Straub, Peter – In the Night Room

_Zum Geisterhaus: Odyssee zum Ende der Nacht_

„In the night room“ ist die indirekte Fortsetzung von „Lost by lost girl“ [(„Haus der blinden Fenster“), 1003 mit dem Straub großen Erfolg hatte.

Willy Patrick ist eine erfolgreiche Autorin von Jugendbüchern (darunter „In the night room“) und steht kurz davor, einen noch weitaus erfolgreicheren Firmenanwalt zu heiraten. Doch Freunde warnen sie vor dem Mann und Albträume suchen Willy heim. Vor zwei Jahren verlor sie ihren Mann und ihre Tochter bei einem Unfall. Nun erscheint ihr ihre Tochter bereits am helllichten Tag. Wird sie verrückt? Als ein Freund andeutet, dass ihr Verlobter etwas mit jenem Autounfall zu tun gehabt haben könnte, ergreift Willy die Flucht …

Willy stammt ebenso wie der Schriftsteller Tim Underhill aus dem kleinen Städtchen Millhaven in Illinois. Auch Tim wird heimgesucht: von seiner toten älteren Schwester April. Aber auch ein rabiater Fan scheint hinter ihm her zu sein und verwüstet sogar seine Wohnung. Obendrein bekommt er weiterhin unheimliche E-Mails. Als Underhill bei einer Lesung Willy Patrick kennen lernt, kriegt er Panik: Sie sieht genauso aus wie die Heldin in seinem neuesten Roman, an dem er vergeblich schreibt. Zudem scheint sie in der gleichen Gefahr zu schweben, die er für seine Heldin erfunden hat …

_Der Autor_

Peter Straub zählt neben Stephen King, John Saul und Dean Koontz zu den herausragenden amerikanischen Horror-Autoren. Er wurde in Milwaukee, Wisconsin (wo viele deutsche Auswanderer wohnten), geboren und lebte ein Jahrzehnt lang in England und Irland. Seine Bücher sind in viele Sprachen übersetzt worden und hatten 1994 (!) eine Weltauflage von 10 Millionen bereits weit überschritten. Heute lebt er mit seiner Frau auf einer Farm in Connecticut.

Zusammen mit Stephen King schrieb er „Der Talisman“ und dessen Fortsetzung „Das schwarze Haus“. Seine eigenen Romane sind ebenfalls – meistens – bei |Heyne| erschienen:

Schattenland
Geisterstunde
Das geheimnisvolle Mädchen /Julia / Die fremde Frau
Der Hauch des Drachen
Wenn du wüsstest
Koko und die Fortsetzung „Der Schlund“ (Romane mit Tim Underhill)
Mystery
Reise in die Nacht / [Hellfire-Club 1110 (später umbenannt)
Mister X / Schattenbrüder (später umbenannt)
[Esswood House 1603
[Haus der blinden Fenster 1003

Die Storysammlungen „Haus ohne Türen“ und „Magic Terror“ sind ebenfalls sehr zu empfehlen.

_Handlung_

|Tim …|

… Underhill hat schon in „Lost boy lost girl“ ein paar unheimliche E-Mails ohne Absenderadresse erhalten. Nun bekommt er noch eine ganze Ladung mehr davon. Die meisten beleidigen ihn, als Mensch, aber schlimmer noch: auch als Schriftsteller. Er ruft beim „Sekretär für den Jahrgang“ an, mit dem Underhill von der Schule abging, und siehe da: Alle E-Mails sind von Menschen geschrieben worden, die erst kürzlich gestorben sind. Die Frage ist natürlich, wie kann ein Toter E-Mails verschicken? Und vor allem: Warum sollte er oder sie das tun wollen?

Eines Tages erhält Tim Besuch von einem seltsamen Mann, der sich als Fan ausgibt und der Tim bittet, fünf Exemplare von dessen neuem Buch „Lost boy lost girl“ zu signieren. Tim wird stutzig: Warum denn gleich fünf Bücher – würde denn eines nicht ausreichen? Jasper Kohle beleidigt Tim als Autor und als Mensch. Im Verlauf des Geprächs mit Kohle verändert sich auch dessen Gesicht. War es zunächst noch geradezu jugendlich, so erscheint es Tim schließlich, als Kohle sich in den Regen verabschiedet, alt, abgehärmt und eingefallen.

