Es ist fast wie ein Krimi: Während Sue, ihres Zeichens Seargeant bei der schottischen Polizei, in einem Einbruch ermitteln soll, wird die Versicherungsangestellte Elaine zum gleichen Fall hinzugezogen, um eventuelle Haftungsausschlüsse zu eruieren. Die betroffene Firma ihrerseits engagiert einen Spiele- und Softwareentwickler, der durch sein Verständnis der Spielewelten Zugang zu den Schemata und Vorgehensweisen der Täter finden und so den Ermittlern die Möglichkeit geben soll, den Fall zu klären.
Verwirrung stiftet vor allem die Tatsache, dass das Verbrechen in einer Online-Spielewelt verübt wurde. Die betroffene Firma Hayek stellt ihrerseits nämlich die Versicherung einer spielübergreifenden Bank dar, in der die Spieler ihre Beute einlagern und bei Bedarf abholen können. Und in dieser Bank wurden eben jene Artefakte „gestohlen“, was einen Schaden in unvorstellbaren Höhen darstellt.
Die verschiedenen Parteien geraten bei ihren Ermittlungen in einen Strudel geheimdiensttechnischer Absurditäten und undurchschaubarer Zusammenhänge zwischen Onlinespielen, Staatenverwaltung und Mastercodes, sodass als Essenz die Erkenntnis Gestalt annimmt, vor einer allübergreifenden Infiltration und Übernahme des schottischen Verwaltungsapparates zu stehen. Die Verwicklungen reichen bis in die höchsten Machtebenen, bestimmen die Geheimdienste Chinas, Schottlands und der EU und sind nur ein Spielball einer unbekannten Gruppe von Onlinespielern, die sich „Das rote Team“ nennt und mit den Systemen der Staaten eine Art „Capture the flag“ spielen.
Die Handlungsebenen sind vielschichtig und zu Anfang schwer zu durchschauen, da der Blickwinkel von Kapitel zu Kapitel wechselt, wobei der Stil der Erzählung es nicht sofort offenbart, wer sich als Protagonist oder Betrachter oder Angesprochener präsentiert. Nur eine ungünstig platzierte Überschrift in der falznahen oberen Ecke jedes Kapitelbeginns nennt den Namen desjenigen, durch dessen Augen wir die Szenerie betrachten. Stross bedient sich einer ungewöhnlichen Erzählstimme, er schreibt in der Du-Form und spricht damit immer den jeweiligen Protagonisten an, wodurch eine öftere Nennung des Namens entfällt, wie sie beim unpersönlichen Erzähler in der dritten Person sonst gegeben wäre. Damit erreicht er natürlich eine ungeheure Nähe zum Leser, der sich stets vom „Du“ angesprochen fühlt, auch wenn es beispielsweise um Sätze geht, wie „Du setzt deine Datenbrille auf und loggst dich in den Copspace ein“.
Apropos Copspace: Wir befinden uns in einer recht nahen Zukunft, in der sich Schottland Souveränität erworben hat, die EU aber weiterhin existiert und auch sonst noch typische Strukturen vorherrschen. Das Internet ist allgegenwärtig, man ist über die Datenbrillen ständig damit gekoppelt, verfügt somit über direkte Navigation im Straßenverkehr, über immer abrufbare Informationen über seine Umgebung (zum Beispiel das nächste Hotel, Kritiken von Restaurants, Suchergebnisse über unbekannte Personen etc.) und ist immer erreichbar. Ohne Brille fühlt man sich nackt, die Brille bietet eine erweiterte Sicht auf das Umfeld, indem auch Markierungen und Informationen direkt beim Auftauchen von Objekten im Sichtfeld eingeblendet werden. Erweitert wird das Ganze im Copspace, einer den Polizisten vorbehaltenen Ebene, die auch Wohnungen und Personen polizeirelevant charakterisiert.
So viel zum Umfeld. Die Geschichte selbst entwickelt sich anfangs etwas verworren durch oben genannte Charakterzüge und den Umstand, dass die oberflächlichen Probleme recht unbedeutend erscheinen – wie als Mittel zum Zweck, als sei die Zukunftsdarstellung das Motiv der Geschichte. Doch die Täuschung löst sich bald auf, wenn die Zusammenhänge immer undurchsichtiger werden und sich nur langsam ein Bild von den Geschehnissen ergibt, die ein extrapoliertes Gefahrenpotential auch heute schon vorhandener Mängel im digitalen Datenverkehr aufzeigen und thematisieren. Im Gegensatz zu anderen ähnlichen Ansätzen des Genres zu diesem Thema im Jahr 2010 (wie Doctorows „Little Brother“ oder Suarez‘ „Daemon“) umspinnt Stross dieses Zentrum mit einer verwickelten Agenten- und Ermittlungsgeschichte, aus der sich erst spät die Betroffenheit beim Leser herausschält, mit der man als uneingeweihter Bürger, als reiner Nutzer der Datensphäre und machtloses Opfer zahlreicher diesbezüglicher Fehlentscheidungen und -einschätzungen durch Regierungen reagiert, wenn der Daumen so brutal auf die wunden Stellen des ach so hilfreichen, sicheren und allmächtigen Systems der elektronischen Datenverarbeitung und Kommunikation gelegt wird.
Faszinierend für die einen, erschlagend für die anderen und vielleicht oberflächlich für die wenigen ist das Vokabular der Geschichte, wohl je nach Einweihungsgrad des Lesers. Man spricht über Onlinespiele, über Datenerfassung, Vernetzung, entsprechende Gesetze, Gesetzeslücken, Systeme und Protokolle. Dabei dürfte dem interessierten Leser sicherlich der umfangreiche Anhang helfen, auch wenn der Lesefluss es uns eigentlich verbietet, zwischendurch nach hinten zu blättern, um die Erklärung eines Fachausdrucks vielleicht zu finden. Doch muss man hier die Mühe anerkennen, die sich Stross mit seinen nichteingeweihten Lesern gemacht hat, um allen Zugang zu seinem sonst in üblicher Weise hoch unterhaltsamen und spannenden Roman zu ermöglichen.
Bei Stross erkennt man einen Trend in der modernen Sciencefiction. Wie sich schon die herausragenden Autoren früherer Jahre mit den Entwicklungen der Gesellschaft auseinandersetzten und zu extrapolieren versuchten, beschäftigt sich die moderne Genreliteratur mit den bedenklichen oder zu überdenkenden Entwicklungen, die sich aus unserer Gegenwart ergeben – und wo anders, als in Bezug auf das Internet und die Vernetzung der Kommunikation allgemein, erkennt man schon heute lebende Sciencefiction? Unbestreitbar lauern hier noch unbedachte Gefahren, die gerade durch die rasante Entwicklung vielleicht schneller zu globalen Problemen führen können, als man sich auszudenken vermag. Es gibt viele Baustellen für einen kritischen Schriftsteller, aber die Beschleunigung in der Kommunikation lässt sowohl visionäre als auch besorgniserregende Blicke in die Zukunft zu.
Mit „du bist tot“ eröffnet Stross einen unerwartet betroffenen Blick auf einen gefährdeten Nerv unserer Zivilisation – und das macht er blendend unterhaltsam! Ein Höhepunkt des Jahres!
Taschenbuch: 544 Seiten
Originaltitel: Halting State
Deutsch von Usch Kiausch
ISBN-13: 978-3453526877
Der Autor vergibt: