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Thomas Morus – Utopia (Lesung)

Das Modell Utopia – Satire oder ernst gemeint?

Wohlstand und leichte Arbeit für alle, ein Liebesleben ohne Konflikte und Kultur von Kindesbeinen an – so muss sie aussehen, die beste aller möglichen Welten. Der von Thomas Morus 1516 erdachte seefahrende Philosoph Raphael Hythlodaeus hat die Insel Utopia ausfindig gemacht, diesen besonderen Hort der Harmonie. Zu einer Zeit, in der Morus’ Zeitgenossen von Krieg und Armut bedrängt waren, entstand ein neues Kapitel der Literaturgeschichte – diese blumige, aber auch oft satirische Reiseschilderung einer fremden Welt. (Verlagsinfo)

Der Autor

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Lovecraft, H. P. / Orchester der Schatten – Wälder der Finsternis (Der Ruf des Dämon 2) [inszenierte Lesung

Stimmungsvoll: von Kannibalen und Außerirdischen

„Der Ruf des Dämon 2“: Auch in der zweiten Produktion des ‚Orchesters‘ werden Texte von HPL präsentiert, jedoch melden sich hier weder Cthulhu noch andere Persönlichkeiten aus seinem Kosmos des Grauens zu Wort, auch das Necronomicon bleibt dieses eine Mal verschlossen. Das Grauen erscheint vielmehr als Monstrum in Menschengestalt bzw. in Form einer mitleidslosen wie unpersönlichen Macht aus dem All, die es nicht nötig hat, sich einen Namen zu geben, und dadurch umso beängstigender wirkt.

INHALT

– Das Bild im Haus (gesprochen von Torsten Sense);
– Astrophobos / The Messenger / The House (poems; gesprochen von Simon Newby);
– Die Farbe aus dem All (gesprochen von Simon Jäger)

[Rezension zum ersten Teil 1823

Der Autor

Howard Phillips Lovecraft, 1890-1937, hatte ein Leben voller Rätsel. Zu Lebzeiten wurde er als Schriftsteller völlig verkannt. Erst Jahre nach seinem Tod entwickelte er sich zu einem der größten Horror-Autoren. Unzählige Schriftsteller und Filmemacher haben sich von ihm inspirieren lassen.

Howard Phillips Lovecraft wurde am 20. August 1890 in Providence, Rhode Island, geboren. Als Howard acht Jahre alt war, starb sein Vater und Howard wurde von seiner Mutter, seinen zwei Tanten und seinem Großvater großgezogen. Nach dem Tod des Großvaters 1904 musste die Familie wegen finanzieller Schwierigkeiten ihr viktorianisches Heim aufgeben. Lovecrafts Mutter starb am 24. Mai 1921 nach einem Nervenzusammenbruch. Am 3. März 1924 heiratete Lovecraft die sieben Jahre ältere Sonia Haft Greene und zog nach Brooklyn, New York City. 1929 wurde die Ehe, auch wegen der Nichtakzeptanz Sonias durch Howards Tanten, geschieden. Am 10. März 1937 wurde Lovecraft ins Jane Brown Memorial Krankenhaus eingeliefert, wo er fünf Tage später starb. Am 18. März 1937 wurde er im Familiengrab der Phillips beigesetzt. Nach seinem Tod entwickelte er sich bemerkenswerterweise zu einem der größten Autoren von Horrorgeschichten in den USA und dem Rest der Welt. Sein Stil ist unvergleichlich und fand viele Nachahmer. (abgewandelte Verlagsinfo)

Aber Lovecrafts Grauen reicht weit über die Vorstellung von Hölle hinaus: Das Universum selbst ist eine Hölle, die den Menschen, dessen Gott schon lange tot ist, zu verschlingen droht. Auch keine Liebe rettet ihn, denn Frauen kommen in Lovecrafts Geschichten praktisch nur in ihrer biologischen Funktion vor, nicht aber als liebespendende Wesen oder gar als Akteure. Daher ist der (männliche) Mensch völlig schutzlos dem Hass der Großen Alten ausgeliefert, die ihre Welt, die sie einst besaßen, wiederhaben wollen. Das versteht Lovecraft unter „kosmischem Grauen“. Die Welt ist kein gemütlicher Ort – und Einsteins Relativitätstheorie hat sie mit in diesen Zustand versetzt: Newtons Gott ist tot, die Evolution eine blinde Macht, und Erde und Sonne sind nur Staubkörnchen in einem schwarzen Ozean aus Unendlichkeit. Auf Einstein verweist HPL ausdrücklich in seinem Kurzroman [„Der Flüsterer im Dunkeln“. 1961

Kurz und bündig mehr über Lovecraft: http://www.orchesterderschatten.de/autor.htm

Die Sprecher/Die Musiker

Simon Jäger, geboren 1972 in Berlin. Seit 1982 arbeitet er als Synchronsprecher bei Film und TV. Er lieh u. a. Josh Hartnett, James Duvall, Balthazar Getty und River Phoenix seine Stimme, aber auch „Grisu der kleine Drache“, und war auch in TV-Serien wie „Waltons“ oder „Emergency Room“ zu hören. Seit 1998 arbeitet er zudem als Autor und Dialogregisseur. (Homepage-Info)

Simon Newby, geboren 1961 in Long Eaton, England, studierte an der Guildhall School of Music & Drama (Bachelor-Abschluss in Dramatic Arts). Seit 1990 erledigte er zahlreiche Regiearbeiten an verschiedenen Bühnen Berlins, war als Voice-Over- und Synchronsprecher sowie als Dialog-Coach tätig, seine Hobbys sind Trompetespielen und Tauchen. Zu seinen Sprachkenntnissen zählt er: „Englisch (Britisch und Amerikanisch), Deutsch (perfekt)“.

Torsten Sense, Sprecher, ist Schauspieler und Komponist für moderne Kammermusik, Musiktheater und Filmmusik. Von 1972 bis 1990 spielte er an diversen Theatern, darüber hinaus lieh er als Synchronsprecher Val Kilmer in „The Doors“ und „Batman Forever“ sowie Kyle McLachlan in „Twin Peaks“ seine Stimme.

Das „Orchester der Schatten“:

„Das Orchester der Schatten präsentiert klassische Geschichten von Kultautoren wie H. P. Lovecraft und E. A. Poe, die mit ihren bizarren Welten des Grauens schon Generationen von Lesern begeistert haben. Ohne vordergründige Effekte wird von Mythen, fremden Mächten oder einfach von dem Horror erzählt, der sich in der menschlichen Seele verbirgt. Begleitet werden die Erzählungen vom Orchester der Schatten, dessen Live-‚Filmmusik‘ komponierte Scores, Klangeffekte und improvisierte Elemente vereint.“ (Homepage-Info)

Matthias Manzke:
*4.10.1971; Jazzstudium an der HdK Berlin sowie an der New School New York; Unterricht u. a. bei David Friedman, Peter Weniger, Richie Beirach, und Jane-Ira Bloom; Rumänien-Tournee 1997; Teilnahme am Jazzfestival Hradec Kralove, Engagements bei Theater- und Filmproduktionen; CD-Aufnahmen mit der Berliner Big Band JayJayBeCe (BIT-Verlag 1997), mit dem Sänger Robert Metcalf (Dt. Grammophon 1998) sowie mit dem FRAW FRAW Saxophon4tett (2002); zzt. regelmäßige Konzerttäigkeit mit dem FRAW FRAW Saxophonquartett in ganz Deutschland und mit Projekten im Berliner Planetarium am Insulaner

Stephan Wolff:
1956 in Berlin geboren; Jurastudium; Dirigierstudium, Kompositions-Unterricht bei N. Badinski; Tätig als Komponist, Dirigent, Keyboarder; seit 1994 Lehrtätigkeit an der Leo-Borchard-Musikschule; Stilübergreifende Kompositionen zwischen Klassik, Jazz und Pop. Produktion und Mitgestaltung diverser Live-Elektronik-Projekte, u. a. „Dialogues“ (1998), „Losing One’s Head“ (1999), Filmmusiken, Bühnenmusiken, Traumspiel-Oper „Abaddon“ (1998/2001); Zahlreiche Songs und Lieder, auch für Kinder, z. B. „Erdenklang & Sternenbilder“ (1996), „Songs aus dem All“ (2000/2001), „Cool & Cosi“ (2000)

Torsten Sense:
Komponist für moderne Kammermusik, Musiktheater und Filmmusik sowie Schauspieler. Er veröffentlichte vier Musiktheaterstücke, vier Orchesterwerke, 24 Kammermusikstücke, zwei Orgelwerke, 13 Bühnenmusiken sowie ca. 60 Film- und Fernsehmusiken. Er wirkte an unzähligen Synchronisationen mit, so lieh er beispielsweise Val Kilmer in „Doors“ seine Stimme und Kyle McLachlan in „Twin Peaks“.

Und andere. Mehr Info: http://www.orchesterderschatten.de.

Handlung von „Das Bild im Haus“ (gesprochen von Torsten Sense)

Ein junger Archäologe interessiert sich für die unheimlichen einsamen Gehöfte, die in Neu-England verlassen und überwuchert vor sich hin schlummern. Doch sie bergen das Grauen und das Groteske. Und ihre Fenster blicken wie Augen auf den ahnungslosen Besucher, sie erinnern sich an Unaussprechliches …

Es ist November 1896, als der junge Ich-Erzähler Zuflucht vor einem Wolkenbruch sucht. Er ist durch das Miskatonic Valley nahe Arkham (= Salem/Massachusetts) geradelt. Ein Haus unter Ulmen bietet ihm Obdach, niemand antwortet auf seine Rufe, die Tür ist offen, und der Besucher tritt in eine andere Zeit.

Zuerst fällt ihm ein widerlicher Geruch auf. Sie entsteigt dem Inventar, das offenbar aus der Zeit vor 1776 stammt, als der amerikanische Unabhängigkeitskrieg ausbrach. Auf dem Tisch fällt ihm ein aufgeschlagenes Buch aus dem 16. Jahrhundert auf, das den Titel „Beschreibung des Kongo“ trägt und auf der Tafel 12 aufgeschlagen ist. Es zeigt den Metzgerladen von Menschenfressern auf drastische Weise. Daneben steht ein Buch von Cotton Mather, der puritanischen Hauptfigur der Hexenprozesse von Salem.

Da hört er Schritte, die von oben kommen. Es ist ein alter, weißbärtiger Mann, doch erscheint er überraschend stämmig und kräftig, seine blauen Augen blicken wach, wenn auch ein wenig blutunterlaufen. Nur will sein lumpenartiges Äußeres gar nicht dazu passen. Der Besucher ist abgestoßen und verspürt Beklommenheit. Der Alte bietet höflich einen Stuhl an und erwähnt, es würden keine Postkutschen mehr von Arkham kommen und der Bezirkslehrer sei seit anno ’84 verschwunden. Er setzt eine alte Brille mit achteckigen Gläsern auf. Dann bittet er seinen Besucher, aus dem „Regnum Congo“, das in Latein geschrieben ist, zu übersetzen.

Seine freundliche Geschwätzigkeit vermag das gierige Glitzern in den Augen kaum zu verbergen, mit dem er seinen Gast belauert. Während des folgenden bizarren Gesprächs wächst in unserem jungen Besucher nicht nur der Ekel vor den sonderbaren Ausführungen seines Gastgebers, sondern auch die Gewissheit, dass der Alte ein böses Spiel mit ihm treibt und sein Opfer bereits in der Falle weiß …

Mein Eindruck

Diese frühe Erzählung aus dem Jahr 1920 wird selten abgedruckt, denn sie rührt an ein Tabu, das sehr unappetitlich ist: Kannibalismus. Der Alte verschlingt seine ahnungslosen Opfer, nach dem Vorbild der Bewohner des Kongo. Degeneration – ein häufig wiederkehrendes Motiv in Lovecrafts Erzählungen. Degeneration nicht so sehr im körperlichen Sinne (der Alte ist unnatürlich kräftig und gesund), sondern vielmehr im moralischen. Die Grenze zwischen Tier und Mensch existiert für den Alten nicht mehr.

Eingebettet in das Bild vom Haus des Menschenfressers ist die Warnung vor der unheiligen Vergangenheit Neu-Englands – der Verweis auf Cotton Mather spricht für den Eingeweihten Bände. Lovecraft entführt den Leser bzw. Hörer in diese andere Zeit, um ihn mit schaurigen Phänomenen zu konfrontieren und davor zu warnen.

Archäologen sind in dieser Phase seine bevorzugten Protagonisten – beispielsweise in „Der Hund“ in „Ruf des Dämon 1“, aber auch in vielen weiteren Erzählungen. Sie begegnen schrecklichen verbotenen Geheimnissen, denen ihr säkularisierter Verstand, der Gott entsagt hat, nichts entgegenzusetzen hat. Anfällig für alle Arten von „unheiligen“, blasphemischen und sonstigen Dingen, leisten sie auch selten Gegenwehr gegen die Großen Alten, von denen in der nächsten Geschichte die Rede sein soll.


Handlung von „Die Farbe aus dem All“ (gesprochen von Simon Jäger)

Es gibt eine Gegend am Miskatonic westlich von Arkham, wo die Berge steil emporsteigen, die man die „Verfluchte Heide“ nennt. Die früheren Bewohner sind fortgezogen, und Fremde werden hier nicht heimisch, weil schlechte Träume sie heimsuchen. Nur der alte Ammi Pierce, der unweit Arkhams lebt, spricht über das, was hier einst blühte und gedieh, an der alten Straße, wo die Farm von Nahum Gardner lag. Die neue Straße macht einen großen Bogen nach Süden um dieses Gebiet herum.

Möge der geplante Stausee bald die verfluchte Heide bedecken und die seltsam unnatürlichen Farben auslöschen, in denen sie funkelt. Aber ob man vom Wasser dieses Sees trinken sollte, fragt sich der Landvermesser, der diese Gegend zuerst besucht hat. Die Heide mit ihrem stinkenden Moder, den verkrüppelten Bäumen und dem verdorrten Gras breitet sich jedes Jahr weiter aus.

Folgendes erfuhr er von Ammi Pierce, dem besten Freund der Familie Gardner: Dort, wo einst die florierende Farm von Nahum Gardner stand, umgeben von fruchtbarem Weideland und Obstanbau, existiert nur noch toter Staub, der das Sonnenlicht in merkwürdigen, unirdischen Farben reflektiert.

Alles begann, nachdem 1882 der Meteorit sich in der Nähe von Nahums Brunnen in die Erde gegraben hatte. Ammi ist überzeugt: Eine fremde Macht aus dem All versank in der Erde, kurz darauf setzten rätselhafte Veränderungen bei Tieren und Pflanzen ein. Die Natur schien aus dem Gleichgewicht, die armen Menschen – zuerst Mrs Gardner – wurden von einem Wahnsinn ergriffen oder verschwanden spurlos, und alle Dinge weit und breit begannen, in unbeschreiblichen, widerwärtigen Farben zu leuchten – bis heute …

Mein Eindruck

Dies ist eine der besten Geschichten des Meisters aus Providence. Sie besticht den Leser bzw. Hörer durch ihre reportagehafte Genauigkeit, die Kühlheit ihrer genauen Beschreibungen, die trotz des horriblen Inhalts dennoch von der Vernunft gesteuert werden, als habe Edgar Allan Poe selbst die Feder des Schreibers geführt. Auch die „Einheit der Wirkung“, eine zentrale Forderung Poes von der Kurzgeschichte, ist vollständig und vorbildlich erfüllt.