Doch er hat Kohle nicht das letzte Mal gesehen. Als Tim einmal ausgeht, um den Frust über das Stocken seines Schreiben durch Spazierengehen abzureagieren, geschehen noch merkwürdigere Dinge. Inzwischen hat sich Tim daran gewöhnt, dass er seine verstorbene Schwester April am hellichten Tag sieht. Sie ruft ihm etwas zu: „Hör auf uns!“ Meint sie die E-Mail-Schreiber?

Doch im Nebel, der nun auf der Hauptstraße herrscht, taucht ein junger Mann auf, der Tim ungnädig ansieht und sich sodann bis auf die Haut auszieht. Dort, wo sein Geschlecht sein sollte, befindet sich jedoch nur glatte Haut wie bei einer Puppe. Als ob das nicht Wunder nicht genug wäre, breitet der junge Mann immense Engelsschwingen aus, erhebt sich mühelos in die Lüfte und verschwindet in der Ferne.

Als Tim in seine Wohnung zurückkehrt, ist sie verwüstet. Auf seine Exemplare von „Lost boy lost girl“ hat jemand uriniert, und dreimal darf Tim raten, wer es war: Jasper Kohle. Die Polizei nimmt den Einbruch nicht besonders ernst, denn es wurde nichts gestohlen. Aber am gleichen Abend lässt sich ein E-Mail-Schreiber mit dem Usernamen „Cyrax“ dazu herbei, Tim die Anderswelt zu erklären, von wo er die E-Mails erhält – und wo sich auch „Jasper Kohle“ aufhält. Nur, dass dieser dort einen Tim wohlbekannten Namen trägt: Joseph Kalendar, der Serienmörder von Millhaven.

Joseph Kalendar hat in „Lost boy lost girl“ entdeckt, dass Tim ihn anklagt, seine eigene Tochter Lily missbraucht zu haben, schreibt Cyrax. Daher ist Kalendar mächtig sauer auf Underhill – mit den bekannten Folgen. Um dieses Unrecht wiedergutzumachen, werde Tim einen hohen Preis zahlen müssen. Cyrax will, dass Tim a) zur Hochzeit seines Bruders fährt und b) zu einer bestimmten Lesung …

|Willy|

Die Jugendbuchautorin Willy Bryce Patrick hat vor zwei Jahren ihren Mann James und ihre Tochter Holly verloren. Holly erscheint ihr immer noch in ihren Albträumen, und sie glaubt, verrückt zu werden. Als sie einen Preis für ihren neuen Roman „In the night room“ erhält, die renommierte Newbery Medal, lernt sie den Wirtschaftsanwalt Mitchell Faber kennen. Der weltgewandte Mann interessiert sich für die trauernde Witwe und macht ihr einen Antrag. „Sie wissen, dass Sie mich brauchen.“ Willy gibt ihm Recht, und das war das. Immerhin ist er fantastisch im Bett.

Er arrangiert alles für die Hochzeit und quartiert sie in seinem weitläufigen Gut in Virginia ein, wo zwei Aufpasser ihn vertreten. Aber wie wenig er ihr vertraut, kann sie an dem Umstand ablesen, dass sie keinen Zutritt zu seinen Büroräumen hat. Als sie ihm in Europa hinterher telefoniert, ist er nicht aufzutreiben. Natürlich erhält sie verlogene Erklärungen. Nichts soll sie vor der Hochzeit beunruhigen.

Als ein Sturm das Bürofenster beschädigt und man sich Zutritt verschaffen muss, entdeckt Willy per Zufall ein Foto von ihrem verstorbenen Mann: Er liegt mit drei Löchern in der Brust und abgehackten Händen auf dem Boden. Dies war mitnichten ein Autounfall. Vielleicht hat Willys Ex-Freund Tom Hartland Recht, wenn er Mitchell Faber als „böse“ bezeichnet. Die Hochzeit soll auf einem anderen Gut namens Nightwood stattfinden. Doch so lange wartet Willy nicht. Nachdem sie die Aufpasser ausgetrickst hat, macht sie die Fliege und fährt nach New York City.

|When Timmy met Willy|

Unterdessen hat sich Timmy zu der von Cyrax empfohlenen Lesung in einem Buchladen in der Stadt eingefunden. Die Art und Weise, wie die weiterhin verfolgte Willy dort eintrifft, ist nur für sie selbst spektakulär. Doch als Timmy sie in den hinteren Reihen seines Publikums sitzen sieht, muss er immerzu an sie denken. Nachdem alle Besucher gegangen sind und nur er und die Managerin noch da sind, kommt es endlich zu einer richtigen Begegnung zwischen den beiden. Timmy weiß, dass er sein Schicksal getroffen hat. Und Willy erwartet von ihm endlich Antworten auf das, was ihr Sonderbares zugestoßen ist. Beispielsweise auch zu ihren häufigen Geistesabwesenheiten, in denen sie Stunden zu verbringen scheint.

