Sturgeon, Theodore – Ersten ihrer Art, Die

_Menschliche Evolution – nächster Schritt_

Ein Gruppenbewusstsein, das sich aus mehreren Menschen mit besonderen Talenten zusammensetzt, steht im Mittelpunkt dieses berühmten Romans, der 1954 mit dem |International Fantasy Award| ausgezeichnet wurde.

Nachdem die Ausgabe des |Heyne|-Verlags mit dem Titel „Baby ist drei“ schon längst vergriffen ist, besorgte der Hamburger Argument-Verlag eine lobenswerte Ausgabe mit einer ungekürzten und „völlig überarbeiteten“ Übersetzung. Dies ist ein wesentlicher Punkt, denn die Geschichte lebt zu einem großen Teil von der poetischen Sprache, in der Sturgeon sie verfasste.

_Handlung_

Zunächst werden im ersten Teil die verschiedenen Personen der Geschichte vorgestellt. Das ist einmal der „fabelhafte Idiot“, der dem Kapitel seinen Titel gibt. Er kennt kein Ich, hat keine Sprache, lebt wie ein Tier im Wald. Als er von einem wohlmeinenden kinderlosen Farmerspaar aufgenommen wird, erwirbt er einen Namen, Lein (von ‚allein‘), Sprache (er lernt aber nie Schreiben) und Liebe – was wohl das Wichtigste ist. Die Talente des Idioten Lein sind Telepathie und Empathie, also Übertragung von Gedanken und Empfindungen.

Er trifft auf ebenfalls empathiefähige Menschen. Evelyn, die Unschuld aus einem abgeschieden gelegenen Herrenhaus, stirbt nach Leins Einmischung in ihre Familie; doch später kommen die kleine Janie mit den telekinetischen Kräften (sie bewegt Dinge mit Gedankenkraft) und die beiden sprachgestörten farbigen Zwillinge Beanie und Bonnie, die teleportieren können: Sie bewegen sich selbst von Ort zu Ort per Gedankenkraft. Hinzukommen weitere Teile des entstehenden Gestaltwesens: ein mongoloides Baby, dessen Geist arbeitet wie ein Computer und das seine Ergebnisse telepathisch überträgt; und schließlich Gerry, ein Junge, der nur hassen kann.

Dieses Häuflein Menschen, das einsam und geschützt in einer Hütte im Wald lebt, entdeckt erst spät (eigentlich nur Lein, dann Gerry), dass es sich vom Rest der Menschheit erheblich unterscheidet. Einzeln sind die Kinder und Lein schwach, doch zusammen können sie mehr vollbringen als ein durchschnittlicher Mensch.

Im zweiten Teil findet eine Psychiatersitzung statt, die dazu dienen soll, dass Gerry herausfindet, was mit ihm nicht stimmt: Er hat einen Menschen getötet. Mal hält er sich für 15 (meistens), dann wieder für acht Jahre alt, dann ist er 33. Feststeht zumindest, dass er über telepathische und hypnotische Kräfte verfügt. Ein paar Jahre sind inzwischen vergangen, und er hat den verstorbenen Lein als Leiter der Gruppe abgelöst.

Der Satz „Baby ist drei“ – so der Titel dieses Buchteils – löst in seinem Geist eine Blockade aus, die die Frage auf die Antwort verschließt, warum er Miss Kew, die „Erzieherin“ des Gestaltwesens, getötet hat. Wie sich herausstellt ist Miss Kew die Schwester jener Evelyn, der Lein damals so verhängnisvoll begegnete, Alicia. Der Leser fragt sich die ganze Zeit, warum Alicia gegenüber Lein eine Verpflichtung hatte, seine Gruppe in ihrem Haus aufzunehmen – sie kannte ihn doch gar nicht, oder? Das Geheimnis hinter dem Satz „Baby ist drei“ ist für sie verhängnisvoll, zeigt aber Gerry, wer er in Wirklichkeit ist. – Diese Szenen sind extrem spannend und halten viele überraschende Erkenntnisse bereit.

Im dritten Teil, „Moral“, sind aus den jungen Mitgliedern der Gruppe Erwachsene geworden. Hip Barrows, den man schon aus dem ersten Teil kennt, ist so etwas wie ein junges Elektronik-Genie und zudem ein Opfer der Andersartigen, doch – nach einem sehr spannenden Selbstfindungsprozess – er schließt sich ihnen an und wird zu ihrem Gewissen.