Diese Geschichte steigert sich in Stufen und mit Verschnaufpausen bis zu einem solch phantasmagorischen Moment kosmischen Schreckens, dass es ein Wunder wäre, wenn der Leser bzw. Hörer nicht davon ergriffen würde. Zuerst zeigen sich nur leise Andeutungen, die sich zunehmend verdichten, je schwerer die Beeinträchtigung von Nahum Gardners Farm wird. Ammi Pierce ruft auch Wissenschaftler der Miskatonic Universität herbei, die aber auch nicht allzu viel ausrichten können. Sie finden allerdings Kugeln in einer unirdischen Farbe, und es ist anzunehmen, dass diese Substanzen ihren Weg in den Brunnen und somit ins Trinkwasser der Gardners finden.

Schon bald ändert sich der Geisteszustand von Mrs Gardner. Ihr Mann sperrt sie auf den Dachboden, ihr folgen ihre drei Söhne. Das menschliche Drama nimmt seinen Lauf, bis selbst der Alte vom Wahnsinn ergriffen wird. Erst als Ammie Pierce Nachbarn und besorgte Bürger mobilisiert, um nach ihm zu sehen, erreicht der Horror seinen Höhepunkt. Sie blicken aus dem Farmhaus hinaus auf eine Vision der Hölle. Denn nun wächst das Grauen um eine weitere Dimension: das Grauen wird kosmisch. Es kommt von den Sternen und es kehrt zu den Sternen zurück, allerdings nicht ohne ein sinistres Erbe zu hinterlassen: die sich ausbreitende „verfluchte Heide“.

Diese Heide birgt etwas, das nicht nur physisch existiert, sondern auch die Träume des Heidebesuchers heimsucht. Wie schon Nahum Gardner sagte: „Es zieht einen an, man kommt nicht weg.“ Und deswegen blieb er auf seiner Farm bis zum bitteren Ende, ähnlich wie Ammi Pierce. Und ob der Landvermesser je davon loskommt, darf mit Fug und Recht bezweifelt werden.

Die Gedichte (gesprochen von Simon Newby)

Astrophobos

Das lyrische Ich beobachtet einen golden scheinenden Stern in der Nähe des Polarsterns und fabuliert von Schönheit, Heiterkeit, ja von himmlischer Herrlichkeit. Doch die Schönheit stellt sich als Trugbild heraus, als sich ein roter Schein darüber legt. Aus Hoffnung wird Hohn, aus Schönheit ein Zerrbild und aus Vergnügen Wahnsinn. Der Stern mag verschwinden, doch der Horror bleibt „forevermore“.

Das Gedicht hat in seiner gedanklichen und bildlichen Abfolge starke Ähnlichkeit mit Poes Gedicht „The Haunted Palace“, das in der Erzählung [„Der Untergang des Hauses Usher“ 2347 nachzulesen ist.

Simon Newbys langsamer und gut verständlicher Vortrag erscheint mir sowohl falsch betont als auch falsch intoniert. Der Ton müsste nicht erschreckt klingen, sondern zunächst verzückt und in der zweiten Hälfte verrückt. Über die Aussprache der altertümlichen Wörter bin ich mit ihm als Anglist ebenfalls nicht einer Meinung.

The Messenger (Der Bote)

Dieses Gedicht lässt sich nur als Replik auf einen Journalisten verstehen. Bertrand Kelton Hart lebte fröhlich in Providence, Rhode Island, und arbeitete als Autor einer Kolumne für das Providence Journal, als er entdecken musste, dass das Wohnhaus der Figur Wilcox in HPLs berühmter Story „The Call of Cthulhu“ sein eigenes in Thomas Street Nr. 7 war.

Hart war nicht auf den Kopf gefallen und revanchierte sich in seiner Kolumne mit der Drohung, HPL in dessen Domizil in der Barnes Street einen Geist oder Ghoul auf den Hals zu schicken, der ihn täglich morgens um drei mit dem Rasseln von Ketten wecken sollte.

Im Gedicht ist das lyrische Ich also vorgewarnt, glaubt aber nicht so recht an das Erscheinen des Gespenstes. Er fühlt sich vom Kreuz der Kirche (dem Elder Sign) beschützt. Die Kirchturmuhr schlägt drei, als auf einmal an der Tür ein Klirren und Rasseln von Ketten anhebt …

Simon Newby intoniert das Gedicht melodramatisch, doch ein koketter, zynischer Ton hätte zu der Haltung des Autors wohl besser gepasst.

The House

Gemeint ist das konkrete Haus auf Nr. 135 Benefit Street in Providence, Rhode Island. Dies hat HPL auch zu seiner bekannten und verfilmten Erzählung „The Shunned House“ (Das gemiedene Haus) inspiriert.

Wie so viele Gruselhäuser in der Schauerliteratur ist auch dieses Haus entsprechend ausstaffiert, doch wird es lediglich von außen gezeigt, als wäre es ein bewusstes Wesen von unermesslichem Alter, vor dem man sich fürchten sollte. Die Pointe ist jedoch die Haltung des Betrachters in der vierten Strophe. Ähnlich wie die Hauptfigur in der Story „Der Außenseiter“ wird sich der Betrachter bewusst, dass er schon einmal hier war, und zwar vor ziemlich langer Zeit. Wer oder was ist er?

Mein Eindruck

Diese Gedichte sind keine Balladen von Goethe („Erlkönig“ lässt sich auch als Grusel interpretieren) oder Schiller (der hatte mit „Der Geisterseher“ richtig guten Grusel-Trash geschrieben), sondern (außer in „The Messenger“) eine Art pseudoviktorianische Dekadenzlyrik, wie man sie vielleicht von einem Epigonen Baudelaires oder Poes erwarten könnte. Baudelaire schrieb richtig gute Vampirstorys in seinen Gedichten, die ab 1861 in [„Die Blumen des Bösen“ 553 veröffentlicht wurden.

Furcht vor den kalten und wankelmütigen Sternen gehört ebenso zu HPLs Standardrepertoire wie verfallende, sinistre Häuser und Geister. Die Gedichte bieten dem Kenner nichts Neues. Neu ist jedoch die Tatsache, dass sie erstmals in der Originalsprache auf einem deutschen Medium präsentiert werden, noch dazu von jemandem, der der englischen Sprache sehr gut mächtig ist.

Das Booklet

Das achtseitige Booklet wartet mit umfangreichen, ausreichenden Informationen zu Autor, Orchester, den Machern und mit den Gedichttexten auf. Die zweite Seite listet sämtliche Kapitelüberschriften auf, und das kann bei der langen Erzählung „Die Farbe aus dem All“ recht hilfreich bei der Orientierung sein.

Die Sprecher

Simon Jäger, die deutsche Stimme von Heath Ledger und Josh Hartnett, ist ein sehr fähiger Sprecher für diese gruseligen Texte. Genauso wie sein Kollege Torsten Sense, der „Das Bild im Haus“ liest, lässt er sich jede Menge Zeit, spricht deutlich und kitzelt die unterschwelligen Bedeutungen des Textes hervor. So entsteht ein deutliches Bild der Jahre überspannenden Vorgänge in „Die Farbe aus dem All“.

Ich konnte nur einen Fehler entdecken. Jäger liest „eine Vision von Fuseli“ [sic] statt „eine Vision wie von Füeßli“, denn Lovecraft meint den Schweizer Maler schauriger Motive wie „Der Nachtmahr“, das wohl sein bekanntestes Bild ist (ein dunkler Gnom sitzt auf dem Bauch einer ohnmächtigen, weißgewandeten jungen Frau, und hinterm Vorhang lugt ein weiterer Dämon hervor).

Auch Simon Newby, der in viel größerem Maße als Jäger als Schauspieler tätig gewesen ist, verfügt über eine ausdrucksstarke Stimme, die es ihm erlaubt, auch so schwierige Texte wie die auf alt getrimmten Gedichte HPLs vorzutragen. Über die korrekte Aussprache solcher exotischen Ausdrücke wie „Cacodaemons“ und „ere“ (= bevor) lässt sich wohl streiten.

Die Musik

Da es keinerlei Geräuschkulisse außer ein paar Spezialeffekten (Wind etc.) gibt, beruht die emotionale Wirkung der Akustik einzig und allein auf dem Vortrag des Sprechers und auf der Musik. Die Musik stellt so etwas wie ein experimentelles Novum dar (wie so einiges auf dem Hörbuch). Sie wurde nicht von einem einzelnen Komponisten zwecks Aufführung durch ein Orchester geliefert, sondern wird von einem Musikerkollektiv erstellt und zugleich aufgeführt: dem „Orchester der Schatten“.

In „Ruf des Dämon“ setzten die Komponisten noch jazzbasierte Instrumente und Musikmotive ein. Diese wurden nun durch eine mehr klassische Orchestrierung ersetzt, die dem traditionellen Feeling, das man mit Lovecraft verbindet, mehr entgegenkommt. Besonders gefielen mir die tiefen Bässe, seien sie nun vom Kontrabass, vom Cello oder dem Piano erzeugt. Ihren Gegenpart spielen häufig hohe Geigen, die durch Dissonanzen eine unheimliche Atmosphäre der Beklommenheit erzeugen. Dieses Muster wird zwecks An- und Entspannung variiert. Die Hintergrundmusik wird durch Pausenmusik ergänzt. Insgesamt bildet die Musik eine stilistische Einheit mit dem Inhalt der zwei Erzählungen. Grusel ist garantiert, vielleicht sogar Lovecrafts Markenzeichen: „kosmisches Grauen“.

Unterm Strich

„Der Ruf des Dämon 2: Wälder der Finsternis“ ist als Titel wohl eher eine Missinterpretation, denn weder in „Das Bild im Haus“ noch in „Die Farbe aus dem All“ stehen Wälder im Vordergrund, sondern eher am Rande des Geschehens. Besonders die zweite, sehr lange Erzählung ist ein Meisterstück HPLs, das jeder Fan kennen sollte. Es steht in einer Reihe mit Grundpfeilern des Lovecraftschen Werkes wie „Der Schatten aus der Zeit“ (1934) oder [„Schatten über Innsmouth“ 506 (1936), obwohl es bereits 1927 entstand. Meines Wissens ist dies die erste Veröffentlichung dieser zwei Erzählungen im Hörbuch.

Das Audiobook bietet dem Liebhaber gepflegten Grusels aus dem Hause Lovecraft eine interessante Mischung aus total Traditionellem – die Storys und Gedichte – und innovativ Neuem: die einfühlsame akustische Untermalung durch das „Orchester der Schatten“. Insgesamt also mehr etwas für Spezialisten.

151 Minuten auf 2 CDs
Aus dem US-Englischen übersetzt von Anke Püttmann (Bild im Haus), Matthias Manzke (Farbe aus dem All)

http://www.eichborn-lido.de/ (ohne Gewähr)

Lovecraft, H. P. – Der Ruf des Dämon. Horrorgeschichten (Inszenierte Lesung)

Grusel-Hörbuch: Wahnsinn reitet den Sternenwind

H. P. Lovecrafts bizarre und hintergründige Geschichten „Der Hund“ und „Das Fest“ führen an sehr unterschiedliche Orte im Kosmos des Grauens und tauchen dabei hinab in die Abgründe der Angst. (aus dem Klappentext)

Das Hörbuch bietet eine deutsch-englische Lesung mit Musik vom „Orchester der Schatten“, die eigens hierfür eingespielt wurde.

Der Autor

Howard Phillips Lovecraft (1890-1937) wird allgemein als Vater der modernen Horrorliteratur angesehen. Obwohl er nur etwa 55 Erzählungen schrieb, hat sein zentraler Mythos um die Großen Alten, eine außerirdische Rasse bösartiger Götter, weltweit viele Nachahmer und Fans gefunden, und zwar nicht nur auf Lovecrafts testamentarisch verfügten Wunsch hin.

Aber wie in den Zusatztexten zu „Innsmouth“ zu erfahren war, reicht Lovecrafts Grauen weit über die landläufige Vorstellung von Hölle hinaus: Das Universum selbst ist eine Hölle, die den Menschen, dessen Gott schon lange tot ist, zu verschlingen droht. Auch keine Liebe rettet ihn, denn Frauen kommen in Lovecrafts Geschichten praktisch nur in ihrer biologischen Funktion vor, nicht aber als liebespendende Wesen oder gar als Akteure. Daher ist der (männliche) Mensch völlig schutzlos dem Hass der Großen Alten ausgeliefert, die ihre Welt, die sie einst besaßen, wiederhaben wollen. Das versteht Lovecraft unter „kosmischem Grauen“. Die Welt ist kein gemütlicher Ort – und Einsteins Relativitätstheorie hat sie mit in diesen Zustand versetzt: Newtons Gott ist tot, die Evolution eine blinde Macht, und Erde und Sonne nur Staubkörnchen in einem schwarzen Ozean aus Unendlichkeit.

Kurz und bündig mehr über Lovecraft: http://www.orchesterderschatten.de/autor.htm.

Die Sprecher

Simon Jäger, geboren 1972 in Berlin. Seit 1982 arbeitet er als Synchronsprecher bei Film und TV. Er lieh u. a. Josh Hartnett, James Duvall, Balthazar Getty und River Phoenix seine Stimme, aber auch „Grisu der kleinen Drache“, und war auch in TV-Serien wie „Waltons“ oder „Emergency Room“ zu hören. Seit 1998 arbeitet er zudem als Autor und Dialogregisseur. (Homepage-Info)

Simon Newby, geboren 1961 in Long Eaton, England, studierte an der Guildhall School of Music & Drama (Bachelor-Abschluss in Dramatic Arts). Seit 1990 erledigte er zahlreiche Regiearbeiten an verschiedenen Bühnen Berlins, war als Voice-over- und Synchronsprecher sowie als Dialog-Coach tätig, seine Hobbys sind Trompetespielen und Tauchen. Zu seinen Sprachkenntnissen zählt er: „Englisch (Britisch und Amerikanisch), Deutsch (perfekt)“.