Timmy ist der Mann mit allen Antworten. Nicht nur das – er kennt Willy durch und durch und findet sie einfach noch viel bezaubernder, als er sie sich vorgestellt hat. Schließlich hat er sie in seinem Buch erschaffen, an dem er gerade schreibt …

_Mein Eindruck_

„In the night room“ ist nicht nur eine notwendig gewordene Fortsetzung zu „Lost boy lost girl“, es ist viel mehr. Natürlich wird das Unrecht, das Tim an Joseph Kalendar und seiner Tochter begangen hat, wieder korrigiert, gar keine Frage. Aber wie es dazu kommen kann, ist der entscheidende Punkt. Wie kann ein Schriftsteller, der sich in seine eigene Schöpfung – Willy – verliebt hat, diese wieder gehen lassen, um alles wieder ins Lot zu bringen?

Da ist zunächst einmal die Frage nach der Verhältnis zwischen Schöpfer und Schöpfung. Es ist die Frage, die sich heutzutage wohl die wenigsten kreativen Schriftsteller stellen, es sei denn, sie erschaffen mit ihrer Phantasie ein eigenes Universum. Das hat Tim Underhill, Peter Straubs Schöpfung, getan. Underhill – oder „Underdog“, wie Cyrax ihn nennt – ist seit über zwanzig Jahren Straubs Lebensgefährte. Straub weiß genau, wie Tim sich fühlt, als Willy seinem Helden begegnet. (Und wir erfahren dies „aus erster Hand“: aus Tims Tagebuch.) Aber wie fühlt sich Willy, als sie die Wahrheit herausfindet – hat schon mal jemand daran gedacht?

Willy ist zum Verlieben: Sie ist schön, sowieso, aber sie ist auch intelligent, dynamisch, fraulich – und sehr menschlich. Sie wundert sich selbst darüber, dass sie die ganze Zeit so einen Heißhunger auf Süßes verspürt: Sie kauft mit Tims Geld gleich eine Reisetasche voller Schokoriegel und Kekse ein – eine wunderbar komische Szene, die ich liebe. Und auch im Restaurant ist sie gut im Verdrücken von Pfannkuchen etc. Aber dann merkt sie, dass etwas nicht stimmt: Sie hat dieses seltsam leichte Gefühl, als ob sie gleich abheben würde. Und dann verschwindet ihre linke Hand. Sie kann durch ihre Finger sehen, bis die Hand wieder solide wird. Willy ist nicht schockiert. Sie ist eher verwundert, dann gefasst.

Tim bringt es kaum übers Herz, ihr die Wahrheit zu sagen. Dass sie seiner Imagination entsprungen ist wie Pallas Athene dem Haupt ihres Vaters Zeus. Dass er sie liebt, ist offensichtlich. Und dass sie ihn liebt, beweist sie ihm allnächtlich im Bett. Und sie kennt ebenfalls sein Innenleben, hat er einen Teil davon doch auch in sie investiert, um sie zu vollständig zu machen. Aber nun ist er ihr göttlicher Vater und hat plötzlich eine entsprechende Verantwortung. Es ist, als hätte Tim nicht nur eine Geliebte, sondern auch ein Kind bei sich. Und sieht sie nicht tatsächlich ein wenig jünger aus – etwa 19 oder 20 statt 38?

Dass dieser Zustand nicht anhalten kann, ist Willy bald klar. Sie fragt Tim, wieso sie hier, in seiner Welt, gelandet ist – oder hat sie jemand hierher verfrachtet? Es gibt in der Tat eine Mission, die sie und Tim zu erfüllen haben. Cyrax hat sie ihm explizit aufgetragen. Diese Mission besteht darin, erstens die echte Lily Kalendar in Tims Welt zu finden – es gibt sie – und zweitens die Stellvertreterin Lilys, nämlich Willy, in das Geisterhaus von Joseph Kalendar zu bringen, genauer: in den Night Room selbst.

