_Die Schattenlinie der Liebe und der Bücherwelt_
Ein Universitätsdozent erhält eines Tages ein altes Exemplar von Joseph Conrads Roman „Die Schattenlinie“. Doch es kommt eigentlich zu spät, denn die Adressatin, eine Literaturdozentin und -liebhaberin, ist kürzlich verstorben. Bei dem Versuch, den Absender kennen zu lernen und ihm das Buch zurückzugeben, stößt er auf ein tragisches Schicksal.
_Der Autor_
Carlos María Domínguez wurde 1955 in Buenos Aires, Argentinien, geboren und lebt seit 1989 in Montevideo, Uruguay. Hier arbeitet er als Schriftsteller, Journalist und Literaturkritiker. Sein Werk umfasst drei Romane, Biografien, ein Theaterstück und natürlich viele Reportagen, von denen einige als Buch veröffentlicht wurden. Seine Erzählung „Das Papierhaus“ wurde 2001 in Uruguay mit dem Premio Lolita Rubial ausgezeichnet und ist das erste auf deutsch erschienene Buch des Autors.
_Der Sprecher_
Jürgen Tarrach erhielt seine Schauspielausbildung am Max-Reinhardt-Seminar in Wien und stand seit Mitte der neunziger Jahre in zahlreichen großen Rollen auf der Bühne. Zu seinen Filmerfolgen zählen „Die Musterknaben“, neben Oliver Korittke, und – zusammen mit Dietmar Bär – „Durch dick und dünn“ sowie diverse Rollen in Film und Fernsehen. (Verlagsinfo) Tarrach liest die ungekürzte Fasssung. Regie führte Torsten Feuerstein.
_Handlung_
Bluma Lennon ist Literaturdozentin an der Uni Cambridge und begeistert sich leidenschaftlich für Bücher. Doch genau diese Leidenschaft wird ihr zum Verhängnis, wie sich leider erweist.
Kurz nachdem sie in einer Buchhandlung eine alte Ausgabe der „Gedichte“ von Emily Dickinson (USA, 19. Jahrhundert) erstanden hat und gerade in das zweite dieser Kunstwerke vertieft ist, wird sie von einem Auto überfahren.
Ein argentinischer Kollege, dessen Namen wir nie erfahren, tritt ihre Nachfolge an der Uni an und erhält kurz nach ihrem Tod ein an sie adressiertes Päckchen aus Uruguay mit kuriosem Inhalt: Es handelt sich um ein altes, zerlesenes Exemplar von Joseph Conrads (Polen, 19. Jahrhundert) Roman „Die Schattenlinie“. An Buchdeckeln und -rücken klebt eine Zementkruste – interessant. Kein Schreiben begleitet das Buch, nur eine Widmung Blumas gibt Aufschluss über den Absender des Päckchens: „Für Carlos als Andenken an die verrückten Tage in Monterrey“.
Diese Widmung wurde vor zwei Jahren auf einem Literaturkongress in Monterrey geschrieben, vermutlich für einen ihrer Liebhaber, mutmaßt Blumas Kollege. Doch viele ungeklärte Fragen bleiben: Warum kehrt das Buch verdreckt zwei Jahre später nach Cambridge zurück? Wo war es in der Zwischenzeit? Sollte Bluma etwas an den Zementresten ablesen? Hat da jemand ein Haus gebaut?
Man muss dem Rätsel auf den Grund gehen, so viel ist klar, doch es lässt sich nicht in Cambridge lösen. Auf den Spuren des Absenders begibt sich unser Literaturdozent schließlich von Neugier getrieben auf eine Reise um die halbe Welt. Zuerst in seine argentinische Heimat, dann ins urugayische Montevideo. Dort kennen sich die Büchersammler und -händler, weil sie sich gegenseitig bei Nachlassversteigerungen ausstechen.