Die Musik: Das „Orchester der Schatten“

„Das Orchester der Schatten präsentiert klassische Geschichten von Kultautoren wie H. P. Lovecraft und E. A. Poe, die mit ihren bizarren Welten des Grauens schon Generationen von Lesern begeistert haben. Ohne vordergründige Effekte wird von Mythen, fremden Mächten oder einfach von dem Horror erzählt, der sich in der menschlichen Seele verbirgt. Begleitet werden die Erzählungen vom Orchester der Schatten, dessen Live-„Filmmusik“ komponierte Scores, Klangeffekte und improvisierte Elemente vereint.“ (Homepage-Info)

Matthias Manzke:

* 4.10.1971; Jazzstudium an der HdK Berlin sowie an der New School New York; Unterricht u. a. bei David Friedman, Peter Weniger, Richie Beirach, und Jane-Ira Bloom; Rumänien-Tournee 1997; Teilnahme am Jazzfestival Hradec Kralove, Engagements bei Theater- und Filmproduktionen; CD-Aufnahmen mit der Berliner Big Band JayJayBeCe (BIT-Verlag 1997), mit dem Sänger Robert Metcalf (Dt. Grammophon 1998) sowie mit dem FRAW FRAW Saxophon4tett (2002); zzt. regelmäßige Konzerttäigkeit mit dem FRAW FRAW Saxophonquartett in ganz Deutschland und mit Projekten im Berliner Planetarium am Insulaner

Stephan Wolff:

1956 in Berlin geboren; Jurastudium; Dirigierstudium, Kompositions-Unterricht bei N. Badinski; tätig als Komponist, Dirigent, Keyboarder; seit 1994 Lehrtätigkeit an der Leo-Borchard-Musikschule; stilübergreifende Kompositionen zwischen Klassik, Jazz und Pop. Produktion und Mitgestaltung diverser Live-Elektronik-Projekte, u. a. „Dialogues“ (1998), „Losing One’s Head“ (1999), Filmmusiken, Bühnenmusiken, Traumspiel-Oper „Abaddon“ (1998/2001); Zahlreiche Songs und Lieder, auch für Kinder, z. B. „Erdenklang & Sternenbilder“ (1996), „Songs aus dem All“ (2000/2001), „Cool & Cosi“ (2000)

Sven Hinse:

* 1974, Absolvent der UdK Berlin und des „Kontaktstudiengangs Popmusik“ an der Hamburger Musikhochschule, CD-Produktionen u. a. mit dem Berliner LandesJugendJazzOrchester (1998) und mit der Band „tritorn“ (2002), Konzertreisen u. a. nach Südamerika, Rumänien, Spanien

Merle Ehlers:

geb. 1974 in Hamburg, lebt in Berlin. Schlagzeugstudium an der Hochschule für Musik „Hanns Eisler“ Berlin. Langjährige Bühnenerfahrung mit dem zeitgenössischen Tanzensemble „Contact 17“. Spielt Kompositionen für Gitarre und Schlagzeug im Duo „rant“ mit dem Gitarristen Torsten Papenheim, improvisierte Musik im Trio „Tunar“ mit Sabine Vogel (Flöten und electronics) und Dave Bennett (Gitarre) sowie dem Trio „Nom“ mit Dave Bennett und Antoine Chessex (Saxophone). Seit Sommer 2004 existiert das Trio „Tranceducer“ mit Tony Buck (hier:Gitarre, Voc) und Derek Shirley (Bass) für Songs von Tony Buck. Zusammenarbeit mit dem Performer Sten Rudstrøm. Mitinhaberin des Plattenlabels „schraum“ für gegenwärtige Musik.

Mehr Infos: http://www.orchesterderschatten.de.

Handlung von „Der Hund“ (Länge: ca. 36 Min.)

Der Berichterstatter hält während der Niederschrift der zurückliegenden Ereignisse bereits den Revolver bereit, um sich nach Abschluss dieser Aufgabe eine Kugel durch den verzweifelten Schädel jagen zu können. Denn die zurückliegenden Ereignisse lassen ihm keine andere Wahl …

Es muss sein Kumpel Saint John gewesen sein, der damit angefangen hat; ganz bestimmt. Zunächst waren sie nur vom Dasein gelangweilt, dann reichten ihnen auch der Nervenkitzel durch die verstiegenen Erzählungen und Gedichte der Dekadenten Baudelaire, Huysmans und wie sie alle heißen nicht mehr. Es war ganz bestimmt St. John, der auf die Idee mit der Grabräuberei verfiel, oder?

Sie richteten ein gut verstecktes Museum bei sich ein, in dem sie die Statuen von Dämonen, antike Mumien, Grabsteine und Schrumpfköpfe sammelten, natürlich auch Schmuckstücke aller Art. Es gab eine Mappe aus Menschenhaut, Musikinstrumente, die seltsame Disharmonien erzeugten. Die Raubzüge, die sich über die ganze Welt erstreckten, waren von der Umgebung, der Stimmung und der Jahreszeit bestimmt: Ein zugefrorenes Grab aufhacken zu müssen, ist sicherlich kein Vergnügen. Schließlich hörten sie von dem wertvollen Amulett im Grab eines 500 Jahre zuvor begrabenen holländischen Kapitäns. Das war der Anfang vom Ende.

Die holländischen Bauern erzählten ihnen, der Seemann sei seinerzeit von einer Bestie zerfleischt worden und seine Leiche verfluche jeden, der ihre letzte Ruhestätte berauben wolle. Sie hätten darauf hören sollen. Den Sarg zu öffnen, war erstaunlich leicht, doch dann grinste sie ein gut erhaltenes Gerippe an. Das Amulett auf seiner Brust ist aus grüner Jade und in Form eines Hundes oder einer Sphinx geformt, die Augen scheinen voll Bosheit zu funkeln. Die beigelegte Inschrift können sie leider nicht entziffern, doch offensichtlich sind sie auf einen Schatz gestoßen, der nur im verbotenen Buch „Necronomicon“ als Talisman eines Körperfresserkultes aus Zentralasien erwähnt wird.

Als sie sich gegenseitig auf die Schulter klopften, begann das Grauen. Fledermausschwärme stiegen auf, und ein großer Hund begann in der Ferne zu heulen …

Die drei Gedichte (ca. 7:40 Min.)

Lovecrafts Gedichte werden von Simon Newby vorgetragen. Die drei englischsprachigen Texte sind im Booklet abgedruckt (allerdings mit einem Druckfehler, auf den ich später zu sprechen komme.) Eine Übersetzung fehlt.

|The Cats|

In der erfundenen Albtraumstadt Arkham streunen nur die Katzen durch die nächtlichen Gassen. Alles ist öde und verlassen, von Verfall erfüllt, ein Inbild des Untergangs. Nichts geschieht außer dem unheilvollen „Heulen“ und „Schreien“ der geisterhaften Katzen.

|The Wood|

Der uralte majestätische Wald, der hier einst stand, hat dem Wald der hochragenden Wolkenkratzer weichen müssen; nur wenige Jahrhunderte waren dazu nötig. Doch der alte Wald war keineswegs unbewohnt. Die Bewohner der Marmortürme feierten bis zu jenem Tag, als ein unvorsichtiger Troubadour mit fluchwürdigen Worten einen alten Schrecken aus den Tiefen weckte. Nun steht hier, wo sich die Stadt einst befand, wieder ein urtümlicher Wald. Doch die Morgensonne weigert sich, dort zu scheinen.

|Festival|

Die Toten feiern das Julfest zur Wintersonnenwende an einem Altar, der inmitten von Druidengräbern in einem Eichenwald liegt. Und der Hörer mag ein Abt oder Priest sein, der sich dem Satan geweiht hat und dem Altar das „Zeichen des Tiers“ zeigt, von dem der Evangelist berichtet.

Handlung von „Das Fest“ (Länge: 44:44 Min.)

Unser Chronist ist ein junger Mann, der zur Stadt seiner Väter am Ostmeer (= Providence an der US-Ostküste) gereist ist, von der er nur aus seinen Träumen weiß, aber wohin man ihn gerufen hat. Es ist die Zeit des Julfestes, das unter Christenmenschen als „Weihnachten“ bekannt ist. Nur ist unser Berichterstatter alles andere als ein Christenmensch. Das Land wurde vor 300 Jahren besiedelt, doch sein Volk ist weit älter und kam aus dem Meer, weshalb es noch die alten Riten ehrt.

Er trifft in Kingsport ein, der uralten, verwinkelten Stadt unter dem kirchengekrönten Berggipfel, wo der Friedhof noch viele alte Grabsteine beherbergt, darunter auch die von vier Verwandten, die im Jahr 1692 wegen Hexerei hingerichtet wurden. Er findet das Haus an der Green Lane, das noch vor dem Jahr 1650 erbaut worden ist.

Auf sein Klopfen öffnet ein alter Mann, doch weil der stumm ist, schreibt er dem Besucher seinen Willkommensgruß auf ein Stück Papier. Sein Gesicht ist so wächsern bleich, dass es aussieht, als trage er eine Maske. Zwischen Möbeln aus dem 17. Jahrhundert sitzt eine Alte an einem Spinnrad, die ihm zunickt. Nach der Lektüre bekannter Bücher wie dem verbotenen „Necronomicon“ schließt sich der junge Mann seinen Gastgebern an. In Kapuzenmäntel gehüllt, machen sich die drei auf den Weg, um am Julfest teilzunehmen. Er wundert sich, dass er und seine Begleiter im Schnee keine Fußabdrücke hinterlassen …

((Weiterlesen auf eigene Gefahr!))

Auf dem Friedhof brennen Totenlichter, und sie betreten zusammen mit anderen Bewohnern der Stadt ein Kellergewölbe oder eine Krypta, in der eine Wendeltreppe weit hinab in die Tiefe des gewachsenen Felsens führt, durch die stinkenden Katakomben, bis zu einer ausgedehnten Höhle. Hier fließt träge ein Fluss, dessen ölig schwarzes Wasser im Schein einer grünlich leuchtenden Flammensäule glitzert. Neben Giftpilzen werden Pflanzenopfer dargebracht: Das Fest hat begonnen. Da kommen geflügelte Wesen an, die die Gläubigen besteigen, um in weitere Tiefen der Unterwelt zu fliegen, wer weiß, zu welchem Ziel.

Doch unser junger Mann ist mittlerweile derart von Grauen erfüllt, dass er sich weigert, den letzten geflügelten Vorboten des wahren Gottes zu besteigen. Zum Beweis dessen, dass er ein Teil dieser Bevölkerung ist und mitkommen muss, zeigt ihm der stumme Alte, offenbar ein Anführer, zuerst einen Siegelring und eine alte Taschenuhr – sie stammen aus dem Jahr 1698 – dann entfernt er seine Maske. Entsetzen packt den Erzähler, und er wirft sich in den Styx. Nur um im Krankenhaus von Kingsport zu erwachen, wo eine unangenehme Überraschung ihn erwartet …

Mein Eindruck

In diesen beiden frühen Geschichten befolgt Lovecraft konsequent die Forderung des von ihm glühend verehrten Edgar Allan Poes, wonach eine „short story“ in allen ihren Teilen auf die Erzielung eines einzigen Effektes ausgerichtet („unity of effect“) sein solle, egal ob es sich um die Beschreibung eines Schauplatzes, von Figuren oder um die Schilderung der Aktionen handele, die den Höhepunkt ausmachen (können).

Um die Glaubwürdigkeit des berichteten Geschehens und der Berichterstatter zu erhöhen, flicht Lovecraft zahlreiche – teilweise verbürgte, meist aber gut erfundene – Quellen ein, die beim weniger gebildeten Leser den Unglauben aufheben sollen. Erst dann ist die Erzielung kosmischen Grauens möglich, das sich Lovecraft wünschte. In den meisten Erzählungen gelingt ihm dies, und daher rührt auch seine anhaltende Wirkung auf die Schriftsteller weltweit. Erfolgreiche Serien wie Brian Lumleys „Necroscope“ oder Hohlbeins [„Hexer von Salem“ 249 wären ohne Poe und Lovecraft wohl nie entstanden.

Das heißt aber nicht, dass Lovecraft keine negativen Aspekte eingebracht hätte. Als gesellschaftlicher Außenseiter, der nur intensiv mit einer Clique Gleichgesinnter kommunizierte (er schrieb Briefe wie andere Leute E-Mails), ist ihm alles Fremde suspekt und verursacht ihm Angst: „Xenophobie“ nennt man dieses Phänomen. Darüber hinaus hegte er zunächst rassistische und antisemitische Vorurteile (wie leider viele seiner Zeitgenossen), so dass er von kultureller Dekadenz und genetischer Degeneration schrieb.

Degenerierte Antihelden

Degeneration ist das Hauptthema in „Die Ratten im Gemäuer“, eine Story, die 1924 im gleichen Jahr wie „Der Hund“ entstand und nur ein Jahr vor „Das Fest“. In „Der Hund“ sind die beiden frevlerischen Grabräuber moralisch so weit herabgesunken, dass ihre Sünden einen rächenden Fluch heraufbeschwören, der für ihre Bestrafung sorgt. In „Das Fest“ gehört der junge Chronist, ohne es zunächst zu ahnen, einem uralten Geschlecht von Humanoiden an, das seit alters her einem unheiligen Gott opfert, der vermutlich mit Cthulhu gleichzusetzen ist. Denn an einer Stelle heißt es, dass dieses Volk aus dem Meer kam, genau wie die sinistren Bewohner des unseligen Innsmouth. Und in Lovecrafts Meer herrscht immer nur „der träumende Cthulhu“ in der Unterwasserstadt R’lyeh.

Während die erste Story ebenso gut von Wolfgang Hohlbein (vgl. dazu seinen Roman [„Anubis“) 1356 stammen könnte und mit ihrer Grusel-Action jedem modernen Leser gefallen dürfte, ist „Das Fest“ doch ein ganz anderes Kaliber. Sie ist auf sehr spezifische Weise Teil des Lovecraft-Mythos, wonach in der Gegend von Providence und dem nahe gelegenen Salem im 17. Jahrhundert – historisch belegte – Hexenprozesse stattgefunden haben. Dabei habe es sich um echte Hexer und echte Hexen gehandelt, die und deren Verwandte jedoch überlebt haben. Und wenn nicht in Fleisch und Blut, so doch als Gespenst: als untote Erinnerung.

Unheilige Riten

Diese Geister, behaupten diese und andere Storys, versammeln sich zum Julfest, um unheilige Riten in den Tiefen der Hügel Neuenglands etc. zu feiern. Neuengland ist bei HPL der Hort von Dimensionstoren, aus denen die Großen Alten, die einst von Göttern vertrieben wurden, wieder in unsere Welt einbrechen, manchmal um unheiligen Nachwuchs zu zeugen („Das Grauen von Dunwich“), manchmal um Menschen zu ihren Jüngern zu machen („Der Fall Charles Dexter Ward“). Dass die alten Salem-Hexer („Das Ding auf der Schwelle“) ihnen helfen, dürfte klar sein. Und dass Cthulhus Nachkommen hier ihre Feste feiern, ebenfalls.

Das alles kann aber nicht verhindern, dass dieser Story irgendwie die Pointe abhanden kommt. Denn was ganz am Schluss folgt, ist viel zu schwach in der Wirkung, um aus der Story viel mehr als eine stimmungsvolle Studie in Horrorphantasien zu schmieden.

Die Gedichte

Auch den Gedichten mangelt es eklatant an Handlung. Dies sind allerdings keine Balladen von Goethe („Erlkönig“ lässt sich auch als Grusel interpretieren) oder Schiller (der hatte mit „Der Geisterseher“ richtig guten Grusel-Trash geschrieben), sondern eine Art pseudoviktorianische Dekadenzlyrik, wie man sie vielleicht von einem Epigonen Baudelaires erwarten könnte. Baudelaire schrieb richtig gute Vampirstorys in seinen Gedichten, die in „Die Blumen des Bösen“ veröffentlicht wurden (ab 1861 in mehreren, teils verbotenen und zensierten Ausgaben).

HPL zieht die gleichen Sujets heran, doch hat er es nicht so mit Vampiren (in keiner einzigen Story), sondern mit uralten Flüchen („The Wood“), mit pittoreskem Verfall („The Cats“) und den degenerierten Anhängern verbotener Riten („Festival“). Alle drei Themen gehören zu HPLs Standardrepertoire und bieten dem Kenner nichts Neues. Neu ist jedoch die Tatsache, dass sie erstmals in der Originalsprache auf einem deutschen Medium präsentiert werden, noch dazu von jemandem, der der englischen Sprache mächtig ist.