Kaum also haben sich die beiden auf ihre seltsame Weise gefunden, müssen sie einander schon wieder verlassen. Tim muss Willy, seine Schöpfung, für ein höheres Ziel opfern. Dass dies notwendig ist, belegt die Anwesenheit von Joseph Kalendar, dem Finsterling am Ende der Straße. Nun fragt sich der Leser, warum sich Willy nicht weigert: Warum sollte sie sterben? Aber diese Frage verkennt, dass Willy bereits am Verblassen ist und nur zu eben diesem Zweck in diese Welt gekommen ist: um das Geisterhaus und alle, die darin gefangen sind, von einem alten Fluch zu erlösen. Deshalb ist Willy wundervollerweise bereit, auf Nimmerwiedersehen in dieses Haus zu gehen …

Tausend Fragen ergeben sich nun wieder daraus. Wenn Willy Tim Underhills Geschöpf ist und Tim Peter Straubs Geschöpf, wessen Geschöpf ist dann Peter Straub? Oder besser gefragt: Wessen Geschöpf ist der Tim Underhill in seinen Büchern, sobald die Millionen Leser von Underhill lesen? Ist Underhill nicht bereits ein Geschöpf, das im kollektiven Bewusstsein und Unterbewusstsein aller Leser existiert? Was würde geschehen, wenn Straub dieses sein ihm sicher lieb gewonnenes Geschöpf für einen höheren Zweck opfern würde?

Das wiederum erinnert unweigerlich an die Passion Jesu. Warum wurde Jesus von Nazareth in die Welt geschickt? Gab es ihn wirklich, als Geschöpf Jehovas, oder wurde er von den Lesern der vier genehmigten Evangelien unsterblich gemacht? Wir glauben inzwischen zu wissen, welchem Zweck Jesus diente und immer noch dient: als Abbild, als Mythos. Doch könnte er genauso wie Willy und die römischen Götter auch wieder verblassen. Dies liegt nicht mehr in der Hand seines oder seiner Schöpfer, der Evangelisten, sondern in der seiner „Leser“ oder Gläubigen. Das betrifft auch islamistische Fundamentalisten.

Straubs Roman zeigt das Verhältnis zwischen Fakt und Fiktion auf, präsentiert uns auch Religionsinhalte als Fiktion und wirft einige kritische Fragen auf. Welchen Absolutheitsanspruch hat der Schöpfer gegenüber seiner Schöpfung und welche Verantwortung? Wir Menschen können dies inzwischen auf unseren Planeten beziehen. Und da wir täglich damit konfrontiert werden, dass der Planet uns gegenüber keinerlei Verantwortungsgefühl an den Tag legt, stellt sich die Frage, was uns von der gleichgültigen Gaia unterscheidet. Können wir es uns leisten, unseren eigenen Schöpfungen gegenüber ebenso gleichgültig zu sein? Natürlich nicht. Deshalb haben wir die Ethik fürs Handeln und die Moral fürs Empfinden erfunden.

Nun wird es aber für Tim interessant. Er hat mitgeteilt bekommen – unter anderem von Cyrax – dass es eine andere Dimension gibt, das Reich. Dort gibt es Hierarchien, und die oberste besteht im PRIME. Hier leben nicht nur Engel, sondern auch verstorbene Seelen: sasha und zamani (Wörter aus der afrikanischen Sprache Kisuaheli). Eine Hölle gibt es nicht. Sasha jedoch materialisieren sich in Tims Welt (die unserer ziemlich ähnlich ist) und verursachen jede Menge potenziellen Ärger. Daher gilt es für Tim, Verantwortung gegenüber diesen sashas – z. B. Joseph Kalendar alias Jasper Kohle – zu zeigen und Fehler zu korrigieren. Darin besteht seine Mission mit Willy.

Der Leser kann nun dieses „Reich“ mit der jenseitigen Welt gleichsetzen, die für seine Konfession jeweils vorgesehen ist: römisch-katholisch, evangelisch, jüdisch, muslimisch, buddhistisch, usw. Für uns agiert Tim Underhill, als hätte er einen „göttlichen“ Befehl erhalten, als wäre er eine Art Prophet oder himmlischer Agent. Der Knackpunkt besteht wohl darin zu betrachten, wie er seine Verantwortung umsetzt und wie er Willy, seine Schöpfung, behandelt. Dieses Verhalten scheint mir eine moralische Lehre zu enthalten. Straub erzählt sie ohne erhobenen Zeigefinger und auf die charmanteste vorstellbare Weise: als ironische Liebesgeschichte und als das Märchen von Alice im Wunderland (Tims Tochter April taucht immer als Alice verkleidet auf: ein mahnender Geist).