Vom Antiquar de Narli hört unser Erzähler erstmals von Carlos Brauer, jedoch mit einer Art Grauen. Der Sucher wird weitergeschickt zu Delgado, der Carlos Brauer die längste Zeit kannte. Carlos hatte rund 20.000 Bücher, doch wo sind sie jetzt? Nach einem Brand in seiner Wohnung, bei dem er den Katalog zu seiner Bibliothek einbüßte, zog Carlos mitsamt seinen Büchern an die Küste.
Schließlich stößt der Sucher auf das titelgebende Papierhaus und die Geschichte eines Mannes mit einer außergewöhnlichen Liebe zu Büchern. Diese Liebe hat ihn seine Existenz gekostet.
_Mein Eindruck_
Jedes Buch hat sein eigenes Schicksal, aber jeder Leser, Sammler, Händler von Büchern ebenso. Die Rede ist hier nicht vom „Trend zum Zweitbuch“, sondern von richtig großen Privatbibliotheken. Sie sind so umfangreich, dass sie einen Faktor im Leben darstellen. Die Bücher belegen die komplette Wohnung und werden zu einem Gesundheitsrisiko oder einer potentiellen Brandquelle.
Sie besiedeln nicht nur den physischen Lebensraum, sondern auch die Innenwelt. Das führt mitunter zu recht kuriosen Verwaltungsmethoden. Nach welchem Prinzip soll eine Bibliothek sortiert und katalogisiert werden? Daran scheiden sich die Geister. Carlos Brauers Prinzip war a) die thematische Zuordnung und b) die Berücksichtigung von Dichterfeindschaften. Dazu gehört natürlich eine Menge Hintergrund- und Szenewissen. Er war quasi ein Insider der lateinamerikanischen Literaturszene. Doch wie soll er sich an die Ordnungsprinzipien erinnern, sobald seine Kartei verbrannt war? Plötzlich hat er keinen Zugang mehr zur alten Ordnung. Alles ändert sich.
Die Liebe einer Nacht mit Bluma Lennon hat als Unterpfand jenes Buch „Die Schattenlinie“ hervorgebracht. Und als Bluma starb, wurde dieses Unterpfand zu einem Bumerang, der das Leben der anderen Hälfte des Liebespaars ebenso aus der Bahn warf. Unser Erzähler lernt Carlos nie persönlich kennen, als sei Carlos jenseits der Schattenlinie verschwunden. Vielmehr erhält er mehrere Berichte über ihn und sein verrücktes „Papierhaus“, das Strandhaus, das er aus den Büchern seiner Bibliothek mauern ließ. Plötzlich hatte die Metapher, dass ein eifriger Leser in seiner Bibliothek lebe, Gestalt angenommen. Aber als Bluma ihr Buch zurückforderte, bedeutete dies das Ende dieses Hauses …
Der Autor erweist sich als umfassender und intimer Kenner der Welt-Literatur, nicht nur jener Lateinamerikas. Und er kennt die Leser, Sammler, Jäger und Händler, die sich dem Buch gewidmet haben. Dieses Kulturprodukt erweist sich nicht immer nur als Kulturträger, sondern auch als Gefahr für seine Besitzer – so etwa unter der argentinischen Militärdiktatur, als viele Leute ihre potenziell gefährlichen Bücher verbrannten, versteckten und vergruben.
Gefährlich erweist sich das uralte Kulturprodukt auch, wenn die Liebe seine Wege kreuzt, wie in dem Fall von Bluma Lennon und Carlos Brauer. Bücher brachten sie zusammen und eines verband sie, Bluma starb lesend, Carlos ging in seinen Büchern unter.
