den Horror zu evozieren und zu veranschaulichen.

Nun ist die Beschreibung von Sounds stets auf Analogien angewiesen, und auch ich muss mich damit behelfen. Die wichtigste Frage muss natürlich lauten, wie das Ungeheuer dargestellt wird. Dass es sich um eine Art flügellosen Drachen handeln soll, ist dabei völlig unerheblich. Hauptsache, das Viech wirkt bedrohlich und präsent. Schon im Prolog deutet die Soundregie an, dass das Monster faucht, grollt und zischt. Diese Charakteristika wiederholen sich, wann immer es erscheinen soll, gewöhnlich begleitet von dem Schrei seines Opfers.

Musik

Jeder Auftritt des Monsters wird fein säuberlich durch musikalische Motive vorbereitet, denn schließlich handelt es sich dabei um die wichtigsten Höhepunkte der Handlung. Immer wieder ist vorher dramatische Musik von den Streichern zu hören, aber auch eine tickende Melodie, mit der die Harfe das Verstreichen der Zeit andeutet und so die Spannung erhöht.

Zwischen und nach diesen dramatischen Auseinandersetzungen – dazu zählen auch die Auftritte von Edgar Caswall bei Mimi sowie Arabellas Schüsse auf den Mungo – darf sich der Hörer entspannen, meist bei einem romantischen Piano-Motiv, das von einer Oboe begleitet wird.

Die Musik gibt sehr genau die vorherrschende Stimmung einer Szene wieder und ist mit klassischem Instrumentarium produziert – keine Synthesizer für klassische Stoffe! Die Musik steuert nicht nur die Emotionen des Publikums auf subtile Weise, sondern bestreitet auch die Pausen zwischen den einzelnen Akten. Dann stimmt sie das Publikum auf die „Tonart“ des nächsten Aktes ein.

Musik, Geräusche und Stimmen wurden so fein aufeinander abgestimmt, dass sie zu einer Einheit verschmelzen. Dabei stehen die Dialoge natürlich immer im Vordergrund, damit der Hörer jede Silbe genau hören kann. An keiner Stelle wird der Dialog irgendwie verdeckt. Durch den Rhythmus von An- und Entspannung in der Handlung wird der Hörer bei der Stange gehalten. Die Spannung steigert sich und wird durch Bemerkungen der Figuren noch angeheizt, dass etwas Schlimmes bevorstehe. Das Finale löst dieses Versprechen voll und ganz ein. Mir dauert es ein wenig zu kurz, aber das ist Geschmackssache. Mit über 68 Minuten gehört „Lindwurm“ bereits zu den längsten Hörspielen der Reihe.

Das Booklet

… enthält im Innenteil lediglich Werbung für das Programm von |Titania Medien|. Auf der letzten Seite finden sich die Informationen, die ich oben aufgeführt habe, also über die Sprecher und die Macher. Die Titelillustration von Firuz Akin fand ich wieder einmal sehr passend und suggestiv.

Diesmal sind wieder in einem zusätzlichen Katalog Hinweise auf die folgenden Hörspiele zu finden:

Nr. 30: J. W. Polidori: Der Vampyr (November)
Nr. 31: Rudyard Kipling: Die Gespenster-Rikscha (November)
Nr. 32 + 33: Barbara Hambly: Die Jagd der Vampire (2 CDs, März 2009)
Nr. 34: F. M. Crawford: Die obere Koje (April 2009)
Nr. 35: Bram Stoker: Das Schloss des weißen Lindwurms (April 2009)
Nr. 36+37: Oscar Wilde: Das Bildnis des Dorian Gray (erscheint im Oktober 2009)
Nr. 38: Hanns Heinz Ewers: Die Spinne (erscheint im November 2009)
Nr. 39: H. P. Lovecraft: Der Tempel (erscheint im November 2009; Story siehe „Jäger der Finsternis“)

Unterm Strich

Völlig abstrus ist die Grundidee keineswegs. Statt das Monster im fernen Transsilvanien anzusiedeln, wo sich die „Knoblauchfresser“ (siehe Polanskis „Tanz der Vampire“) damit herumschlagen müssen, haust das Ungeheuer Edgar Caswall mitten im lieblichen Westengland und zwar unter der feinen adligen Gesellschaft. Caswall ist degeneriert und fordert den Himmel heraus, während Arabella kein Freund von Mungos ist und sich als Schlange und mit Schlangen ihre Opfer sucht.

Dass der Autor auf dem Umweg über die horrormäßig inszenierte Mythologie die Adelsschicht als nicht mehr lebensfähige Gesellschaft, ja, als gefährlich für die Rechtschaffenen und Liebenden hinstellt, ist ein bemerkenswerter Ansatz zur Sozialkritik. Die beiden Adeligen sind durchweg heidnisch. Caswall stellt pseudowissenschaftliche Experimente an, während er sich als Vampirjünger betätigt (durch Hypnose). Arabella tritt sogar als Priesterin eines altägyptischen Gottes auf. Altertum und Neuzeit, Heidentum und Christentum prallen in ihr aufeinander.