_Unterm Strich_

Bereits in „Black House“ hat Straub das Element eines durch „slippage“ (so viel wie Schliddern) in die erzählte Welt geratenen Wesens genutzt, um für unheimliche Spannung zu sorgen. „In the night room“ verrät uns nun, woher solche Wesen kommen: aus dem Reich. Allerdings hat es fatale Ähnlichkeit mit dem Reich der Ahnen einerseits und dem christlichen Himmel andererseits. Immerhin gibt es keine Hölle, was ja schon ein Fortschritt ist. Vielleicht ist ja die Welt höllisch genug. Ganz bestimmt ist es nämlich der titelgebende „night room“. Vor dem haben wir uns schon in „Lost boy lost girl“ („Haus der blinden Fenster“) gefürchtet.

Der Schriftsteller Underhill ist unser Führer zu diesem Grenzbereich, und er ist ein guter Führer. Durch seine Vietnam-Erfahrungen abgehärtet, ist er gerüstet für übernatürliche Phänomene (vgl. „Koko“). Zugleich ist er dennoch so menschlich geblieben, dass er sich auf eine Liebesbeziehung einlassen kann. Eigentlich ist er ja schwul, aber, hey, bei seinem eigenen Geschöpf kann er ja wohl schlecht nein sagen, oder? Ist ja fast wie Selbstbefriedigung, denkt nun wohl so mancher Leser, aber das ist ein Trugschluss. Willy ist sehr eigenständig, und ihre Entwicklung fordert Tims ganzes Mitgefühl – bis zu ihrem Opfergang. Die „slippage“ funktioniert nämlich in beide Richtungen.

„In the night room“ ist sehr literarischer und intellektueller Horror, und ich fand mich bei zahlreichen Überlegungen, welche und wie viele Bedeutungsebenen der Autor in sein Buch hineingelegt hat. Da Tim Underhill ein Schriftsteller ist und nun sein Geschöpf als echten Menschen kennen und lieben lernt, ist die Erzählung auch ein Kommentar über das kreative Schreiben an sich. Alles Weitere dazu habe ich oben ausgeführt.

Doch die Erzählung ist weder schlüpfrig noch trivial-frivol gestaltet, sondern wendet sich vielmehr an Erwachsene, die sich etwas unter menschlichem Verantwortungsgefühl vorstellen können. Phantastische Elemente wie die als „Alice im Wunderland“ auftretende April Underhill und der als Dark Man auftretender Joseph Kalendar tun dem keinen Abbruch – jeder Geist muss eben sein eigenes Gewand wählen, um sich bemerkbar zu machen.

|Die sprachliche Dimension|

Die Sprache, deren sich Straub bedient, erfordert eine gute Englischausbildung. Nicht nur er selbst bewegt sich hauptsächlich in gebildeten Schriftstellerkreisen, sondern offenbar auch sein Held Tim Underhill. Dementsprechend ausgefallen können manche Eigenschaftswörter ausfallen, und dann heißt es nicht selten: Hol das Wörterbuch raus. (Übrigens hat Straub das Buch einem Literaturkritiker gewidmet. Gary K. Wolfe rezensiert seit Jahren für das bekannte LOCUS Magazine und gehört dort bestimmt bereits zum Inventar.)

Für die hoffentlich kommende Übersetzung erhöht nicht nur dies die Schwierigkeiten. Hinzu kommt auch, dass sich der Geist Cyrax einer in Chatrooms üblichen Kürzelsprache (z. B. „gr8“ statt „great“) bedient, die es ebenfalls authentisch wiederzugeben gilt. Nicht jeder Übersetzer verfügt über einen solchen Erfahrungsschatz. Aber diese Chatsprache ist eine wesentliche Quelle sprachlichen Humors, denn in diesen Chat-Mails wird Underhill von Cyrax und den anderen „sashas“ richtiggehend niedergemacht, und das passiert den wenigsten Hauptfiguren. Deshalb wäre es unverzeihlich, würde man dieses Stilelement durch Hochdeutsch verwässern oder gar weglassen.

Von mir bekommt das Buch die volle Punktzahl. Aber (bislang) nur im Original.