Strugatzki, Boris – Suche nach der Vorherbestimmung, Die

In den ersten dreißig Jahren seines Lebens entgeht Stanislaw Krasnogorow dreiundzwanzigmal nur um Haaresbreite dem Tod. Er erkennt, dass dies mit reinem Zufall nicht zu erklären ist, und begibt sich auf die Suche nach seiner Vorherbestimmung, die ihn offensichtlich auf diese Weise für etwas Besonderes aufspart. Er schreibt über seine wundersamen Rettungen ein Buch, das über Umwege beim KGB landet. Dort stellt man fest, dass mit der Geschichte Stanislaws verschiedene, ungeklärte Todesfälle verknüpft sind – neben Stanislaw starben und sterben auf unheimliche Weise Menschen, die irgendwie in sein Schicksal eingriffen, bzw. dies auch nur versuchten. Das Rätsel um diesen Zusammenhang löst jedoch auch der KGB nicht – und Stanislaw beschließt, seine unheimliche Gabe zu nutzen, die Zukunft Russlands zu verändern.

Ich habe mich mit diesem Buch sehr schwer getan. Nach mühseligem Einstieg, bei dem ich mich erst nach rund dreißig Seiten grob orientiert hatte, warfen mich ein ums andere mal Einschübe in Form von eingeklammerten Textpassagen aus der Handlung. In diesem Roman wird exzessiv „geklammert“. Zum Teil über ganze Absätze, sogar Seiten, laufen solche Nebenstränge in Klammern, störten den Lesefluss ganz erheblich und ließen mich immer wieder den roten Faden verlieren.

Überhaupt ist das Tempo des Romans derart wechselhaft, dass ich mich kaum darauf einstellen konnte – von flott zu lesenden, anekdotenhaften Passagen zu sich doch eher mühselig voranschleppenden Abschnitten (voller Klammern und lyrischer Ergüsse), bei denen ich oft den Eindruck hatte, nicht wirklich dahinter zu kommen, worum es eigentlich ging, was das jetzt soll, wer diese sporadisch auftauchenden neuen Personen mit verwirrend komplizierten, zum Teil sehr ähnlichen Namen eigentlich seien, welche Rolle sie und diese Szene überhaupt spielen sollten (… einer flott-fröhlichen, atmosphärisch sehr dichten Passage mit der Schwiegermutter folgt ohne Übergang die grausige Wendung zur staubtrockenen, fast in Telegrammstil nachgeschobene Todesnachricht.)

Die Einschübe illustrieren zwar ein intensives Sittengemälde vom Russland zwischen den Dreißigern des letzten Jahrhunderts und Prä-Perestroika, helfen der Geschichte selbst aber nicht voran. Der rote Faden der Handlung erscheint an vielen, vielen Stellen in zahllose Nebensächlichkeiten aufgefasert – als habe der Autor krampfhaft jede Möglichkeit genutzt, seine Lieblings-Anekdoten/Gedichte/Sinnsprüche usw. anzubringen. Dass sich letzten Endes aber doch alles zu einem einigermaßen homogenen Gewirk fügt (… mal von den wirklich SEHR ausufernden lyrischen Ergüssen abgesehen), tröstet – aber nur im Nachhinein, beim Lesen selbst ist es höchst anstrengend.

Anstrengend – das ist überhaupt ein sehr passendes Prädikat für den Roman. Wer nur Unterhaltung liest, ist mit diesem Buch falsch beraten (auch wenn es durchaus unterhaltsame Passagen enthält wie z. B.: „Das Programm zur Herstellung von Aphorismen funktionierte bei ihm wie eine Rüstungsfabrik und warf pro Woche zuverlässig zwei, drei auserlesene Perlen menschlicher Weisheit aus.“ (S. 75) „Vermeidet Trunkenheit am Steuer, der Wodka kommt auch so schon teuer.“ (S. 83) Neben solch launigen Abschnitten muss man sich bei dem Roman aber auf sehr grausige, blutrünstige Schilderungen gefasst machen – das Buch ist nichts für in dieser Hinsicht Zartbesaitete.

Auch die Sprache macht den Roman zu einem teilweise schweren Brocken – von ungewöhnlichen oder etwas altertümlichen Wendungen über Fremdworte, die nach dem Lexikon in Griffnähe verlangen, bis zu den Namen. Dass im Russischen ein und dieselbe Person auf derart viele verschiedene Namen hören kann, ist verwirrend und gewöhnungsbedürftig (bis ich etwa auseinandergedröselt hatte, dass Senja=Semjon=Sjomka, oder der KGB-Major einmal Major Krasnogorski, dann, ein paar Seiten später Wenjamin Iwanowitsch ist, dauerte es …)

In der ersten Hälfte des Buches ist übrigens nichts davon zu bemerken, es mit einem phantastischen Roman zu tun zu haben – erst in der zweiten kommen die phantastischen Elemente zum Tragen. In vier Teile, die jedes Mal wieder ganz neu ansetzen und Jahrzehnte überspringen, ist das Buch gegliedert.

Alles in allem hinterlässt mich der Roman zwiegespalten: er hat einerseits viele reizvolle Stellen zu bieten, ist aber äußerst anstrengend zu lesen. Er gibt ein recht gutes Bild von der Stimmungslage und Atmosphäre der UdSSR zwischen Dreißigerjahren und Prä-Perestroika und hat eine faszinierende, phantastische Grundidee. Die Handlung „hoppelt“ aber derartig, dass man gerade dann die Orientierung verliert, wenn man sich so richtig in die Geschichte hineingefunden hat, weil ausgerechnet dann mal wieder ein Einschnitt vorgenommen wird. Das frustriert. Leider sind diese Schnitte auch nicht immer so deutlich erkennbar wie bei den Teilen oder Kapiteln – manchmal liegen nämlich auch zwischen zwei simplen Absätzen Jahre. Ob eine Passage Erinnerung oder gegenwärtiges Erlebnis des Protagonisten ist, klärt sich oft erst Dutzende Seiten später. Das Lesen erfordert eine Menge Geduld und ein gutes Gedächtnis – kurz: volle Konzentration. Der Handlungsfaden ist verknäuelt wie in einer Filethäkelei mit unzähligen Extraschnörkelchen und Mausezähnchen; letzten Endes fügt sich zwar das meiste wieder logisch zusammen – zu einem ausgewogenen Gesamtwerk, das aber sicher nichts zum Nebenbeilesen ist. Es erfordert große Aufmerksamkeit und an manchen Stellen auch Durchhaltevermögen, wenn etwa seitenlang die Spaßlyrik eines feuchtfröhlichen Treffens geschildert wird.

Das Ende hat mich vollends ratlos zurückgelassen. Dass ich den Schluss des Romans nicht verstehe, hat mich nach all der Mühe beim Lesen ganz besonders frustriert, noch gesteigert dadurch, dass der dritte (vorletzte), ganz besonders interessante Teil des Buches so abrupt vom vierten, mich wieder völlig konfus machenden Schlussteil – mit wieder völlig neuen Personen, deren Namen und Bedeutungen für die Geschichte ich sortieren musste – abgelöst wurde. Auch im Rückblick gelingt es mir nicht, mit diesem Ende etwas anzufangen.

Fazit: ein äußerst anstrengendes Buch, das mich aber – bei aller Verwirrung – durch Idee und Atmosphäre passagenweise durchaus fasziniert hat.

_Susanne Jaja_
|Diese Rezension wurde mit freundlicher Genehmigung unseres Partnermagazins [X-Zine]http://www.x-zine.de/ veröffentlicht.|