Denn der |Homo gestalt| kann alles tun und sein, was er will; hätte er kein Gewissen, keine Moral, so würde er die Welt vernichten. Interessant, dass der Autor sehr genau zwischen Moral und Ethik unterscheidet. So gibt Hip dem allmächtigen Gerry keine Moral, die ihn seinesgleichen verpflichten würde – denn die gibt’s ja nicht. Sondern er gibt ihm eine Ethik, die ihn künftigen Generationen des Homo gestalt gegenüber verpflichtet. Und dies bedeutet eine Befreiung von überraschendem Ausmaß – jeder lese selbst!

_Mein Eindruck_

„Die Ersten ihrer Art“ gehört zu den zehn berühmtesten und wohl auch besten Science-Fiction-Romanen überhaupt. Es ist ein hervorragendes Beispiel für die Bearbeitung des Themas Homo gestalt, bei dem mehrere Mutanten ihre Talente kombinieren und so eine parapsychische Union und neue Daseinsform bilden.

Mich hat der Roman vor allem deshalb beeindruckt, weil Sturgeon es versteht, auf sprachlich wunderschöne und doch einfache Weise eindringlich klarzumachen, was jedes Mitglied der Gruppe ausmacht und worin ihre Besonderheit in der Koexistenz besteht: Das Ganze ist mehr als die Summe seiner Einzelteile. Die stellenweise (besonders im ersten Teil) beinahe märchenhaft erzählte Handlung wirkt durch die dahinter stehende rationale, aber humanistische Philosophie realistisch.

„More than human“ ist eine Verbindung aus dieser Philosophie und wissenschaftlichen Erkenntnissen bzw. Theorien, die in den frühen Fünfzigern kursierten. Und wer weiß, vielleicht steht dem Menschen dieser psychische Durchbruch noch bevor. Stattdessen müht sich die Wissenschaft, Maschinen Intelligenz zu verleihen. Wie lächerlich, da noch nicht einmal der Mensch seine „Intelligenz“ sinnvoll einsetzen kann, indem er sich künftigen Generationen gegenüber verantwortungsbewusst erweist!

Vielleicht kann man die Forderung des Autors nach einer menschenwürdigen Zukunft verstehen, die auch einen Platz für die Andersartigkeit hat, für Mutanten. Man merkt der Erzählung Sturgeons weitreichende Psychologiekenntnisse und seine Liebe für Kinder an und dass er über ein tiefes Verständnis für sie verfügt. Und daher ist klar, dass er jedem Kind, und sei es noch so andersartig, eine Chance verschaffen möchte, mehr Glück, mehr Erfüllung zu finden, beispielsweise in der Gemeinschaft des Homo gestalt.
Leider sind wir heute im 21. Jahrhundert schon zu sehr desillusioniert: Solche Anliegen finden wir wohl nur noch hoffnungslos naiv, oder wie seht ihr das?

|Die Übersetzung|

Ich frage mich nur eines: Wenn diese Übersetzung „völlig überarbeitet“ wurde, warum findet sich dann auf fast jeder Seite mindestens ein Druckfehler?

_Der Autor_

Theodore Sturgeon (1918-1985) war einer der wichtigsten Story-Autoren der amerikanischen Science-Fiction nach dem Zweiten Weltkrieg. (Er begann zwar schon 1939 zu veröffentlichen, doch die meisten Storys schrieb er in den 15 Jahren nach 1946.) Aber auch seine Romane wie „More than human“ (1953) wurden preisgekrönt. Sogar ein wichtiger Science-Fiction-Preis ist nach ihm benannt.

Eines seiner Hauptmotive war die Weiterentwicklung des Menschen: Telepathen, Gestaltwandler, Telekineten und andere „strange people“ bevölkern seine Geschichten. Natürlich müssen sie sich, wie alle so genannten „freaks“ mit den Vorurteilen, ja, der Feindseligkeiten der „Normalen“ auseinandersetzen. Aus dieser Entfremdung führt der Weg zu einem transzendenten Aufgehen in einer höherwertigen Gemeinschaft dieser PSI-Begabten. So geschieht es in „More than human“, aber auch in „The dreaming jewels“, das 1950 erschien.

|Originaltitel: More than human, 1953
Aus dem US-Englischen übertragen von Birgit Will und Walter Brumm|