Leider weist der abgedruckte Text von „Festival“ einen bedauerlichen Druckfehler auf. In der ersten Zeile der vierten und letzten Strophe sollte es statt „myst“, welches kein englisches Wort ist (höchstens der Name eines Computer-Spiels), korrekt „mayst“ heißen. Diese archaische Form könnte direkt aus der King-James-Bibel von anno 1621 stammen und lautet übersetzt „mögest du“. Dazu passt auch das folgende „thou“, das alte englische Wort für „du“. „Mayst“ wird natürlich im Vortrag korrekt ausgesprochen.

Die Sprecher / Die Inszenierung

Simon Jäger, die deutsche Stimme von Heath Ledger und Josh Hartnett, ist ein sehr fähiger Sprecher für diese gruseligen Texte. In der actionbetonten Story „Der Hund“ hat mir sein Vortrag besser gefallen als in „Das Fest“, aber das liegt vor allem an der grundverschiedenen Machart der beiden Erzählungen. In „Das Fest“ muss die Musik einen ungleich größeren Beitrag zur gewünschten Wirkung leisten, was dazu führt, dass Jägers Vortrag ständig von Musik unterbrochen wird.

Auch Simon Newby, der in viel größerem Maße als Jäger als Schauspieler tätig gewesen ist, verfügt über eine ausdrucksstarke Stimme, die es ihm erlaubt, auch so schwierige Texte wie die auf alt getrimmten Gedichte HPLs vorzutragen. Über die korrekte Aussprache solcher exotischen Ausdrücke wie „fungi“ (= Pilze) und „foetor“ (eine Übersetzung dafür konnte ich in meinen Wörterbüchern nicht finden, aber es klingt nicht nach etwas Gesundem [Anm. d. Ed.: vermutlich „fetor“ = Gestank]) lässt sich wohl streiten.

Schwächen

Die Freude über die Premiere der Gedichtvorträge wird dadurch getrübt, dass der Englischkenner statt des erwarteten britischen Akzents, der der britischen Schreibweise der Texte („colour“ und „splendour“ statt des amerikanischen „color“ und „splendor“) angemessen wäre, einen Akzent zu hören bekommt, der mit dem amerikanischen R viel mehr gemeinsam hat als das Britische. Stellt man sich vor, ein BBC-Schauspieler wie, sagen wir mal, Ian Holm würde die Gedichte vorgetragen, so erhielten sie eine ganz andere Versmelodie, die einem kalte Schauer den Rücken hinunterjagen würde. Statt der vorhandenen, gewollt düsteren Wirkung bekäme ich einen nobel erhabenen Vortrag. So jedoch ließen mich die Gedichte unberührt.

Die Forderung nach einem britischen Akzent ist nicht abwegig, denn HPL war erstens ein äußerst gebildeter Bewohner Neuenglands (wo man eher die britische Aussprache pflegte), kein Hinterwäldler aus Texas, und zweitens ein Verehrer von anderen Horrorschriftstellern wie etwa Poe, der ebenfalls sehr klang-abhängige Gedichte („quoth the raven ›Nevermore‹“) verfasste, die für den Vortrag in einer Teegesellschaft bestimmt waren, nicht fürs Lesen. (Horror, richtig vorgetragen, packt das Gemüt des Zuhörers an Stellen, von denen dieser nicht einmal deren Existenz ahnte, und zerrt ihn dann unbarmherzig über die Kante des Abgrunds.)

Dass diese These hinsichtlich der Akustik zutrifft, belegt schon ein kurzer Blick auf das Klangschema der Verse von „The Cats“: Da wimmelt es nicht nur von streng ausgeführten Kreuzreimen, sondern auch von Alliterationen wie „Babels of blocks“ und „High heavens“. Verse wie „Colour and splendour, disease and decaying“ erwachen erst im angemessenen Vortrag zu Leben, um ihre gruselige Wirkung zu entfalten. Der Knackpunkt ist lediglich der „angemessene Vortrag“. An diesem hapert es. Eine Sache der Einstellung zum Text.

Die Musik

Da es keinerlei Geräuschkulisse außer ein paar Spezialeffekten (Hundegeheul etc.) gibt, beruht die emotionale Wirkung der Akustik einzig und allein auf dem Vortrag des Sprechers und auf der Musik. Die Musik stellt so etwas wie ein experimentelles Novum dar (wie so einiges auf dem Hörbuch). Sie wurde nicht von einem einzelnen Komponisten zwecks Aufführung durch ein Orchester geliefert, sondern wird von einem Musikerkollektiv erstellt und zugleich aufgeführt: dem „Orchester der Schatten“.

Wie uns ein Blick auf die Biografien von Stephan Wolff und Matthias Manzke informiert, so sind beide Komponisten, Wolff noch viel mehr als Manzke. Der Musikdozent Wolff bewegt sich als Komponist in Jazz und Pop ebenso gewandt wie in Klassik oder Filmmusik. Ja, selbst für Kinder hat er Songs und Lieder komponiert. Er spielt Keyboards. Manzke trat in Jazzensembles und Bigbands auf, dirigiert und komponiert; auf dem Foto hält er ein Saxophon, das auf der CD ebenso erklingt wie seine Flöte. Neben diesen beiden Herrschaften gehören zum „Orchester der Schatten“ noch Lady Merle Ehlers (drums, perc), Sven Hinse (bass) und Bernhard Suhm (cello).

Über den Einsatz von jazzbasierten Instrumenten und Musikmotiven in einer Gruselproduktion ließe sich trefflich streiten. Das Booklet behauptet, es handle sich um ein „Stummfilmorchester“. Ich für meinen Teil konnte mich nach einer Weile daran gewöhnen, besonders an die einfühlsam eingesetzte Percussion und an das in unheimlichen Kadenzen schwelgende Piano.

Soundqualität (DDD)

Da alle Produktionsstufen auf digitaler Technik basieren, ist der Qualitätsverlust beim Aufnehmen und Übertragen sowie bei der Wiedergabe absolut minimal. Der Zuhörer bekommt folglich optimale Qualität zu hören, sofern er über das angemessene Equipment verfügt. Einem Computerlautsprecher aus China würde ich die CD nicht unbedingt überantworten, eher schon meiner HiFi-Anlage oder auch meinem DVD-Spieler.

Unterm Strich

„Der Ruf des Dämon“ bietet dem Liebhaber gepflegten Grusels aus dem Hause Lovecraft eine interessante Mischung aus total Traditionellem – die Storys und Gedichte – und innovativ Neuem: die akustische Untermalung durch das „Orchester der Schatten“. Nicht jedem wird dieser zweite Aspekt schmecken, muss man doch erst einmal eingefahrene Hörgewohnheiten ablegen oder umstellen, um sich für das Neue zu öffnen.

Abgesehen von einigen kritischen Punkten hinsichtlich der Gedichte halte ich das Hörbuch für eine herausragende Produktion. Das Textmaterial ist ebenso anregend wie die kreativ gestaltete Musik, und das achtseitige Booklet wartet mit umfangreichen, ausreichenden Informationen zu Autor, Orchester, den Machern und mit den Gedichttexten (inkl. Druckfehler) auf. Mehr kann man zu diesem Preis kaum verlangen. Für Lovecraft-Puristen dürfte das ganze Ding der Horror sein.

89 Minuten auf 2 CDs
ins Deutsche übertragen von Susanne Althoetmar-Smarczyk
ISBN-13: 978-3821853918

Der Autor vergibt: (4.0/5) Ihr vergebt: SchrecklichNa jaGeht soGutSuper (No Ratings Yet)

Wagner, Jan Costin – Schweigen, Das (Lesung)

_Verhängnisvoll & spannend: die Ironie und das Schweigen_

30 Jahre lang hat Antsi Ketola im finnischen Turku für die Mordkommission ermittelt, jetzt geht er in Pension. Er nimmt einen ungelösten Fall mit. Vor 30 Jahren war ein Mädchen verschwunden, nur das Fahrrad und Blutspuren wurden gefunden. Da bekommt Ketola von seinem Ex-Kollegen Joentaa eine elektrisierende Nachricht: derselbe Tatort, ein Fahrrad, Blutspuren – und ein verschwundenes Mädchen. Gibt es einen Zusammenhang zwischen beiden Verbrechen? Hat der Täter nach 30 Jahren wieder zugeschlagen? Und wieso erst jetzt?

_Der Autor_

Jan Costin Wagner wurde 1972 in Langen/Hessen, bei Frankfurt geboren. Er studierte Germanistik und Geschichte in Frankfurt und arbeitet als freier Autor im Rhein-Main-Gebiet. Finnland, der Schauplatz von „Eismond“ und „Das Schweigen“ ist nicht nur das Land, in dem seine Ehefrau geboren wurde, sondern auch seine zweite Heimat. Er verbringt jedes Jahr mehrere Wochen an den Schauplätzens seiner Kimmo-Joentaa-Krimis.

Bei Eichborn Berlin erschien 2002 sein Debütroman „Nachtfahrt“, eine Verfilmung des Buches ist in Arbeit. Sein zweiter Roman „Eismond“ (2003) brachte den internationalen Durchbruch. Im Herbst 2005 erschien sein dritter Roman [„Schattentag“ 1903 und im Juli 2007 sein vierter Roman „Das Schweigen“.

Wagner erhielt 2001 den Marlowe-Preis für den besten Kriminalroman für sein Debüt „Nachtfahrt“. 2003 erhielt er ein Aufenthaltsstipendium des Berliner Senats im Literarischen Colloquium Berlin für „Eismond“ und 2004 den Förderpreis des Kulturkreises der deutschen Wirtschaft. Mehr Infos findet man auf seiner Homepage http://www.jan-costin-wagner.de.

_Der Sprecher_

Matthias Brandt (* 7. Oktober 1961 in Berlin) ist ein deutscher Theater- und Fernsehschauspieler. Er ist der Sohn von Willy und Rut Brandt. Brandt studierte an der Hochschule für Musik und Theater Hannover Schauspiel. Nach einem ersten Engagement am Oldenburgischen Staatstheater im Jahr 1985 gehörte er unter anderem den Ensembles folgender Theater an: Staatstheater Wiesbaden, Nationaltheater Mannheim, Schauspiel Bonn, Bayerisches Staatsschauspiel, Renaissancetheater Berlin, Schauspielhaus Zürich, Schauspielhaus Bochum und Schauspiel Frankfurt.

Seit 2000 ist Brandt regelmäßig in Fernsehrollen zu sehen. 2003 spielte er in dem Fernsehfilm „Im Schatten der Macht“, der die letzten Tage vor dem Rücktritt seines Vaters vom Amt des Bundeskanzlers schildert, die Rolle des Günter Guillaume. Er wiederum wurde hier als Kind von Cornelius Lehmann verkörpert. Sehr beeindruckend spielt er auch einen minderbegabten Vater im Fernsehfilm „In Sachen Kaminski“ (Erstausstrahlung am 15. Juli 2005 auf ARTE) neben Juliane Köhler, welche die Mutter spielt.

2006 wurde er mit dem Bayerischen Fernsehpreis als Bester Schauspieler im Bereich Fernsehspiel für „In Sachen Kaminski“ ausgezeichnet. 2007 erhielt er den Adolf-Grimme-Preis.

_Handlung_

|PROLOG|

Turku, Finnland. Es ist im Sommer 1974, als sie nach dem Anschauen eines pädophilen Erotikfilms mit Perssinens rotem Wagen losfahren und ein Mädchen suchen, irgendein Mädchen, und sie brauchen auch gar nicht weit zu fahren. Perssinen steigt aus, schnappt es sich, reißt es vom Fahrrad und zerrt es auf einen Feldweg … Sein Beifahrer ist wie gelähmt und schaut nur zu, was Perssinen tut, dieser Mann, den er heute erst kennengelernt hat. Nachdem es vorbei ist, schafft Perssinen das tote Mädchen in den Kofferraum seines Wagens. Wieder schaut sein Beifahrer nur zu, steigt aber ein, als sie wegfahren. Nachdem sie die Leiche im See entsorgt haben, packt der Beifahrer alle seine Sachen und zieht weg. Er nimmt den Bus. Beim Abschied von Perssinen reinigt dieser gerade sein Auto. Er sieht Perssinen nie wieder. Denkt er.

|Haupthandlung. 33 Jahre später.|

Im kalten Januar wird Antsi Kommissar Ketola pensioniert. An seinem letzten Arbeitstag schieß ihm ein Gedanke, eine Erinnerung von irgendwoher in den Sinn, und er besucht mit seinem langjährigen Kollegen Kimmo Joentaa den jungen Archivar der Polizeizentrale von Turku. Ob das Modell noch da sei, will er wissen. Welches „Modell“? Sie gehen in die Rumpelkammer, denn das ist der einzige Ort, wo sich der Archivar, der gerade erst seinen Dienst angetreten hat, so etwas wie ein „Modell“ vorstellen kann. Eine Modelleisenbahn ohne Eisenbahn, was soll das denn sein?

Aber da ist es, das Modell: der Tatort, wo das Fahrrad gefunden wurde, vor 33 Jahre, als Ketola gerade erst bei der Polizei angefangen hat. Es war sein erster Fall, und der steckt ihm in den Knochen. Sie fanden das Mädchen erst Monate später im See, halb verwest. Sie hieß Pia Lehtinen und war erst 13 Jahre alt. Ja, und das rote Auto da, will Joentaa wissen. Ja, das hat der einzige Zeuge gesehen, ein kleiner Junge, aber es wurde nie gefunden. Ketola lässt das Modell, das auf Rollen und einem Tisch montiert ist, in sein Auto verfrachten. Dann macht er sich ans Feiern. Abends fährt er einen Umweg. Auf dem Holzkreuz mitten im verschneiten Feld stehen Pias Name und das Datum ihres Todes. Erst daheim wagt er es zu weinen.

Am 8. Juni, ein halbes Jahr später, bringen die Spätnachrichten die Nachricht. Ein junges Mädchen, ein Teenager, sei verschwunden, nur sein Fahrrad und seine Taschen habe man gefunden. Was merkwürdig sei: Das Fahrrad liegt nahe bei dem Holzkreuz, das an Pia Lehtinen erinnert. Sofort werden an den Fall vor 33 Jahren erinnert und die alten Fotos gebracht, sogar an ein rotes Auto erinnert sich ein Zeuge.

Joentaa erinnert sich an Ketolas letzten Tag, an den Fall Pia Lehtinen und das Modell. Gibt es einen Zusammenhang? Es muss einen Zusammenhang geben, meint auch der Vater des verschwundenen Mädchens; ihr Name ist Sinikka, der ihres Vaters Kallevi Vehkasalo. Als Joentaa ihn noch am gleichen Abend besucht, identifiziert die Mutter alle Fundstücke als die ihrer Tochter. Der Vater verlangt zu wissen, ob es einen Zusammenhang gibt. Joentaa ist nicht bereit, sich festzulegen, aber er rätselt natürlich ebenfalls darüber. Und er weiß genau, wie es sich anfühlt, wenn einem ein geliebter Mensch von der Seite gerissen wird. So verlor er seine Frau Sanna, eine Architektin. Joentaa ruft Ketola an.

