Mark T. Sullivan – 66095

Das geschieht:

Während einer der letzten Mondlandungen wurde 1972 gefunden der Steinbrocken mit der Probennummer „66095“ geborgen. Er sendet mysteriöse Strahlen aus, wenn man ihn mit Energie ‚füttert‘. Für Menschenhirne sind sie nicht bekömmlich, da sie Depression und Mordlust fördern. Dies bleibt lange unbemerkt, denn 66095 versauert viele Jahrzehnte in einem Laborarchiv. Dann experimentiert der Forschungsassistent Robert Gregor damit herum, bis er gollumartig dem fatalen Zauber des Steins erliegt und zum mondsüchtig verrückten Mörder mutiert.

Szenenwechsel: Die USA planen ihre Rückkehr auf den Mond. Dort werden supraleitende Erze vermutet, aus denen sich Energie gewinnen lässt. Als ideales Training für angehende Luna-Bergleute empfiehlt die NASA aus logisch recht unerfindlichen, für die Dramaturgie dieses Buch jedoch unverzichtbaren Gründen einen unterirdischen Marsch durch die Labyrinth-Höhlen im US-Staat Kentucky.

Forscher Tom Burke, ein eisenharter Grottenfex, fühlt sich hier wie zu Hause. Auch Töchterlein Alexandra – „Cricket“ gerufen – kraxelt schon tüchtig mit. Auch Mutter Whitney schwang sich einst von Stalagmit zu Stalaktit, aber seit ihr vor einem Jahr die Assistentin in einem Wasserloch versank, plagen sie Albträume und Seelenqualen.

Jetzt soll Tom besagte Astronautenanwärter durch das Labyrinth führen und will sogar Cricket mitnehmen! Die düsteren Vorahnungen der Mutter verhallen nicht ungestraft: Prompt beginnt es zu regnen, die Höhlen füllen sich mit Wasser. Außerdem schleicht eine Horde entflohener Schwerstverbrecher – unter ihnen unser Mondsteinanbeter, der den Brocken seines Herzens (natürlich) ausgerechnet im Labyrinth versteckt hat – hinter der Expedition her, die sich schließlich derartig verirrt, dass Rettung nur noch eine Ehefrau & Mutter mit dem Herzen einer Löwin bringen kann …

Stein vom Mond bringt Loch im Kopf

Wie kommt man möglichst rasch von der Oberfläche des Mondes in den Schlund eines irdischen Höhlenlabyrinths? Unter großzügiger Umgehend jeglicher Logik – das sollte zumindest für den Fan des Hollywood-Katastrophenthrillers eine einfach zu findende Antwort sein. Diese Parallelen werden hier nicht grundlos gezogen, denn „66095“ bietet als Vorlage für einen No-Brain-Blockbuster geradezu schamlos an. Jedes Kapitel zerfällt bereits in einzelne kurze Sequenzen, spannungsförderliche Szenensprünge sind ebenfalls berücksichtigt. Auch die Darsteller wurden streng nach Blockbuster-Proporz besetzt, aber dazu weiter unten Näheres.

Wissenschafts-Thriller – nicht ganz Krimi, Science Fiction oder Horror, sondern irgendwie dazwischen schwebend – sind „in“; vermischt wird das möglichst laborferne Getümmel gern mit Rätseln aus ferner Vergangenheit. Sind es nicht von übelboldigen Päpsten irgendwo im Vatikan versteckte Zusatz-Evangelien, dann sicherlich Hinterlassenschaften versunkener Uralt-Zivilisationen oder Artefakte missionswilliger Außerirdischer, denen mit Hightech-Waffen und Lara-Croft-Sprüngen über Stock und Stein nachgejagt wird.

An die bewährten Bestandteile dieser Rezeptur hält sich Autor Mark T. Sullivan mit sklavisch anmutender Gefolgschaftstreue. Er will offenkundig den Erfolg: beim ‚normalen‘ Publikum und beim Testleser für potenzielle Drehbücher. Um dies zu erreichen, ist ihm kein Trick zu billig und kein Klischee zu ausgelaugt. Wir brauchen einen schmissigen Einstieg als Vorspann vor den Titeln? Bitte sehr, lassen wir Brummstein 66095 eben auf dem Mond finden, obwohl der im weiteren Verlauf der Handlung (oder überhaupt) nicht die geringste Rolle spielt!

Ansonsten lasse man sich als Leser/in besser in den Bann der Höhlenwelt ziehen, die Sullivan durchaus eindrucksvoll in Szene setzt. Dann ist es womöglich nicht ganz so störend, dass es hier im nassen Dunkel primär kreuz & quer und dann quer & kreuz geht. Gut und Böse jagen einander um die Tropfsteine, durch Schlupflöcher und Winkel, während ihnen das Wasser buchstäblich bis zum Hals steigt. Aus dieser einfachen, erprobten (und ausgelutschten) Konstellation entwickelt der Verfasser sein turbulentes Garn – und mehr ist es nicht.