Dass die moralische Degeneration mit ihrer religiösen einhergeht, verwundert nicht, denn wer soziale Regeln ablehnt, der lehnt auch Gottes Regeln ab – zumindest in den Augen der Viktorianer, die dieses Buch lesen sollten. Der Lindwurm ist die ultimative Verkörperung der Verderbtheit von Arabella und Caswall. Dass das Hörspiel nun Arabellas Begegnung mit dem Lindwurm und ihre Verwandlung in dessen grausame Dienerin an den Anfang stellt und zeitlich in ihre Jugend platziert, finde ich sehr plausibel, auch in einem poetischen Sinn. Dass sie zusammen mit ihrem Gott untergeht, erscheint nur konsequent. Es handelt sich um eine weitere Teufelsaustreibung, wie schon in „Dracula“.

Das positive Gegenbild das liefern die drei Männer auf Lesser Hill – Richard, Adam und Nathaniel. Sie nehmen die von Caswall bedrohte Jungfrau, die obendrein auch noch verwaist und somit noch schutzloser ist, in ihren Kreis auf. Das christliche Sakrament der Ehe stellt Mimi Watford unter den Schutz von Kirche, Mann und Gott. So liebten es die Viktorianer.

Das Hörspiel

Das Hörspiel hat mir gut gefallen, mich aber nicht umgehauen. Dazu kannte ich die Geschichte und ihre Hintergründe bereits zu gut. Also wusste ich, was ich zu erwarten hatte. Doch als Beitrag zur Reihe |Gruselkabinett| bildet „Das Schloss des weißen Lindwurms“ einen achtbaren Beitrag, der durch die Beiträge der Dramaturgie (bes. der Prolog) mehr Sinn ergibt als das gekürzte Original. Dass Arabella nicht der Lindwurm in anderer Gestalt IST, sondern nur dessen priesterliche Dienerin, ist ebenfalls viel leichter vorzustellen als eine Gestaltwandlerin.

Über die Güte der akustischen Darbietung habe ich mich bereits oben ausgelassen. Bemerkenswert sind die zusätzlichen Sounds. Weniger gut gefiel mir die Aussprache des Namens „Watford“ als [wätfo(r)d], denn ich habe diesen Namen – es ist auch ein Stadtteil von London – immer nur als [wåtf(e)d] ausgesprochen gehört. Auch über die Aussprache des Namens Caswall ließe sich trefflich streiten – am Ende entschiede aber doch nur ein Blick ins Lexikon diese Frage.

Fazit: ein Volltreffer.

Basierend auf: The Lair of the White Worm, 1886
ohne Übersetzerangabe
68 Minuten auf 1 CD
ISBN-13: 978-3-7857-3825-2

http://www.titania-medien.de

*Quelle für die mythologischen Angaben: Herbert Hunger, „Lexikon der griechischen und römischen Mythologie“, Rowohlt, Reinbek 1980, ISBN 3-499-16178-8.

_Das |Gruselkabinett| auf |Buchwurm.info|:_

[„Carmilla, der Vampir“ 993 (Gruselkabinett 1)
[„Das Amulett der Mumie“ 1148 (Gruselkabinett 2)
[„Die Familie des Vampirs“ 1026 (Gruselkabinett 3)
[„Das Phantom der Oper“ 1798 (Gruselkabinett 4)
[„Die Unschuldsengel“ 1383 (Gruselkabinett 5)
[„Das verfluchte Haus“ 1810 (Gruselkabinett 6)
[„Die Totenbraut“ 1854 (Gruselkabinett 7)
[„Spuk in Hill House“ 1866 (Gruselkabinett 8 & 9)
[„Dr. Jekyll und Mr. Hyde“ 2349 (Gruselkabinett 10)
[„Untergang des Hauses Usher“ 2347 (Gruselkabinett 11)
[„Frankenstein. Teil 1 von 2“ 2960 (Gruselkabinett 12)
[„Frankenstein. Teil 2 von 2“ 2965 (Gruselkabinett 13)
[„Frankenstein. Teil 1 und 2“ 3132 (Gruselkabinett 12 & 13)
[„Die Blutbaronin“ 3032 (Gruselkabinett 14)
[„Der Freischütz“ 3038 (Gruselkabinett 15)
[„Dracula“ 3489 (Gruselkabinett 16-19)
[„Der Werwolf“ 4316 (Gruselkabinett 20)
[„Der Hexenfluch“ 4332 (Gruselkabinett 21)
[„Der fliegende Holländer“ 4358 (Gruselkabinett 22)
[„Die Bilder der Ahnen“ 4366 (Gruselkabinett 23)
[„Der Fall Charles Dexter Ward“ 4851 (Gruselkabinett 24/25)
[„Die liebende Tote“ 5021 (Gruselkabinett 26)
[„Der Leichendieb“ 5166 (Gruselkabinett 27)
[„Der Glöckner von Notre-Dame“ 5399 (Gruselkabinett 28/29)
[„Der Vampir“ 5426 (Gruselkabinett 30)
[„Die Gespenster-Rikscha“ 5505 (Gruselkabinett 31)
[„Jagd der Vampire. Teil 1 von 2“ 5730 (Gruselkabinett 32)
[„Jagd der Vampire. Teil 2 von 2“ 5752 (Gruselkabinett 33)
[„Die obere Koje“ 5804 (Gruselkabinett 34)