Die Spätnachrichten sieht auch der Beifahrer von damals. Timo Korvensuo hat nun den respektablen Beruf eines Immobilienmaklers, eine Frau (Mariatta), zwei Kinder (Aku und Laura) und Freunde, Pekka und Arvi. Aber als die Erinnerungen sich nicht mehr wie bisher verdrängen lassen, wird ihm schlecht. Er beginnt zu zittern, verspürt Brechreiz und Schwindel. Schon wieder diese Loslösung von der Welt, so wie damals, als Perssinen und er… Er zerschmettert eine Saftflasche vor Wut. Damals sah er sich mit Perssinen diesen Kinder-Porno an und dann … Als Aku ihn fragt, ob ihm auch so schlecht vom Eisessen sei, vermag er nicht aufzustehen.

Kimmo Joentaa rätselt immer noch, ob es einen Zusammenhang zwischen den beiden Mädchen gibt. Es gab im Jahr 1983 noch eine Vermisstenmeldung in der Nähe von Turku, ein Mädchen namens Marika verschwand spurlos. Und wieder sah ein Zeuge einen roten Kleinwagen. Möglicherweise gibt es einen Serienmörder, vielleicht aber auch nur eine Serie von Ausreißerinnen, bis auf die erste, Pia Lehtinen. Während er noch rätselt, sieht er Ketola im Fernsehen.

Ketola sitzt in einer erfolgreichen Talkshow und neben ihm – Joentaa traut seinen Augen kaum – sitzt die Mutter von Pia, Elena Lehtinen. Beide appellieren an den Täter, sich zu stellen. Offenbar gehen sie davon aus, dass es sich 1974 und jetzt um den gleichen Täter handelt. Davon ist Joentaa keineswegs überzeugt, auch wenn der Tatort und das Fahrrad das nahelegen. Als er dem Leiter der Ermittlungskommission von Ketolas Fernsehauftritt erzählt, flippt Sundström fast aus. Schließlich mischt sich der alte Knacker in ein laufendes Verfahren ein.

Timo Korvensuo hat es nicht mehr in Helsinki ausgehalten und ist nach Turku gefahren. Erst hat er die Stadt umrundet, die alten Schauplätze, wo er 1974 Mathematik studiert hatte. Seiner Frau hat er erzählt, er besuche einen potentiellen Kunden. Er rafft sich schließlich auf, Perssinen zu besuchen. Der Hausmeister ist beim Rasenmähen und seine Wohnung sieht immer noch so aufgeräumt aus wie damals, als… Und er trinkt immer noch Pflaumenschnaps und schaut sich Kinderpornos an. Timo Korvensuo kann nicht verhindern, dass ihm Perssinen so eine Porno-DVD schenkt: seinen Lieblingsfilm, Perssinen weiß es noch genau. Im Hotel schaut er sich den Film an. Ein Schmerz erfasst ihn, und Bilder von seinen eigenen Kindern, Aku, 9, und Laura, 13, überfallen ihn unvermittelt. Er beschließt, zur Mutter von Pia zu fahren. Von ihr hat Mariatta am Telefon gesprochen. Er hat sich – er weiß das nur diffus – zu entschuldigen.

Für etwas, das er gar nicht getan hat. Aber das wird niemand jemals erfahren …

_Mein Eindruck_

Wie der Titel schon sagt, geht es um das Schweigen, seine Bedeutung, seine Rolle, seinen Zweck. Schweigen ist in dieser Geschichte nicht zufällig, sondern ein Komplize, ein Mitspieler und – wenn es um die Ermittlung geht – auch ein Gegenspieler. Letzten Endes geht es also um Kommunikation und das mögliche Wissen, das sie mit sich bringt. Ein sehr modernes Thema, wie ich finde. Schweigen als Leerstelle, die sich vieldeutig nutzen lässt, die sich aber letzten Endes auch als trügerisch erweist.

Es gibt zwei Figuren, deren Vergangenheit und Seelenleben wir ziemlich genau kennenlernen. Das sind Kimmo Joentaa, der Polizist, der seine Frau Sanna an den Krebs verloren hat, und der ein Grübler und Zweifler geworden ist. Dadurch steht er im Gegensatz zu den Kollegen, die sich liebend gern an die Tatsachen halten, ganz besonders dann, wenn sie ihre Annahmen bestätigen. Joentaa aber weiß, dass die Dinge nicht so einfach liegen. Und deshalb fällt ihm ein winziges Detail auf, das alle anderen übersehen, und er kommt der Wahrheit im Fall Sinikka auf die Spur. Das sorgt für eine echte Überraschung.

Und da ist der Immbilienmakler Timo Korvensuo, der eigentlich immer nur zugesehen hat. Und geschwiegen, immer nur geschwiegen. Auch gegenüber seiner Familie, versteht sich. Als Ketola frech wie Oskar mal den PC von Korvensuo durchsucht, stößt er auf Unmengen von Kinderpornobildern. Von diesen Bildern hatte die Ehefrau keine Ahnung. Das Schweigen verhinderte dies.

Aber Ketola ist jetzt hundertprozentig sicher, dass er dem richtigen Mann auf der Spur ist. Die tragische Ironie ist offensichtlich. Aber klar wird auch, dass das Schweigen ebenso schuldig macht wie die Tat. Täter oder nicht, es ist ganz gleich: Korvensuo hat die Schuld mitzutragen und sucht nun Sühne dafür, indem er Pias Mutter besucht. Er macht sich Vorwürfe, weil er vermutet, dass Perssinen wieder zugeschlagen hat. Weil er das gleiche Laster wie Perssinen hat, kann er ihn nicht verurteilen. Dem Teufelskreis der Schuld, in den er nun gerät, kann er nicht entkommen.

Immer wieder stößt Joentaa auf das Schweigen, das zwischen den Eltern und ihren Kindern herrscht. Den Eltern von Sinikka geht auf, dass sie fast nichts über ihre Tochter wissen. Der Vater geht seiner Frau damit so sehr auf den Wecker, dass sie vorgibt zu schlafen, um den Schmerz ertragen zu können. Im Finale weiß sie nicht mehr, ob sie schreien oder sterben soll, so groß ist ihr Leiden.

Die von ihrem Mann verlassene Elena Lehtinen, Pias Mutter, hat ein Verhältnis mit ihrem Nachbarn. Eines Tages stürmt dessen Frau Maria zur Tür herein und ohrfeigt Elena, bevor sie einen Nervenzusammenbruch erleidet, der sie ins Krankenhaus bringt. Maria hat das schützende Schweigen durchbrochen und den Preis bezahlt. Das Schweigen ist für Elena kein Komplize mehr. Als Timo Korvensuo sie besuchen kommt und sich als Wohnungssuchender ausgibt, weiß sie gleich, wen sie vor sich hat: ihn, der das Schweigen durchbrochen und sich gestellt hat, um Verzeihung zu erbitten. Nichts davon sagt er, doch sie weiß Bescheid und sagt dies auch Ketola und Joentaa. Dass er ihr seine Visitenkarten dagelassen hat, fasst sie als Einladung auf, ihn zu kontaktieren.

|VORSICHT, SPOILER|

Das tiefste Schweigen umgibt Ketola. Und früher oder später wundert man sich darüber. Nicht aber die Ermittler, die froh sind, wenn sich der pensionierte Kommissar nicht mehr einmischt. Leider tut er ihnen diesen Gefallen nicht, sondern beginnt im Stillen eine geheime Aktion, die nur ein Ziel hat: den Mörder Pias aufzustöbern und zu überführen. Doch das Schweigen, das Ketola zu seinem Komplizen und zu seiner Waffe macht, führt wieder zu einem Missverständnis. Die Vergeltung trifft einen Schuldigen, schon gut, aber nicht den Täter.

Der Täter verbirgt sich hinter Schweigen, Anpassung und Wohlanständigkeit. Perssinen mäht jeden Tag den Rasen vor fünf Häusern, die er betreut, und führt penibel darüber Buch. Als der Polizist Hejnonen bei ihm auftaucht, weil Perssinen als ehemaliger Besitzer eines roten Kleinwagens auf zwei Listen (der von Pia und der von Marika) steht, bemerkt er, dass sich Perssinen seltsam entrückt verhält. Vielleicht die Folge eines Schlaganfalls, schließlich ist das schon ein alter Mann. Aber er nimmt Perssinens Tagebuch nicht mit, sonst wäre er im Jahr 1974 auf den Namen Timo Korvensuo gestoßen. Und so hilft das Schweigen dem Falschen. Der Schluss hält eine Menge bittere Ironie bereit. Wieder einmal scheint das Schweigen gewonnen zu haben.

|Der Sprecher|

Matthias Brandt muss gegen das Schweigen ankämpfen, aber er tut es mit einer ruhigen, beständigen Stimme, die unaufgeregt ist. Man kann sich auf die Geschichte, die er erzählt, verlassen, hört jedes Wort, jeden Satz als Einheit und Faktum. Und doch gibt es da eine beunruhigende Doppelbödigkeit, die schon in der Vorlage steckt.

Wie immer können wir in Korvensuos und Joentaas Seele nur kurz Einblick gewinnen, doch diese Momente sind mit Erinnerungen angefüllt. In Joentaas Kopf werden die Erinnerungen wie gewöhnlich unwillkürlich ausgelöst, aber dann ergeben sie komplette Bilder, ganze Szenen. Ganz anders hingegen in Korvensuo. Sein geistiger Bildschirm ist geradezu ein Schneegestöber, in dem die Schnipsel von Aku, Laura, Marietta, Pia, Elena, Perssinen durcheinanderwirbeln und ihn zu verschlingen drohen, weil er zunehmend die Kontrolle darüber verliert. Überblendeffekte assoziieren die drei Kinder miteinander.

Nur ein Strang lässt sich herauslesen: Die zunehmend deutlicher werdende Szene mit Pia. Sie am Boden, Perssinen über ihr, danach das Verstauen der Leiche, das Versenken im See. Dann die Assoziation der Hexe in dem Märchenfilm, den Aku und dann auch Timo im Kino ansehen. Sie krächzt – so auch der Sprecher -, dass ihr Opfer nicht davonkommen werde. Der helllichte Tag verwandelt sich für Timo in einen Albtraum, aus dem es kein Erwachen zu geben scheint. Das klingt chaotischer als es gelesen wird. Und natürlich handelt es sich um meine eigene Interpretation.

Nicht immer ist der Sprecher ruhig und selbstsicher, denn schließlich sind nicht all seine Figuren so, sondern lediglich der Erzähler. Sinikas Vater Kallevi beispielsweise spricht häufig stockend, atemlos in seiner Hilflosigkeit angesichts der Lücke, die seine verschwundene Tochter in seinem Leben aufgerissen hat. Auch Joentaa ist die Verlegenheit anzuhören, wenn er Mariatta Korvensuo versichert, es sei alles in Ordnung. (Natürlich ist rein gar nichts mehr in Ordnung.)

Matthias Brandt gelingt es, die Konzentration des Hörers zu erlangen und sie auf Dauer zu fesseln, einfach indem er langsam liest und deutlich und vor wichtigen Wörtern eine kleine Pause macht. Wenn Leidenschaft oder Wut angebracht ist, so kann er dies mit Tempo und Lautstärke ohne Weiteres ebenfalls ausdrücken, doch diese Ausbrüche sind selten. Sollten sie auch sein, um ihre Wirkung nicht einzubüßen.

Dieser Vortrag benötigt weder Musik (wie im Hörbuch zu „Eismond“) noch Geräusche irgendeiner Art, denn es ist ein Kammerspiel um ein zentrales Thema: Schweigen. Und diesem Schweigen gilt es durch Worte entgegenzuwirken.

Das Booklet informiert über den Autor und den Sprecher sowie über das Hörbuch „Eismond“. Das Titelbild zeigt ein Mädchen mit kurzem Haar, vermutlich Sinika.

Die CDs sind annähernd 90 Minuten lang. Mein alter CD-Spieler weigerte sich, solche CDs abzuspielen, aber mein neuerer DVD-Spieler bequemte sich doch dazu. Insgesamt bieten die vier CDs fast sechs Stunden Text, das ist eine ganze Menge.

_Unterm Strich_

Es ist ungewöhnlich, dass wir gleich zu Anfang von einem Verbrechen und den Tätern erfahren. Doch es geht nicht primär um dessen Aufklärung, sondern darum, wie die Täter und ihre kriminalistischen Gegenstücke mit diesem Fall 33 Jahre später umgehen. Hat die Zeit Wunden geheilt, die nun wieder aufgerissen werden? Ist die Schuld vergessen, oder muss noch Sühne geleistet werden?

Ist über alles Gras gewachsen, oder gibt es einen Zaubertrick, um beide Fälle, die 33 Jahre auseinanderliegen, aufzuklären? Wie sich zeigt, gibt es diesen „Zaubertrick“ tatsächlich. Das Ende ist wirklich überraschend und ebenfalls ein Teil der umfassenden Ironie. Diese Ironie ist mal bitter, mal tragisch, mal lustig. Es fällt schwer, sich nicht von diesem Plot und der Sprache, in der er erzählt wird, beindrucken zu lassen.

Matthias Brandt scheint mir der passende Sprecher für diese Art von Stoff zu sein. Ruhig, ohne einzuschläfern, aber leidenschaftlich und betroffen, wenn es nötig ist, weiß er die Aufmerksamkeit des Hörers nicht auf sich zu lenken, sondern auf die komplexe Geschichte, die er erzählt.

Wer Action und vordergründige Spannung sucht, wird sicherlich woanders fündig. Wer intensive emotionale Spannung sucht und von einer sicheren sprachlichen Stimme zu einem überraschenden und bewegenden Schluss geführt werden will, der ist bei „Das Schweigen“ an der richtigen Adresse. Den Namen Jan Costin Wagner sollte man sich merken.

|349 Minuten auf 4 CDs|
http://www.eichborn-lido.de/

Karen Duve – Die entführte Prinzessin: Von Drachen, Liebe und anderen Ungeheuern

Ritter und Drachen begegnen einem heute noch am ehesten in den Werken von Fantasyautoren. Karen Duve muss man da sicherlich eher als Ausnahme betrachten, denn zum Fantasygenre mag man sie nach ihren ersten beiden Romanen „Regenroman“ und „Dies ist kein Liebeslied“ nun wirklich nicht zählen. „Die entführte Prinzessin“ mag da auf den ersten Blick nicht so recht in das Bild passen, das der geneigte Leser sich zwischenzeitlich von der Autorin gemacht hat, doch beweist Karen Duve mit ihrer neuesten Publikation, dass sie durchaus vielseitig ist. „Die entführte Prinzessin“ kommt als unterhaltsames, mitunter außerordentlich gewitzt geschriebenes Märchen daher, das beim Lesen wirklich Spaß macht. Und wann bekommt man heutzutage von zeitgenössischen Autoren noch mal Märchen vorgesetzt, Walter Moers vielleicht einmal außen vor gelassen?
Karen Duve – Die entführte Prinzessin: Von Drachen, Liebe und anderen Ungeheuern weiterlesen

Anne George – O du Mörderische (Lesung)

Mord im Kunstmilieu: blaue Wunder en gros

Patricia Anne und Mary Alice sind zwei ältere Schwestern, die sich durch Streit gegenseitig bei wachem Verstand halten. Den brauchen sie auch, um eine Serie von Verbrechen in ihrer Heimatstadt Birmingham in Alabama aufzuklären. Die Kunsthändlerin und Galeristin Mercy Armistead wird vergiftet, ihre Assistentin mit einem Messer attackiert, und schließlich wird ein Kunstkritiker in seinem Auto von einer Kugel getroffen. Wer und was steckt dahinter?