Gute Helden sind dumme Helden

Weil Sullivan anders als ‚Kollegen‘ wie James Rollins, Matthew Reilly oder andere Buchladen-Ärgernisse zumindest handwerklich solide Unterhaltungsliteratur produziert, nimmt man ihm seinen Schreibdienst nach Vorschrift erst in der Figurenzeichnung wirklich übel. Hier kommt es knüppeldick für die Protagonisten, aber auch für die Leser. Leider scheint Autor Sullivan das mineralreiche Wasser zu nutzen, um damit seine Instant-Figuren aufzubrühen. Dabei ist Pappkameraden in einer feuchten Umgebung wie dem Höhlenlabyrinth ohnehin keine lange Lebensdauer beschieden.

Zwar ist ein Thriller des Kalibers „66095“ vor allem oder sogar ausschließlich der reinen Unterhaltung geschuldet. Ein wenig zu einfach macht sich Sullivan seinen Job aber doch. Da ist kaum ein Klischee, das er nicht irgendwann aufgreift. Wie mit der stumpfen Axt aus einem Holzkloben gehauen stehen die Protagonisten vor uns: die taffe aber in den dramatischen Momenten schwache, natürlich schöne Frau und gute Mutter, die sich selbstverständlich zum Wohle ihrer Lieben exakt dem stellen muss, das sie am meisten fürchtet (Whitney Burke); die verfolgte Unschuld, jugendlich frisch und ungestüm, belauert von geilen Ganoven (Cricket); der überforderte, aber gutwillige und langmütige Geliebte und Vater, an dessen starke Brust sich Gattin und Tochter zuverlässig flüchten können (Tom Burke).

Dann gibt es als offiziellen Repräsentanten des Gesetzes US-Marshall Damian Finnerty, einen eindimensionalen Gutmenschen, der gegen beschränkte Vorgesetzte, eiskalte Polit-Bürokraten, neidische Strolchfänger-Konkurrenz aus den eigenen Reihen und seine eingeschränkte Spermienzahl kämpfen muss. Für eine Weile gesellt sich sogar eine indianische Polizeifrau dazu. Natürlich gibt es auch eine größere Nebenrolle für einen dunkelhäutigen Mitspieler – Mr. Sullivan hat an alles gedacht.

Böse Schurken sind dumme Schurken

Auf der anderen Seite stehen der übergeschnappte, brutale, hässliche Finsterling (Gregor) und seine vertierten Kumpane, die sich schier zerreißen, um das gesamte Ausmaß ihrer Tücke offenbar werden zu lassen. So stark übertreibt es Sullivan damit, dass sich der Kenner der jüngeren Filmgeschichte fragt, ob wieder ein „Con Air“-Flugzeug mit Vorzeige-Schurken abgestürzt ist …

Sullivan weicht niemals ein Jota von diesen Standardcharakterisierungen ab. Dies ermöglicht es, selbst im Halbschlaf der Handlung zu folgen. Das ist ein bisschen wenig selbst für ‚leichte‘ Literatur. Wer es freilich vorzieht, sich beim Lesen durch Vorstellen oder Nachdenken nicht anzustrengen, der wird sich bei diesem Werk gut aufgehoben fühlen! Es muss schließlich einen Grund haben ,dass „66095“ immer noch aus der Backlist des deutschen Verlages bestellt werden kann, während die meisten anderen Neutitel nach spätestens einem Jahr verramscht werden.

Autor

Mark T. Sullivan wurde 1958 in Framingham, einer Kleinstadt unweit von Boston im neuenglischen US-Staat Massachusetts geboren. Er schloss das College 1980 ab und arbeitete anschließend für das Friedenscorps in Nordafrika. 1982 kehrte er in die USA zurück und studierte Journalismus an der Northwestern University. Ab 1983 war Sullivan als Reporter für diverse Zeitungen und Nachrichtendienste tätig, 1986 schrieb er eine Reihe Aufsehen erregender Enthüllungsreportagen. Zweimal wurde er für den Pulitzer-Preis nominiert.

In seiner Freizeit versuchte sich Sullivan wie so viele Journalisten als Schriftsteller. Nach einer Reihe veröffentlichter Kurzgeschichten ließ er sich 1990 beurlauben und reiste durch Utah und Wyoming, wo er sich in die dortige Extremski-Sportlerszene mischte. Daraus resultierte der Hintergründe für sein Debütwerk „The Fall Line“ (1994).

Inzwischen hatte Sullivan seinen Journalistenjob gekündigt, war freier Schriftsteller geworden und mit seiner Familie nach Vermont gezogen. Hier und ab 1999 in Montana entstanden weitere Thriller, die Sullivan als Unterhaltungsautor mit einem literarischen Ehrgeiz zeigen, der mehr verspricht als er zu realisieren vermag: Akribisch recherchiert erzählt er rasante aber durchschnittlich geplottete Abenteuergarne mit hohem Wiedererkennungscharakter. Er reichert sie mit breit ausgewalzten, bierernst dargebotenen „human touch“-Problemchen an, die den Leser eher grinsen oder stöhnen lassen, weil sie nur Seifenoper-Format aufweisen. Dem Erfolg tut das freilich (oder selbstverständlich?) keinen Abbruch.

Website

Taschenbuch: 441 Seiten
Originalausgabe: Labyrinth (New York : Pocket Books/Simon & Schuster, Inc. 2002)
Übersetzung: Sonja Schuhmacher u. Rita Seuß
http://www.fischerverlage.de

eBook: 705 KB
ISBN-13: 978-3-10-402044-0
http://www.fischerverlage.de

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