Mitsuo Ando, Pathologe am Gerichtsmedizinischen Institut der Präfektur Tokio, ist ein gebrochener Mann. Vor fünfzehn Monaten war er im Urlaub unachtsam; sein dreijähriger Sohn Takamori ist durch seine Schuld im Meer ertrunken. Die Gattin gab ihm die Schuld, die Ehe ist zerbrochen.
Nur die Arbeit gibt Ando Halt. Er bekommt mehr Ablenkung als ihm lieb ist, als auf seinem Seziertisch ausgerechnet ein Kollege, Studienkollege und Freund landet: Ryuji Takahama, genialer Mediziner, Mathematiker und Philosoph wurde von seiner jungen Lebensgefährtin Mai Takano tot in der Wohnung aufgefunden – gestorben offenbar an einem Herzinfarkt.
Die Obduktion bestätigt diese Vermutung. Damit wäre der Fall erledigt, gäbe es da nicht den seltsamen Zettel, den Ando in der Bauchhöhle Takahamas findet. Darauf steht eine Zahlenkombination: 178 136 – ein Code, den der Pathologe zu entschlüsseln weiß: Die Folge steht für das Wort „Ring“.
Ando wird abgelenkt, als ein Kollege Takahamas wahre Todesursache erkennt: Der Gelehrte starb wie vom Blitz getroffen an einem Virus, das den Herzmuskel befällt. Breitet sich da etwa eine Seuche heimlich aus? Ando stellt Nachforschungen an und entdeckt, dass weitere Menschen dem Virus zum Opfer fielen. Wie haben sie sich angesteckt? Die einzige Gemeinsamkeit scheint ein Videoband zu sein, das sich die Verstorbenen vor ihrem Ende angeschaut haben.
Mai Takano könnte dies bestätigen; sie hat eine Kopie des Videos in Takahamas Nachlass gefunden und angeschaut. Seither ist sie spurlos verschwunden. Des Rätsels Lösung kennt nun womöglich nur noch ein Mensch: der Journalist Asakawa Kazuyuki, der in Sachen „Ring“ ermittelt hatte. Doch der liegt seit dem mysteriösen Sekundentod seiner Ehefrau und seines Kindes – ein Virus hat sie umgebracht … – im Koma.
Hartnäckig verfolgt Ando die Spur des Videos weiter – und so wird auch er schließlich Teil des perfiden Plans, mit dessen Hilfe sich die vor einem Vierteljahrhundert grausam ermordete, aber ganz und gar nicht tote Mutantin Sadako Yamamura an der ganzen Welt rächen will …
Die Videohexe ist zurück – bösartiger und mordlustiger denn je, wie es sich für eine Fortsetzung gehört. Der Reiz des ganz Neuen ist verflogen, die Geschichte ist bekannt, sie muss nun variiert und mit vordergründigeren Effekten erzählt werden: das bekannte Schicksal von Fortsetzungen, die selten die Qualität des Originals erreichen können.
Das gilt besonders, wenn sich diese ohnehin in Grenzen hält. „Ring“, der Roman aus dem Jahre 1991, ist ein unterhaltsamer aber mittelmäßiger Gruselthriller, der vor allem mit seiner Herkunft punkten kann: Horror aus Japan ist hierzulande nicht gerade alltäglich. Da die „Ring“-Saga inzwischen weltweit zum Kult avanciert ist, werden nun auch die deutschen Fans beglückt; zur angenehmen Abwechslung einmal eine Bereicherung.
Natürlich ruht sich Verfasser Suzuki über allzu lange Passagen auf seinen Lorbeeren aus. In [„Ring“]http://www.powermetal.de/book/anzeigen.php?id__book=170 (Heyne TB Nr. 01/13741) verfolgten wir ausführlich, wie Journalist Kazuyuki und Freund Takahama dem Spuk der Sadako Yamamura auf die Schliche kamen. Nun wird diese Geschichte lässig gerafft und langatmig nacherzählt; sie breitet sich über den gesamten Mittelteil der Handlung aus – für den Leser ein ziemlich starkes Stück, aber für den Verfasser eine angenehme Arbeitserleichterung.