Die Autorin
Anne George – O du Mörderische (Lesung) weiterlesen

Die unsichtbaren Krallen des Dr. Mabuse (Hörspiel)

Man schreibt das Jahr 1961. 29 Jahre nach dem Selbstmord des Verbrechergenies Dr. Mabuse scheint jemand dessen Vermächtnis anzutreten, um die Grundfesten der Staatsgewalt zu erschüttern.

Der geniale Professor Erasmus hat eine Möglichkeit gefunden, Gegenstände sowie Personen für das menschliche Auge unsichtbar zu machen. Als nach einem Theaterstück, in dem die attraktive Schauspielerin Liane Martin auftritt, ein Kriminalbeamter ermordet wird, ruft Kommissar Brahm FBI-Agent Como zu Hilfe. Dieser erkennt, dass Dr. Mabuse sich für die Erfindung interessiert und hinter dem Verbrechen steckt. Da Joe Como auch ein Auge auf Liane Martin geworfen hat, wird diese kurzerhand von Mabuse hypnotisiert, um den Beamten in eine tödliche Falle zu locken …

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Lovecraft, H. P. – Grusel-Box (Insz. Lesungen)

_Wahnsinn reitet den Sternenwind: Lovecraft en gros_

„Dunkle Geschichten“ bestreiten den ersten Teil der „Grusel-Box“ (CD 1+2). H. P. Lovecrafts bizarre und hintergründige Geschichten „Der Hund“ und „Das Fest“ führen an sehr unterschiedliche Orte im Kosmos des Grauens. In „Wälder der Finsternis“, dem zweiten Teil der „Grusel-Box“, jedoch melden sich hier weder Cthulhu noch andere Persönlichkeiten aus seinem Kosmos des Grauens zu Wort, auch das Necronomicon bleibt dieses eine Mal verschlossen. Das Grauen erscheint vielmehr als Monstrum in Menschengestalt bzw. in Form einer mitleidslosen wie unpersönlichen Macht aus dem All, die es nicht nötig hat, sich einen Namen zu geben, und dadurch umso beängstigender wirkt.

_Inhalt von CD 3+4:_

– |Das Bild im Haus| (gesprochen von Torsten Sense);
– |Astrophobos| / |The Messenger| / |The House| (Poems; gesprochen von Simon Newby);
– |Die Farbe aus dem All| (gesprochen von Simon Jäger)

Das Hörbuch bietet eine deutsch-englische Lesung mit Musik vom „Orchester der Schatten“, die eigens hierfür eingespielt wurde.

_Der Autor_

Howard Phillips Lovecraft (1890-1937) wird allgemein als Vater der modernen Horrorliteratur angesehen. Obwohl er nur etwa 55 Erzählungen schrieb, hat sein zentraler Mythos um die Großen Alten, eine außerirdische Rasse bösartiger Götter, weltweit viele Nachahmer und Fans gefunden, und zwar nicht nur auf Lovecrafts testamentarisch verfügten Wunsch hin.

Aber wie in den Zusatztexten zu „Innsmouth“ zu erfahren war, reicht Lovecrafts Grauen weit über die landläufige Vorstellung von Hölle hinaus: Das Universum selbst ist eine Hölle, die den Menschen, dessen Gott schon lange tot ist, zu verschlingen droht. Auch keine Liebe rettet ihn, denn Frauen kommen in Lovecrafts Geschichten praktisch nur in ihrer biologischen Funktion vor, nicht aber als Liebe spendende Wesen oder gar als Akteure. Daher ist der (männliche) Mensch völlig schutzlos dem Hass der Großen Alten ausgeliefert, die ihre Welt, die sie einst besaßen, wiederhaben wollen. Das versteht Lovecraft unter „kosmischem Grauen“. Die Welt ist kein gemütlicher Ort – und Einsteins Relativitätstheorie hat sie mit in diesen Zustand versetzt: Newtons Gott ist tot, die Evolution eine blinde Macht, und Erde und Sonne nur Staubkörnchen in einem schwarzen Ozean aus Unendlichkeit.

Kurz und bündig mehr über Lovecraft: [www.orchesterderschatten.de]http://www.orchesterderschatten.de/autor.htm

_Die Sprecher _

Simon Jäger, geboren 1972 in Berlin. Seit 1982 arbeitet er als Synchronsprecher bei Film und TV. Er lieh u. a. Josh Hartnett, James Duvall, Balthazar Getty, River Phoenix seine Stimme, aber auch „Grisu, dem kleinen Drache“, und war auch in TV-Serien wie „Waltons“, „Emergency Room“ zu hören. Seit 1998 arbeitet er zudem als Autor und Dialogregisseur. (Homepage-Info)

Simon Newby, geboren 1961 in Long Eaton, England, studierte an der Guildhall School of Music & Drama (Bachelor-Abschluss in Dramatic Arts). Seit 1990 erledigte er zahlreiche Regiearbeiten an verschiedenen Bühnen Berlins, war als Voice Over- und Synchronsprecher sowie als Dialog-Coach tätig, seine Hobbys sind Trompete spielen und Tauchen. Zu seinen Sprachkenntnissen zählt er: „Englisch (Britisch und Amerikanisch), Deutsch (perfekt)“.

_Die Musik: Das „Orchester der Schatten“_

„Das Orchester der Schatten präsentiert klassische Geschichten von Kultautoren wie H. P. Lovecraft und E.A. Poe, die mit ihren bizarren Welten des Grauens schon Generationen von Lesern begeistert haben. Ohne vordergründige Effekte wird von Mythen, fremden Mächten oder einfach von dem Horror erzählt, der sich in der menschlichen Seele verbirgt. Begleitet werden die Erzählungen vom Orchester der Schatten, dessen Live-„Filmmusik“ komponierte Scores, Klangeffekte und improvisierte Elemente vereint.“ (Homepage-Info)

Matthias Manzke:
*4.10.1971; Jazzstudium an der HdK Berlin sowie an der New School New York; Unterricht u.a. bei David Friedman, Peter Weniger, Richie Beirach, und Jane-Ira Bloom; Rumänien-Tournee 1997; Teilnahme am Jazzfestival Hradec Kralove, Engagements bei Theater- und Filmproduktionen; CD-Aufnahmen mit der Berliner Big Band JayJayBeCe (BIT-Verlag 1997), mit dem Sänger Robert Metcalf (Dt. Grammophon 1998) sowie mit dem FRAW FRAW Saxophon4tett (2002); zzt. regelmäßige Konzerttäigkeit mit dem FRAW FRAW Saxophonquartett in ganz Deutschland und mit Projekten im Berliner Planetarium am Insulaner

Stephan Wolff:
1956 in Berlin geboren; Jurastudium; Dirigierstudium, Kompositions-Unterricht bei N. Badinski; Tätig als Komponist, Dirigent, Keyboarder; seit 1994 Lehrtätigkeit an der Leo-Borchard-Musikschule; Stilübergreifende Kompositionen zwischen Klassik, Jazz und Pop. Produktion und Mitgestaltung diverser Live-Elektronik-Projekte, u.a. „Dialogues“ (1998), „Losing One’s Head“ (1999), Filmmusiken, Bühnenmusiken, Traumspiel-Oper „Abaddon“ (1998/2001); Zahlreiche Songs und Lieder, auch für Kinder, z.B. „Erdenklang & Sternenbilder“ (1996), „Songs aus dem All“ (2000/2001), „Cool & Cosi“ (2000)

Sven Hinse:
* 1974, Absolvent der UdK Berlin und des „Kontaktstudiengangs Popmusik“ an der Hamburger Musikhochschule, CD-Produktionen u.a. mit dem Berliner LandesJugendJazzOrchester (1998) und mit der Band „tritorn“ (2002), Konzertreisen u.a. nach Südamerika, Rumänien, Spanien

Merle Ehlers:
geb. 1974 in Hamburg, lebt in Berlin. Schlagzeugstudium an der Hochschule für Musik „Hanns Eisler“ Berlin. Langjährige Bühnenerfahrung mit dem zeitgenössischen Tanzensemble „Contact 17”. Spielt Kompositionen für Gitarre und Schlagzeug im Duo „rant“ mit dem Gitarristen Torsten Papenheim, improvisierte Musik im Trio „Tunar” mit Sabine Vogel (Flöten und electronics) und Dave Bennett (Gitarre) sowie dem Trio „Nom“ mit Dave Bennett und Antoine Chessex (Saxophone). Seit Sommer 2004 existiert das Trio „Tranceducer” mit Tony Buck (hier:Gitarre, Voc) und Derek Shirley (Bass) für Songs von Tony Buck. Zusammenarbeit mit dem Performer Sten Rudstrøm. Mitinhaberin des Plattenlabels „schraum” für gegenwärtige Musik.

_Handlung von „Der Hund“ (Länge: ca. 36 Min.)_

Der Berichterstatter hält während der Niederschrift der zurückliegenden Ereignisse bereits den Revolver bereit, um sich nach Abschluss dieser Aufgabe eine Kugel durch den verzweifelten Schädel jagen zu können. Denn die zurückliegenden Ereignisse lassen ihm keine andere Wahl …

Es muss sein Kumpel Saint John gewesen, der damit angefangen hat; ganz bestimmt. Zunächst waren sie nur vom Dasein gelangweilt, dann reichten ihnen auch der Nervenkitzel durch die verstiegenen Erzählungen und Gedichte der Dekadenten Baudelaire, Huysmans und wie sie alle heißen nicht mehr. Es war ganz bestimmt St. John, der auf die Idee mit der Grabräuberei verfiel, oder?

Sie richteten ein gut verstecktes Museum bei sich ein, indem sie die Statuen von Dämonen, antike Mumien, Grabsteine und Schrumpfköpfe sammelten, natürlich auch Schmuckstücke aller Art. Es gab eine Mappe aus Menschenhaut, Musikinstrumente, die seltsame Disharmonien erzeugten. Die Raubzüge, die sich über die ganze Welt erstreckten, waren von der Umgebung, der Stimmung und der Jahreszeit bestimmt: Ein zugefrorenes Grab aufhacken zu müssen, ist sicherlich kein Vergnügen. Schließlich hörten sie von dem wertvollen Amulett im Grab eines 500 Jahre begrabenen holländischen Kapitäns. Das war der Anfang vom Ende.

Die holländischen Bauern erzählten ihnen, der Seemann sei seinerzeit von einer Bestie zerfleischt worden und seine Leiche verfluche jeden, der ihre letzte Ruhestätte berauben wolle. Sie hätten darauf hören sollen. Den Sarg zu öffnen, war erstaunlich leicht, doch dann grinste sie ein gut erhaltenes Gerippe an. Das Amulett auf seiner Brust ist aus grüber Jade und in Form eines Hundes oder einer Sphinx geformt, die Augen scheinen voll Bosheit zu funkeln. Die beigelegte Inschrift können sie leider nicht entziffern, doch offensichtlich sind sie auf einen Schatz gestoßen, der nur im verbotenen Buch „Necronomicon“ als Talisman eines Körperfresserkultes aus Zentralasien erwähnt wird.

Als sie sich gegenseitig auf die Schulter klopften, begann das Grauen. Fledermausschwärme stiegen auf, und ein großer Hund begann in der Ferne zu heulen …

_Drei Gedichte (ca. 7:40 Min.)_

Lovecrafts Gedichte werden von Simon Newby vorgetragen. Die drei englischsprachigen Texte sind im Booklet abgedruckt (allerdings mit einem Druckfehler, auf den ich später zu sprechen komme.) Eine Übersetzung fehlt.

|The Cats|

In der erfundenen Alptraumstadt Arkham streunen nur die Katzen durch die nächtlichen Gassen. Alles ist öde und verlassen, von Verfall erfüllt, ein Inbild des Untergangs. Nichts geschieht außer dem unheilvollen „Heulen“ und „Schreien“ der geisterhaften Katzen.

|The Wood|

Der uralte majestätische Wald, der hier einst stand, hat dem Wald der hochragenden Wolkenkratzer weichen müssen; nur wenige Jahrhunderte waren dazu nötig. Doch der alte Wald war keineswegs unbewohnt. Die Bewohner der Marmortürme feierten bis zu jenem Tag, als ein unvorsichtiger Troubadour mit fluchwürdigen Worten einen alten Schrecken aus den Tiefen weckte. Nun steht hier, wo sich die Stadt einst befand, wieder ein urtümlicher Wald. Doch die Morgensonne weigert sich, dort zu scheinen.

|Festival|

Die Toten feiern das Julfest zur Wintersonnenwende an einem Alter, der inmitten von Druidengräbern in einem Eichenwald liegt. Und der Hörer mag ein Abt oder Priest sein, der sich dem Satan geweiht hat und dem Altar das „Zeichen des Tiers“ zeigt, von dem der Evangelist berichtet.

_Handlung von „Das Fest“ (Länge: 44:44 Min.)_

Unser Chronist ist ein junger Mann, der zur Stadt seiner Väter am Ostmeer (= Providence an der US-Ostküste) gereist ist, von der er nur aus seinen Träumen weiß, aber wohin man ihn gerufen hat. Es ist die Zeit des Julfestes, das unter Christenmenschen als „Weihnachten“ bekannt ist. Nur ist unser Berichterstatter alles andere als ein Christenmensch. Das Land wurde vor 300 Jahren besiedelt, doch sein Volk ist weit älter und kam aus dem Meer, weshalb es noch die alten Riten ehrt.

Er trifft in Kingsport ein, der uralten, verwinkelten Stadt unter dem kirchengekrönten Berggipfel, wo der Friedhof noch viele alte Grabsteine beherbergt, darunter auch die von vier Verwandten, die im Jahr 1692 wegen Hexerei hingerichtet wurden. Er findet das Haus an der Green Lane, das noch vor dem Jahr 1650 erbaut worden ist.

Auf sein Klopfen öffnet ein alter Mann, doch weil der stumm ist, schreibt er dem Besucher seinen Willkommensgruß auf ein Stück Papier. Sein Gesicht ist so wächsern bleich, dass es aussieht, als trage er eine Maske. Zwischen Möbeln aus dem 17. Jahrhundert sitzt eine Alte an einem Spinnrad, die ihm zunickt. Nach der Lektüre bekannter Bücher wie dem verbotenen „Necronomicon“ schließt sich der junge Mann seinen Gastgebern an. In Kapuzenmäntel gehüllt, machen sich die drei auf den Weg, um am Julfest teilzunehmen. Er wundert sich, dass er und seine Begleiter im Schnee keine Fußabdrücke hinterlassen …

((Weiterlesen auf eigene Gefahr!))

Auf dem Friedhof brennen Totenlichter, und sie betreten zusammen mit anderen Bewohnern der Stadt ein Kellergewölbe oder eine Krypta, in der eine Wendeltreppe weit hinab in die Tiefe des gewachsenen Felsens führt, durch die stinkenden Katakomben, bis zu einer ausgedehnten Höhle. Hier fließt träge ein Fluss, dessen ölig schwarzes Wasser im Schein einer grünlich leuchtenden Flammensäule glitzert. Neben Giftpilzen werden Pflanzenopfer dargebracht: Das Fest hat begonnen. Da kommen geflügelte Wesen an, die die Gläubigen besteigen, um in weitere Tiefen der Unterwelt zu fliegen, wer weiß, zu welchem Ziel.

