Schaf beobachtet. Schaf kombiniert.
Der Fall George Glenn
George ist tot. Der wunderliche Schäfer aus dem irischen Glennkill liegt eines Tages mit einem Spaten in der Brust auf der Weide. Die Ermittlungen beginnen, und damit beginnt auch ein ganz normaler Krimi.
Sollte man meinen. Ist aber nicht so. Denn in „Glennkill“ spielt eine ganze Schafherde die Hauptrolle. Und die können wahrhaft mehr als nur blöken. Allen voran Miss Maple, das klügste Schaf von Glennkill und vielleicht sogar der ganzen Welt, die sich mit Schafsverstand des Kriminalfalls annimmt.
Fast nebenbei lernen wir sie kennen und lieben, die Schafe, die trotz einiger besonderer Fähigkeiten eigentlich ganz normale Schafe sind.
Mopple the Whale zum Beispiel zeichnet sich nebst seines sonnigen Gemüts und seiner Verfressenheit als Gedächtnisschaf der Herde aus. Er kann sich jedes Detail merken und vergisst nichts, was natürlich bei der späteren Aufklärung des Falls von Nutzen ist.
Othello, der furchtlose schwarze Widder mit Zirkusvergangenheit, schafft es allein mit seinem düsteren Äußeren, sich bei den Menschen Respekt zu verschaffen. In Wirklichkeit ist er ein echter Philosoph auf vier Beinen.
Und dann wäre da noch Sir Ritchfield, der in die Jahre gekommene Leitwidder, dessen Zwillingsbruder Melmoth als Lamm verloren gegangen ist und nun auf geheimnisvolle Weise wieder auftaucht, ausgerechnet nach Georges Tod.
Sie alle verstehen zwar die Menschensprache, kennen aber nur ihre Weide und die Welt der Schundromane, die ihnen George auf der Weide vorgelesen hat. Deshalb machen sie sich ihren eigenen Reim auf die merkwürdigen Verschrobenheiten der menschlichen Rasse. Und die Welt durch Schafsaugen betrachtet, ergibt durchaus Sinn.
Nach umfangreichen Recherchen, Lauschposten im Geranienbeet, einem denkwürdigen Kirchbesuch und einer abenteuerlichen Verfolgungsjagd kommen Miss Maple und ihre Herde den Menschen tatsächlich auf die Schliche. Jetzt stellt sich nur noch die Frage, wie sie sich den Menschen verständlich machen sollen …
Leseprobe
„Gestern war er noch gesund“, sagte Maude. Ihre Ohren zuckten nervös.
„Das sagt gar nichts“, entgegnete Sir Ritchfield, der älteste Widder der Herde, „er ist ja nicht an einer Krankheit gestorben. Spaten sind keine Krankheit.“
Der Schäfer lag neben dem Heuschuppen unweit des Feldweges im grünen irischen Gras und rührte sich nicht. Eine einzelne Krähe hatte sich auf seinem wollenen Norwegerpullover niedergelassen und äugte mit professionellem Interesse in sein Innenleben. Neben ihm saß ein sehr zufriedenes Kaninchen. Etwas entfernter, nahe der Steilküste, tagte die Konferenz der Schafe.
Intelligent und witzig
Am Anfang ist das Buch gewöhnungsbedürftig. Immerhin liest man nicht alle Tage ein Buch aus einer so ungewöhnlichen Perspektive. Doch wenn man sich erst mal reingelesen hat in die skurrile Schafswelt, muss man sich einfach verlieben in Georges eigenwillige Schäfchen, die alle ihren ganz eigenen Charakter haben. Das Schöne: Leonie Swann vermenschlicht sie nicht, sondern versucht tatsächlich wie ein Schaf zu denken. Ein bisschen blasphemisch, aber richtig lustig sind die Mutmaßungen der Schafe, Gott sei der Täter, weil sein Name im Zusammenhang mit Georges Tod auffällig oft fällt.
An dieser Stelle sollte ich vielleicht diejenigen warnen, die sich unter einem Krimi grundsätzlich einen richtigen Pageturner vorstellen. Ein solches Buch ist „Glennkill“ nicht. Es gibt einen Kriminalfall, der durchaus bis zum Ende spannend und plausibel bleibt, aber eigentlich ist die Geschichte nur reizvoll, wenn man nicht bloß den Krimi lesen möchte, sondern auch die phantasievolle, zärtliche, lustige Geschichte dahinter.
Wir werden mitgenommen auf eine Reise in die Welt der Schafe. Das Ganze gelingt so überzeugend, dass ich vermutlich bei meinem nächsten Besuch an der Nordseeküste nachschauen werde, ob die Schafe auf dem Deich nicht gerade zufällig für ein Theaterstück proben …
Schafe und wie sie die Welt sehen – das hat von Zeit zu Zeit etwas geradezu Philosophisches.
Die meiste Zeit aber fühlt man sich schlichtweg bestens unterhalten von den Schafen und ihrem scharfen gesunden Schafsverstand. Manche Szenen sind so komisch, dass ich sie am liebsten ausführlich schildern möchte, doch genau diese Situationskomik macht die Lektüre zu einem solchen Vergnügen.
Der Schreibstil erinnert mal an Fred Vargas, mal an Karen Duve, meistens aber hat die Autorin einen ganz eigenen Ton. Ich denke, dass man einen leichten Hang zum Skurrilen braucht, um an dem Schafskrimi Spaß zu haben.
Dabei ist „Glennkill“ keine hohe Literatur, sondern einfach einer dieser ganz seltenen Fälle von intelligenter und zugleich witziger Unterhaltungslektüre.
Die Autorin
Auch wenn es nicht so klingt: Leonie Swann ist eine junge deutsche Autorin. „Glennkill“ ist ihr Debüt. Nach eigener Aussage entstand die Grundidee während eines Irland-Urlaubs.
Sie sagt über ihr Buch: „Während ich schrieb, habe ich versucht, die Welt aus der Perspektive der Schafe zu sehen: Was bereitet ihnen Unbehagen? Worüber freuen sie sich? Wo sind die Grenzen ihres Verständnisvermögens?“
Wie schon erwähnt, dieses Unterfangen gelingt, oder besser: Es wirkt glaubhaft. Denn was Schafe wirklich denken, wird uns wohl ewig verborgen bleiben.
Wer weiß, vielleicht gibt es ja mal eine Fortsetzung. Denn das Buch endet mit der Option auf eine Europareise. Wird Miss Maple ihren nächsten Kriminalfall auf dem norddeutschen Festland lösen? Oder irgendwo in Frankreich? Wir werden sehen …
Statt Schäfchen zählen: Schafskrimi lesen! Und wer an die Küste fährt, wo Schafe weiden, sollte dieses Buch als Urlaubslektüre dabeihaben. Man sieht die Schafe wirklich mit ganz anderen Augen … und amüsiert sich prächtig. Ein Feel-Good-Buch mit Niveau.
Hardcover: 384 Seiten
www.randomhouse.de/Verlag/Goldmann