Ansonsten wiederholt sich die Story von Teil 1 zunächst ziemlich deckungsgleich mit den neuen Protagonisten. Bis auch Ando & Freund Miyashita begreifen, wie der untote Hase läuft, werden wir erneut Zeuge ausgiebiger Lauf- und Sucharbeit. Wir kehren zurück an bekannte Orte, treffen bekannte Gestalten wieder. Schließlich haben auch unsere Helden erkannt, was wir längst wissen, und sind Sadako auf die Schliche gekommen.
Nunmehr gibt sich Suzuki echte Mühe, die Story weiter zu entwickeln. Wir erfahren, wie der Fluch funktioniert: Er nutzt das Fernsehen und später andere Informations- und Unterhaltungsmedien als „Trägerwelle“, um seinen Opfern eine üble Krankheit anzuhängen. Angesichts des modernen Freizeitverhaltens ist das ein todsicheres Vorgehen. Unter dramaturgischen Gesichtspunkten kann man Suzuki leider nicht zu seinem Einfall beglückwünschen: Möchten wir wirklich wissen, wie die böse Sadako arbeitet? Das ist recht ernüchternd.
Doch „Ring II – Spiral“ ist deutlich als Gegensatz zum Vorgänger angelegt. „Ring“ war klassischer Rache-Horror und vom Grundton eher philosophisch. Die Fortsetzung ist mehr Wissenschafts-Thriller, in dem sich das Grauen als Science-Fiction tarnt.
Was sich Suzuki dabei ausgedacht hat, ist völlig absurd, eigentlich sogar lächerlich. Der böse Geist verbündet sich mit einem entthronten Virus, um die Welt mit Ihresgleichen zu bevölkern. Suzuki verschlimmert es, indem er lange Passagen einflicht, in denen er mit angelesenem medizinischen Halbwissen ungelenk „nachweisen“ möchte, wie das eingefädelt wird. Selbst der Laie bemerkt den puren Schwachsinn dieser Prämissen; sie sind zudem für die Handlung überflüssig. Noch einmal: Nichts tötet den Horror zuverlässiger als die Erkenntnis. (Immerhin leuchtet ein, dass Suzukis Sadako wesentlich effektiver arbeiten kann als dies der Hollywood-Sadako im Kinofilm von 2002 zugestanden wurde, die für jeden Mord höchstpersönlich als Wasserleiche aus dem Fernseher kriechen musste …)
Fast gibt Suzuki der Story den Rest, als er im letzten Drittel die spukhafte Sadako einen Brief schreiben lässt (!), in dem sie – wieso auch immer – haarklein berichtet, was bisher nur angedeutet wurde – Seiten, die das mysteriöse Dunkel zuverlässiger killen als jeder Fluch.
Die definitive Realitätsferne ist andererseits der Rettungsanker. Kombiniert mit Suzukis Fähigkeit, sein Garn nüchtern und flott zu spinnen (dieses Mal spendierte der Heyne-Verlag sogar eine Übersetzung des japanischen Originals, statt die US-Ausgabe übertragen zu lassen) und dabei durchaus gruselige Szenen zu inszenieren, entstand ein kurzweiliges Spektakel mit unerwartetem, trügerisch glücklichem Finale.
Der merkwürdige deutsche Titel scheint übrigens eine Anspielung auf die Gestalt der (menschlichen) DNS zu sein, deren Elemente sich in Spiralform anordnen. Und da das denglische „Spiral“ in den Ohren haargegelter Werbestrategen attraktiver klingt als das altmodische „Spirale“, müssen wir uns ein paar Gedanken darüber machen, was uns der Titel sagen will. (Eventuell heißt „Rasen“ ebenfalls „Spirale“, aber das muss euer Rezensent, der des Japanischen nicht mächtig ist, unbeantwortet lassen.)