Doch unser junger Mann ist mittlerweile derart von Grauen erfüllt, dass er sich weigert, den letzten geflügelten Vorboten des wahren Gottes zu besteigen. Zum Beweis dessen, dass er ein Teil dieser Bevölkerung ist und mitkommen muss, zeigt ihm der stumme Alte, offenbar ein Anführer, zuerst einen Siegelring und eine alte Taschenuhr – sie stammen aus dem Jahr 1698 – dann entfernt er seine Maske. Entsetzen packt den Erzähler, und er wirft sich in den Styx. Nur um im Krankenhaus von Kingsport zu erwachen, wo eine unangenehme Überraschung ihn erwartet …

|Mein Eindruck|

In diesen beiden frühen Geschichten befolgt Lovecraft konsequent die Forderung des von ihm glühend verehrten Edgar Allan Poes, wonach eine „short story“ in allen ihren Teilen auf die Erzielung eines einzigen Effektes ausgerichtet („unity of effect“) sein solle, egal ob es sich um die Beschreibung eines Schauplatzes, von Figuren oder um die Schilderung der Aktionen handele, die den Höhepunkt ausmachen (können).

Um die Glaubwürdigkeit des berichteten Geschehens und der Berichterstatter zu erhöhen, flicht Lovecraft zahlreiche – teilweise verbürgte, meist aber gut erfundene – Quellen ein, die beim weniger gebildeten Leser den Unglauben aufheben sollen. Erst dann ist die Erzielung kosmischen Grauens möglich, das sich Lovecraft wünschte. In den meisten Erzählungen gelingt ihm dies, und daher rührt auch seine anhaltende Wirkung auf die Schriftsteller weltweit. Erfolgreiche Serien wie Brian Lumleys „Necroscope“ oder Hohlbeins „Hexer von Salem“ wären ohne Poe und Lovecraft wohl nie entstanden.

Das heißt aber nicht, dass Lovecraft keine negativen Aspekte eingebracht hätte. Als gesellschaftlicher Außenseiter, der nur intensiv mit einer Clique Gleichgesinnter kommunizierte (er schrieb Briefe wie andere Leute E-Mails), ist ihm alles Fremde suspekt und verursacht ihm Angst: „Xenophobie“ nennt man dieses Phänomen. Darüber hinaus hegte er zunächst rassistische und antisemitische Vorurteile (wie leider viele seiner Zeitgenossen), sodass er von kultureller Dekadenz und genetischer Degeneration schrieb.

|Degenerierte Hauptfiguren|

Degeneration ist das Hauptthema in „Die Ratten im Gemäuer“, eine Story, die 1924 im gleichen Jahr wie „Der Hund“ entstand und nur ein Jahr vor „Das Fest“. In „Der Hund“ sind die beiden frevlerischen Grabräuber moralisch so weit herabgesunken, dass ihre Sünden einen rächenden Fluch heraufbeschwören, der für ihre Bestrafung sorgt. In „Das Festival“ gehört der junge Chronist, ohne es zunächst zu ahnen, einem uralten Geschlecht von Humanoiden an, das seit alters einem unheiligen Gott opfert, der vermutlich mit Cthulhu gleichzusetzen ist. Denn an einer Stelle heißt es, dass dieses Volk aus dem Meer kam, genau wie die sinistren Bewohner des unseligen Innsmouth. Und in Lovecrafts Meer herrscht immer nur „der träumende Cthulhu“ in der Unterwasserstadt R’lyeh.

Während die erste Story ebenso gut von Wolfgang Hohlbein („vgl. dazu seinen Roman „Anubis“) stammen könnte und mit ihrer Grusel-Action jedem modernen Leser gefallen dürfte, ist „Das Fest“ doch ein ganz anderes Kaliber. Sie ist auf sehr spezifische Weise Teil des Lovecraft-Mythos, wonach in der Gegend von Providence und dem nahe gelegenen Salem im 17. Jahrhundert – historisch belegte – Hexenprozesse stattgefunden haben. Dabei habe es sich um echte Hexer und echte Hexen gehandelt, die und deren Verwandte jedoch überlebt haben. Und wenn nicht in Fleisch und Blut, so doch als Gespenst: als untote Erinnerung.

|Unheilige Riten|

Diese Geister, behaupten diese und andere Stories, versammeln sich zum Julfest, um unheilige Riten in den Tiefen der Hügel Neuenglands etc. zu feiern. Neuengland ist bei HPL der Hort von Dimensionstoren, aus denen die Großen Alten, die einst von Göttern vertrieben wurden, wieder in unsere Welt einbrechen, manchmal um unheiligen Nachwuchs zu zeugen („Das Grauen von Dunwich“), manchmal um Menschen zu ihren Jüngern zu machen („Der Fall Charles Dexter Ward“). Dass die alten Salem-Hexer („Das Ding auf der Schwelle“) ihnen helfen, dürfte klar sein. Und dass Cthulhus Nachkommen hier ihre Feste feiern, ebenfalls.

Das alles kann aber nicht verhindern, dass dieser Story irgendwie die Pointe abhandenkommt. Denn was ganz am Schluss folgt, ist viel zu schwach in der Wirkung, um aus der Story viel mehr als eine stimmungsvolle Studie in Horrorphantasien zu schmieden.

|Die Gedichte|

Auch den Gedichten mangelt es eklatant an Handlung. Dies sind allerdings keine Balladen von Goethe („Erlkönig“ lässt sich auch als Grusel interpretieren) oder Schiller (der hatte mit „Der Geisterseher“ richtig guten Grusel-Trash geschrieben), sondern eine Art pseudoviktorianische Dekadenzlyrik, wie man sie vielleicht von einem Epigonen Baudelaires erwarten könnte. Baudelaire schrieb richtig gute Vampirstorys in seinen Gedichten, die in „Die Blumen des Bösen“ veröffentlicht wurden (ab 1861 in mehreren, teils verbotenen und zensierten Ausgaben).

HPL zieht die gleichen Sujets heran, doch hat er es nicht so mit Vampiren (in keiner einzigen Story), sondern mit uralten Flüchen („The Wood“), mit pittoreskem Verfall („The Cats“) und den degenerierten Anhängern verbotener Riten („Festival“). Alle drei Themen gehören zu HPLs Standardrepertoire und bieten dem Kenner nichts Neues. Neu ist jedoch die Tatsache, dass sie erstmals in der Originalsprache auf einem deutschen Medium präsentiert werden, noch dazu von jemandem, der der englischen Sprache mächtig ist.

_Handlung von „Das Bild im Haus“ (gesprochen von Torsten Sense)_

Ein junger Archäologe interessiert sich für die unheimlichen einsamen Gehöfte, die in Neu-England verlassen und überwuchert vor sich hin schlummern. Doch sie bergen das Grauen und das Groteske. Und ihre Fenster blicken wie Augen auf den ahnungslosen Besucher, sie erinnern sich an Unaussprechliches …

Es ist November 1896, als der junge Ich-Erzähler Zuflucht vor einem Wolkenbruch sucht. Er ist durch das Miskatonic Valley nahe Arkham (= Salem/Massachusetts) geradelt. Ein Haus unter Ulmen bietet ihm Obdach, niemand antwortet auf seine Rufe, die Tür ist offen, und der Besucher tritt in eine andere Zeit.

Zuerst fällt ihm ein widerlicher Geruch auf. Sie entsteigt dem Inventar, das offenbar aus der Zeit vor 1776 stammt, als der amerikanische Unabhängigkeitskrieg ausbrach. Auf dem Tisch fällt ihm ein aufgeschlagenes Buch aus dem 16. Jahrhundert auf, das den Titel „Beschreibung des Kongo“ trägt und auf der Tafel 12 aufgeschlagen ist. Es zeigt den Metzgerladen von Menschenfressern auf drastischste Weise. Daneben steht ein Buch von Cotton Mather, der puritanischen Hauptfigur der Hexenprozesse von Salem.

Da hört er Schritte, die von oben kommen. Es ist ein alter, weißbärtiger Mann, doch erscheint er überraschend stämmig und kräftig, seine blauen Augen blicken wach, wenn auch ein wenig blutunterlaufen. Nur will sein lumpenartiges Äußeres gar nicht dazu passen. Der Besucher ist abgestoßen und verspürt Beklommenheit. Der Alte bietet höflich einen Stuhl an und erwähnt, es würden keine Postkutschen mehr von Arkham kommen und der Bezirkslehrer sei seit anno 84 verschwunden. Er setzt eine alte Brille mit achteckigen Gläsern auf. Dann bittet er seinen Besucher, aus dem „Regnum Congo“, das in Latein geschrieben ist, zu übersetzen.

Seine freundliche Geschwätzigkeit vermag das gierige Glitzern in den Augen kaum zu verbergen, mit der er seinen Gast belauert. Während des folgenden bizarren Gesprächs wächst in unserem jungen Besucher nicht nur der Ekel vor den sonderbaren Ausführungen seines Gastgebers, sondern auch die Gewissheit, dass der Alte ein böses Spiel mit ihm treibt und sein Opfer bereits in der Falle weiß …

|Mein Eindruck|

Diese frühe Erzählung aus dem Jahr 1920 wird selten abgedruckt, denn sie rührt an ein Tabu, der sehr unappetitlich ist: Kannibalismus. Der Alte verschlingt seine ahnungslosen Opfer, nach dem Vorbild der Bewohner des Kongo. Degeneration – ein häufig wiederkehrendes Motiv in Lovecrafts Erzählungen. Degeneration nicht so sehr im körperlichen Sinne (der Alte ist unnatürlich kräftig und gesund), sondern vielmehr im moralischen. Die Grenze zwischen Tier und Mensch existiert für den Alten nicht mehr.

Eingebettet in das Bild vom Haus des Menschenfressers ist die Warnung vor der unheiligen Vergangenheit Neu-Englands – der Verweis auf Cotton Mather spricht für den Eingeweihten Bände. Lovecraft entführt den Leser bzw. Hörer in diese andere Zeit, um ihn mit schaurigen Phänomenen zu konfrontieren und davor zu warnen.

Archäologen sind in dieser Phase seine bevorzugten Protagonisten – beispielsweise in „Der Hund“ in „Ruf des Dämon 1“, aber auch in vielen weiteren Erzählungen. Sie begegnen schrecklichen verbotenen Geheimnissen, denen ihr säkularisierter Verstand, der Gott entsagt hat, nicht entgegenzusetzen hat. Anfällig für alle Arten von „unheiligen“, blasphemischen und sonstigen Dingen, leisten sie auch selten Gegenwehr gegen die Großen Alten, von denen in der nächsten Geschichte die Rede sein soll.

_Handlung von „Die Farbe aus dem All“ (gesprochen von Simon Jäger)_

Es gibt eine Gegend am Miskatonic westlich von Arkham, wo die Berge steil emporsteigen, die man die „Verfluchte Heide“ nennt. Die früheren Bewohner sind fortgezogen, und Fremde werden hier nicht heimisch, weil schlechte Träume sie heimsuchen. Nur der alte Ammi Pierce, der unweit Arkham lebt, spricht über das, was hier einst blühte und gedieh, an der alten Straße, wo die Farm von Nahum Gardner lag. Die neue Straße macht einen großen Bogen nach Süden um dieses Gebiet herum.

Möge der geplante Stausee bald die verfluchte Heide bedecken und die seltsam unnatürlichen Farben auslöschen, in denen sie funkelt. Aber ob man vom Wasser dieses Sees trinken sollte, fragt sich der Landvermesser, der diese Gegend zuerst besucht hat. Die Heide mit ihrem stinkenden Moder, den verkrüppelten Bäumen und dem verdorrten Gras breitet sich jedes Jahr weiter aus.

Folgendes erfuhr er von Ammi Pierce, dem besten Freund der Familie Gardner: Dort, wo einst die florierende Farm von Nahum Gardner stand, umgeben von fruchtbarem Weideland und Obstanbau, existiert nur noch toter Staub, der das Sonnenlicht in merkwürdigen, unirdischen Farben reflektiert.

Alles begann, nachdem 1882 der Meteorit sich in der Nähe von Nahums Brunnen in die Erde gegraben hatte. Ammi ist überzeugt: Eine fremde Macht aus dem All versank in der Erde, kurz darauf setzten rätselhafte Veränderungen bei Tieren und Pflanzen ein. Die Natur schien aus dem Gleichgewicht, die armen Menschen – zuerst Mrs Gardner – wurden von einem Wahnsinn ergriffen oder verschwanden spurlos, und alle Dinge weit und breit begannen, in unbeschreiblichen, widerwärtigen Farben zu leuchten – bis heute …

|Mein Eindruck|

Dies ist eine der besten Geschichten des Meisters aus Providence. Sie besticht den Leser bzw. Hörer durch ihre reportagehafte Genauigkeit, die Kühlheit ihrer genauen Beschreibungen, die trotz des horriblen Inhalts dennoch von der Vernunft gesteuert werden, als habe Edgar Allan Poe selbst die Feder des Schreibers geführt. Auch die „Einheit der Wirkung“, eine zentrale Forderung Poes von der Kurzgeschichte, ist vollständig und vorbildlich erfüllt.

Diese Geschichte steigert sich in Stufen und mit Verschnaufpausen bis zu einem solch phantasmagorischen Moment kosmischen Schreckens, dass es ein Wunder wäre, wenn der Leser bzw. Hörer nicht davon ergriffen würde. Zuerst zeigen sich nur leise Andeutungen, die sich zunehmend verdichten, je schwerer die Beeinträchtigung von Nahum Gardners Farm wird. Ammi Pierce ruft auch Wissenschaftler der Miskatonic Universität herbei, die aber auch nicht allzu viel ausrichten können. Sie finden allerdings Kugeln in einer unirdischen Farbe, und es ist anzunehmen, dass diese Substanzen ihren Weg in den Brunnen und somit ins Trinkwasser der Gardners finden.

Schon bald ändert sich der Geisteszustand von Mrs Gardner. Ihr Mann sperrt sie auf den Dachboden, ihr folgen ihre drei Söhne. Das menschliche Drama nimmt seinen Lauf, bis selbst der Alte vom Wahnsinn ergriffen wird. Erst als Ammie Pierce Nachbarn und besorgte Bücher mobilisiert, um nach ihm zu sehen, erreicht der Horror seinen Höhepunkt. Sie blicken aus dem Farmhaus hinaus auf eine Vision der Hölle. Denn nun wächst das Grauen um eine weitere Dimension: das Grauen wird kosmisch. Es kommt von den Sternen und es kehrt zu den Sternen zurück, allerdings nicht ohne ein sinistres Erbe zu hinterlassen: die sich ausbreitende „verfluchte Heide“.

Diese Heide birgt etwas, das nicht nur physisch existiert, sondern auch die Träume des Heidebesuchers heimsucht. Wie schon Nahum Gardner sagte: „Es zieht einen an, man kommt nicht weg.“ Und deswegen blieb er auf seiner Farm bis zum bitteren Ende, ähnlich wie Ammi Pierce. Und ob der Landvermesser je davon loskommt, darf mit Fug und Recht bezweifelt werden.

_Die Gedichte (gesprochen von Simon Newby)_

|Astrophobos|

Das lyrische Ich beobachtet einen golden scheinenden Stern in der Nähe des Polarsterns und fabuliert von Schönheit, Heiterkeit, ja von himmlischer Herrlichkeit. Doch die Schönheit stellt sich als Trugbild heraus, als sich ein roter Schein darüber legt. Aus Hoffnung wird Hohn, aus Schönheit ein Zerrbild und aus Vergnügen Wahnsinn. Der Stern mag verschwinden, doch der Horror bleibt „forevermore“.