Das Buch hat nicht nur eine tragische Handlung, sondern beschreibt auch fast den gesamten Kosmos des Erlebens, den die Bücherfreunde erfahren. Insofern ist die Geschichte von höchstem Interesse für jeden passionierten Leser. Carlos Brauers Methode, sein Haus aus Büchern zu erbauen, hält sozusagen die Apokalypse bereit: den Inhalt und ideellen Wert völlig zu ignorieren und ein Buch ausschließlich als physischen Gegenstand, wie einen x-beliebigen Backstein, zu behandeln. Für Bibliophile gibt es keinen größeren Horror.
|Der Sprecher|
Jürgen Tarrach erweist sich als überaus kompetenter Sprecher des Textes. Zwischen jedem Kapitel macht er eine deutliche Pause, so dass der Hörer nie im Zweifel ist, wo die eine Szene aufhört und die nächste anfängt. Tarrachs Vortrag selbst lässt auch nichts an Verständlichkeit zu wünschen übrig. Und er begeht auch selten den Fehler, zu viel Emotionalität hineinzulegen. Seine Fähigkeit, alle spanischen, französischen und die meisten der englischen Autorennamen korrekt auszusprechen, ist zu bewundern. Die einzige Ausnahme, die ich registrieren konnte, ist der Name des Iren William Butler Yeats. Aber für irische Namen gelten sowieso andere Regeln.
|Das Booklet|
Als informativ und hilfreich erweist sich das achtseitige Booklet. Hier findet man nicht bloß Werbung und eine Leseprobe, sondern auch akkurate Informationen über den Autor, den Sprecher, die CD-Tracks und schließlich sogar eine Landkarte. Auf dieser ist der Reiseweg unseres Berichterstatters eingetragen, ja sogar seine Fortbewegungsmittel Flugzeug, Schiff (aliscafo) und Bus und Taxi. Der Weg führt ihn zu Carlos‘ letztem Domizil an der Laguna von Rocha. Und die Weltkarte verdeutlicht unübersehbar, über welche Distanzen hinweg ein Buch drei Menschen verbinden kann.
_Unterm Strich_
„Das Papierhaus“ hält für jeden begeisterten Leser und Bücherfreund eine Fundgrube von Erlebnissen, Ansichten und Einstellungen bereit, die Aufschluss darüber gibt, wie es Schicksalsgenosssen ergehen kann. So mancher wird sich darin wiedererkennen. Das Buch erweist sich als der Liebe Unterpfand, doch kann es auch eine Gefahrenquelle sein.
Die tragisch-ironische Geschichte der Liebe zwischen Carlos Brauer und Bluma Lennon belegt, welches Schicksal Bücher bedeuten können, aber sie führt den kenntnisreichen Erzähler auch in den Kosmos der Literatur und der Bücher, als gerate er in eine Unterwelt, in der Auguren Wahrheiten bereithalten. Wie weiland Odysseus irrt er auf der Spur von Carlos Brauer von einem Ratgeber zum nächsten, nur um auf den ultimativen Horror zu stoßen: die Apokalypse der Bücher – das Papierhaus.
Und nach diesem traumatischen Erlebnis, nach der Rückkehr aus der Unterwelt, ist seine Einstellung zu den Büchern nie mehr die gleiche. Als wäre „Die Schattenlinie“ überschritten worden, von der Joseph Conrad in seinem Reiseroman erzählt. Die Schattenlinie ist jene reale Grenze auf dem Globus, wo sich der Tag von der Nacht scheidet. Sie wird in Wissenschaftskreisen auch als „Terminator“ bezeichnet … Und wer wissen will, wo das schicksalsträchtige Buch seine letzte Ruhe findet, muss die Geschichte selbst lesen oder hören.
Jürgen Tarrach liest die Geschichte in diesem Hörbuch ungekürzt vor, und es gibt durchaus schlechtere Methoden, sich dieses Buch anzueignen. Ich habe seinem Vortrag gerne zugehört, und da die Story nicht lang ist und kaum Personal aufweist, brauchte ich nicht einmal Notizen zu machen. Wer kann, sollte die Geschichte mehrmals hören. Dann geben sich die ironischen Aspekte der Story zu erkennen. Denn natürlich enthält auch sie eine Schattenlinie.
|Originaltitel: La casa de papel, 2004
Aus dem Spanischen von Elisabeth Müller
120 Minuten auf 2 CDs|