Mitsuo Ando ist wie Asakawa Kazuyuki aus Teil 1 ganz und gar kein heldenhafter Charakter, sondern ein Durchschnittsmensch, der sogar unsympathische Züge trägt. Besonders helle ist er ebenfalls nicht – es wäre ihm sonst womöglich früher aufgefallen, dass tote Freunde normalerweise keine verschlüsselten Warnungen per Leichen-DNS aus dem Jenseits senden. Aber auch das kennen wir aus „Ring“: Für Japaner ist das Übernatürliche offenbar Bestandteil des Alltagslebens und wird nicht groß in Frage gestellt, sondern akzeptiert.
Die ursprünglich wohl nicht geplante Fortsetzung von „Ring“ bedingte einige Brüche in der Figurenzeichnung. Das vermied Suzuki dort, wo er die wenigen Überlebenden aus Teil 1 noch vor Einsetzung von Teil 2 umbrachte oder ins Koma sinken ließ. Auffällig ist jedoch die Verschiebung bei Sadako Yamamura. Sie war zunächst Opfer und wurde aus Rache zur Täterin. Dieser Gedanke lebt fort, wird aber nun mit dem Virus-Plot gekreuzt. Dadurch wird Sadako überflüssig in ihrer eigenen Geschichte. Man merkt es sofort, wenn sie persönlich und neuerdings in Fleisch und Blut auftaucht – auch kein glücklicher Einfall übrigens, denn die wiedergeborene Sadako ist erschreckend gewöhnlich.
Ryuji Takahama ist ein zynischer Schweinehund geblieben. Allerdings hat sich die Dimension seiner Menschenverachtung geändert: Während er sich in „Ring“ die Freizeit damit vertrieb Frauen zu überfallen und zu vergewaltigen (und diese Gruselgeschichten womöglich nur erfand), entpuppt er sich nunmehr als Statthalter des Weltuntergangs – eine mögliche, aber so wie von Suzuki geschildert wenig wahrscheinliche Entwicklung.
Suzuki Kôji = Stephen King aus Japan. So urteilt jedenfalls die Werbung, die stets auf der Suche nach einer Schublade für neue, kommerziell noch unerprobte Talente ist. Ob Kôji im Land der aufgehenden Sonne tatsächlich solchen Ruhm genießt, müssen wir glauben oder nicht. Was wir wissen: Bis 1991 kannten auch die Japaner Kôji nicht. Der 1957 geborene Schriftsteller rackerte da noch redlich um Lohn, Brot und Ruhm; für die ersten beiden musste für einige Jahre seine Ehefrau, eine Lehrerin, sorgen.
Als Absolvent der Keio University in Tokio hatte Kôji 1990 einen (japanischen) „Fantasy Novel Award“ für seinen Roman „Rakuen“ gewonnen, aber erst „Ring“ gab seiner dahindümpelnden Karriere den ersehnten Schub. Aus der Geheimtipp wurde Gruselvolkes Eigentum, als Regisseur Hideo Nakata 1998 den Roman verfilmte. Trotz vieler Veränderungen wurde „Ring“ zum internationalen Erfolg, der selbstverständlich mehrfach fortgesetzt wurde sowie die übliche verwässerte Hollywood-Interpretation erfuhr.
Wen es drängt, sich tiefer in das „Ring“-Universum ziehen zu lassen, sei auf die zahlreichen Websites verwiesen. Eurem Rezensenten gefiel am besten http://ringworld.somrux.com – außerordentlich ausführlich und wunderbar gestaltet. Hier kann man sich wirklich verlieren.
Die „Ring“-Saga von Kôji Suzuki
Ring (1991, dt. „The Ring“ Heyne TB Nr. 01/13741)
Rasen (1995. dt. „Spiral – The Ring II“)
Loop (1998)
The Birthday (1999; Sammlung dreier Kurzgeschichten)
Taschenbuch: 352 Seiten
www.heyne.de