Das Gedicht hat in seiner gedanklichen und bildlichen Abfolge starke Ähnlichkeit mit Poes Gedicht „The Haunted Palace“, das in der Erzählung „Der Untergang des Hauses Usher“ nachzulesen ist.

Simon Newbys langsamer und gut verständlicher Vortrag erscheint mir sowohl falsch betont als auch falsch intoniert. Der Ton müsste nicht erschreckt klingen, sondern zunächst verzückt und in der zweiten Hälfte verrückt. Über die Aussprache der altertümlichen Wörter bin ich mit ihm als Anglist ebenfalls nicht einer Meinung.

|The Messenger| (|Der Bote|)

Dieses Gedicht lässt sich nur als Replik auf einen Journalisten verstehen. Bertrand Kelton Hart lebte fröhlich in Providence, Rhode Island, und arbeitete als Autor einer Kolumne für das Providence Journal, als er entdecken musste, dass das Wohnhaus der Figur Wilcox in HPLs berühmter Story „The Call of Cthulhu“ sein eigenes in Thomas Street Nr. 7 war.

Hart war nicht auf den Kopf gefallen und revanchierte sich in seiner Kolumne mit der Drohung, HPL in dessen Domizil in der Barnes Street einen Geist oder Ghoul auf den Hals zu schicken, der ihn täglich morgens um 3 mit dem Rasseln von Ketten wecken sollte.

Im Gedicht ist das lyrische Ich also vorgewarnt, glaubt aber nicht so recht an das Erscheinen des Gespenstes. Er fühlt sich vom Kreuz der Kirche (dem Elder Sign) beschützt. Die Kirchturmuhr schlägt drei, als auf einmal an der Tür ein Klirren und Rasseln von Ketten anhebt …

Simon Newby intoniert das Gedicht melodramatisch, doch ein koketter, zynischer Ton hätte zu der Haltung des Autors wohl besser gepasst.

|The House |

Gemeint ist das konkrete Haus auf Nr. 135 Benefit Street in Providence, Rhode Island. Dies hat HPL auch zu seiner bekannten und verfilmten Erzählung „The Shunned House“ („Das gemiedene Haus“) inspiriert.

Wie so viele Gruselhäuser in der Schauerliteratur ist auch dieses Haus entsprechend ausstaffiert, doch wird es lediglich von außen gezeigt, als wäre ein bewusstes Wesen von unermesslichem Alter, vor dem man sich fürchten sollte. Die Pointe ist jedoch die Haltung des Betrachters in der vierten Strophe. Ähnlich wie die Hauptfigur in der Story „Der Außenseiter“ wird sich der Betrachter bewusst, dass er schon einmal hier war, und zwar vor ziemlich langer Zeit. Wer oder was ist er?

|Mein Eindruck|

Diese Gedichte sind keine Balladen von Goethe („Erlkönig“ lässt sich auch als Grusel interpretieren) oder Schiller (der hatte mit „Der Geisterseher“ richtig guten Grusel-Trash geschrieben), sondern (außer in „The Messenger“) eine Art pseudoviktorianische Dekadenzlyrik, wie man sie vielleicht von einem Epigonen Baudelaires oder Poes erwarten könnte. Baudelaire schrieb richtig gute Vampirstorys in seinen Gedichten, die ab 1861 in „Die Blumen des Bösen“ veröffentlicht wurden.

Furcht vor den kalten und wankelmütigen Sternen gehört ebenso zu HPLs Standardrepertoire wie verfallende, sinistre Häuser und Geister. Die Gedichte bieten dem Kenner nichts Neues. Neu ist jedoch die Tatsache, dass sie erstmals in der Originalsprache auf einem deutschen Medium präsentiert werden, noch dazu von jemandem, der der englischen Sprache sehr gut mächtig ist.

|Die Sprecher|

Simon Jäger, die deutsche Stimme von Heath Ledger und Josh Hartnett, ist ein sehr fähiger Sprecher für diese gruseligen Texte. In der actionbetonten Story „Der Hund“ hat mir sein Vortrag besser gefallen als in „Das Fest“, aber das liegt vor allem an der grundverschiedenen Machart der beiden Erzählungen. In „Das Fest“ muss die Musik einen ungleich größeren Beitrag zur gewünschten Wirkung leisten, was dazu führt, dass Jägers Vortrag ständig von Musik unterbrochen wird.

Auch Simon Newby, der in viel größerem Maße als Jäger als Schauspieler tätig gewesen ist, verfügt über eine ausdrucksstarke Stimme, die es ihm erlaubt, auch so schwierige Texte wie die auf alt getrimmten Gedichte HPLs vorzutragen. Über die korrekte Aussprache solcher exotischen Ausdrücke wie „fungi“ (= Pilze) und „foetor“ (eine Übersetzung dafür konnte ich in meinen Wörterbüchern nicht finden, aber es klingt nicht nach etwas Gesundem) lässt sich wohl streiten.

|Schwächen|

Die Freude über die Premiere der Gedichtvorträge wird dadurch getrübt, dass der Englischkenner statt des erwarteten britischen Akzents, der der britischen Schreibweise der Texte („colour“ und „splendour“ statt des amerikanischen „color“ und „splendor“) angemessen wäre, einen Akzent zu hören bekommt, der mit dem amerikanischen R viel mehr gemeinsam hat als das Britische. Stellt man sich vor, ein BBC-Schauspieler wie, sagen wir mal, Ian Holm würde die Gedichte vorgetragen, so erhielten sie eine ganz andere Versmelodie, die einem kalte Schauer den Rücken hinunterjagen würde. Statt der vorhandenen, gewollt düsteren Wirkung bekäme ich einen nobel erhabenen Vortrag. So jedoch ließen mich die Gedichte unberührt.

Die Forderung nach einem britischen Akzent ist nicht abwegig, denn HPL war erstens ein äußerst gebildeter Bewohner Neuenglands (wo man eher die britische Aussprache pflegte), kein Hinterwäldler aus Texas, und zweitens ein Verehrer von anderen Horrorschriftstellern wie etwa Poe, der ebenfalls sehr klang-abhängige Gedichte („quoth the raven >Nevermore<") verfasste, die für den Vortrag in einer Teegesellschaft bestimmt waren, nicht fürs Lesen. (Horror, richtig vorgetragen, packt das Gemüt des Zuhörers an Stellen, von denen dieser nicht einmal deren Existenz ahnte, und zerrt ihn dann unbarmherzig über die Kante des Abgrunds.)

Dass diese These hinsichtlich der Akustik zutrifft, belegt schon ein kurzer Blick auf das Klangschema der Verse von "The Cats": Da wimmelt es nicht nur von streng ausgeführten Kreuzreimen, sondern auch von Alliterationen wie "Babels of blocks" und "High heavens". Verse wie "Colour and splendour, disease and decaying" erwachen erst im angemessenen Vortrag zu Leben, um ihre gruselige Wirkung zu entfalten. Der Knackpunkt ist lediglich der "angemessene Vortrag". An diesem hapert es. Eine Sache der Einstellung zum Text.

Simon Jäger liest "eine Vision von Fuseli" [sic] statt "eine Vision wie von Füeßli", denn Lovecraft meint den Schweizer Maler schauriger Motive wie "Der Nachtmahr", das wohl sein bekanntestes Bild ist (ein dunkler Gnom sitzt auf dem Bauch einer ohnmächtigen, weißgewandeten jungen Frau, und hinterm Vorhang lugt ein weiterer Dämon hervor).

_Die Musik _

Da es keinerlei Geräuschkulisse außer ein paar Spezialeffekten (Hundegeheul etc.) gibt, beruht die emotionale Wirkung der Akustik einzig und allein auf dem Vortrag des Sprechers und auf der Musik. Die Musik stellt so etwas wie ein experimentelles Novum dar (wie so einiges auf dem Hörbuch). Sie wurde nicht von einem einzelnen Komponisten zwecks Aufführung durch ein Orchester geliefert, sondern wird von einem Musikerkollektiv erstellt und zugleich aufgeführt: dem "Orchester der Schatten".

Wie uns ein Blick auf die Biografien von Stephan Wolff und Matthias Manzke informiert, so sind beide Komponisten, Wolff noch viel mehr als Manzke. Der Musikdozent Wolff bewegt sich als Komponist in Jazz und Pop ebenso gewandt wie in Klassik oder Filmmusik. Ja, selbst für Kinder hat er Songs und Lieder komponiert. Er spielt Keyboards. Manzke trat in Jazzensembles und Bigbands auf, dirigiert und komponiert; auf dem Foto hält er ein Saxophon, das auf der CD ebenso erklingt wie seine Flöte. Neben diesen beiden Herrschaften gehören zum "Orchester der Schatten" noch Lady Merle Ehlers (Drums, Perc), Sven Hinse (Bass) und Bernhard Suhm (Cello).

Über den Einsatz von jazzbasierten Instrumenten und Musikmotiven in einer Gruselproduktion ließe sich trefflich streiten. Das Booklet behauptet, es handle sich um ein "Stummfilmorchester". Ich für meinen Teil konnte mich nach einer Weile daran gewöhnen, besonders an die einfühlsam eingesetzte Percussion und an das in unheimlichen Kadenzen schwelgende Piano.

|Soundqualität (DDD)|

Da alle Produktionsstufen auf digitaler Technik basieren, ist der Qualitätsverlust beim Aufnehmen und Übertragen sowie bei der Wiedergabe absolut minimal. Der Zuhörer bekommt folglich optimale Qualität zu hören, sofern er über das angemessene Equipment verfügt. Einem Computerlautsprecher aus China würde ich die CD nicht unbedingt überantworten, eher schon meiner HiFi-Anlage oder auch meinem DVD-Spieler.

_Unterm Strich_

Die Kombination aus "Der Ruf des Dämon 1: Dunkle Geschichten" und "Wälder der Finsternis" bietet dem Liebhaber gepflegten Grusels aus dem House Lovecraft eine interessante Mischung aus total Traditionellem – die Storys und Gedichte – und innovativ Neuem: Die akustische Untermalung durch das "Orchester der Schatten". Nicht jedem wird dieser zweite Aspekt schmecken, muss doch erst einmal eingefahrene Hörgewohnheiten ablegen oder umstellen, um sich für das Neue zu öffnen.

Abgesehen von einigen kritischen Punkten hinsichtlich der Gedichte halte ich das Hörbuch für eine herausragende Produktion. Das Textmaterial ist ebenso anregend wie die kreativ gestaltete Musik, und das achtseitige Booklet wartet mit umfangreichen, ausreichenden Informationen zu Autor, Orchester, den Machern und mit den Gedichttexten auf. Mehr kann man zu diesem Preis kaum verlangen. Für Lovecraft-Puristen dürfte das ganze Ding der Horror sein.

"Der Ruf des Dämon 2: Wälder der Finsternis" ist wohl eher eine Missinterpretation, denn weder in "Das Bild im Haus" noch in "Die Farbe aus dem All" stehen Wälder im Vordergrund, sondern eher am Rande des Geschehens. Besonders die zweite, sehr lange Erzählung ist ein Meisterstück HPLs, das jeder Fan kennen sollte. Es steht in einer Reihe mit Grundpfeilern des lovecraftschen Werkes wie "Der Schatten aus der Zeit" (1934) oder "Schatten über Innsmouth" (1936), obwohl es bereits 1927 entstand.

Das Audiobook bietet dem Liebhaber gepflegten Grusels aus dem Hause Lovecraft eine interessante Mischung aus total Traditionellem – die Storys und Gedichte – und innovativ Neuem: die einfühlsame akustische Untermalung durch das "Orchester der Schatten". Insgesamt also mehr etwas für Spezialisten.

Preislich ist diese Zusammenfassung der beiden separaten Hörbücher "Dunkle Geschichten" und "Wälder der Finsternis" ein Gewinn, denn statt zweimal knapp 20 Euro zahlt der Käufer nur noch knapp 15 Euro.

|Inszenierte Lesungen auf 4 Audio-CDs
Spieldauer: 240 Minuten
Info: The Hound; The Festival (1924/25); The Cats; The Wood, Festival;
Aus dem Englischen von Susanne Althoetmar-Smarczyk, Anke Püttmann (Bild im Haus) und Matthias Manzke (Farbe aus dem All)
ISBN-13: 978-3821863436|
[www.eichborn.de]http://www.eichborn.de

_Das |Gruselkabinett| von H. P. Lovecraft auf |Buchwurm.info|:_

["Carmilla, der Vampir" 993 (Gruselkabinett 1)
["Das Amulett der Mumie" 1148 (Gruselkabinett 2)
["Die Familie des Vampirs" 1026 (Gruselkabinett 3)
["Das Phantom der Oper" 1798 (Gruselkabinett 4)
["Die Unschuldsengel" 1383 (Gruselkabinett 5)
["Das verfluchte Haus" 1810 (Gruselkabinett 6)
["Die Totenbraut" 1854 (Gruselkabinett 7)
["Spuk in Hill House" 1866 (Gruselkabinett 8 & 9)
["Dr. Jekyll und Mr. Hyde" 2349 (Gruselkabinett 10)
["Untergang des Hauses Usher" 2347 (Gruselkabinett 11)
["Frankenstein. Teil 1 von 2" 2960 (Gruselkabinett 12)
["Frankenstein. Teil 2 von 2" 2965 (Gruselkabinett 13)
["Frankenstein. Teil 1 und 2" 3132 (Gruselkabinett 12 & 13)
["Die Blutbaronin" 3032 (Gruselkabinett 14)
["Der Freischütz" 3038 (Gruselkabinett 15)
["Dracula" 3489 (Gruselkabinett 16-19)
["Der Werwolf" 4316 (Gruselkabinett 20)
["Der Hexenfluch" 4332 (Gruselkabinett 21)
["Der fliegende Holländer" 4358 (Gruselkabinett 22)
["Die Bilder der Ahnen" 4366 (Gruselkabinett 23)
["Der Fall Charles Dexter Ward" 4851 (Gruselkabinett 24/25)
["Die liebende Tote" 5021 (Gruselkabinett 26)
["Der Leichendieb" 5166 (Gruselkabinett 27)
["Der Glöckner von Notre-Dame" 5399 (Gruselkabinett 28/29)
["Der Vampir" 5426 (Gruselkabinett 30)
["Die Gespenster-Rikscha" 5505 (Gruselkabinett 31)
["Jagd der Vampire. Teil 1 von 2" 5730 (Gruselkabinett 32)
["Jagd der Vampire. Teil 2 von 2" 5752 (Gruselkabinett 33)
["Jagd der Vampire" 5828 (Gruselkabinett 32+33)
["Die obere Koje" 5804 (Gruselkabinett 34)
["Das Schloss des weißen Lindwurms" 5807 (Gruselkabinett 35)
["Das Bildnis des Dorian Gray (Gruselkabinett 36/37)"]http://buchwurm.info/book/anzeigen.php?id__book=5919
["Die Maske des roten Todes" (Gruselkabinett 46)]http://buchwurm.info/book/anzeigen.php?id__book=6735
["Verhext" (Gruselkabinett 47)]http://buchwurm.info/book/anzeigen.php?id__book=6734

Fritz Lang, Heinz Oskar Wuttig, Susa Gülzow – Die 1000 Augen des Dr. Mabuse (Film-Hörspiel)

Gruselkrimi mit Tiefgang, sauber produziert

Man schreibt das Jahr 1957. Exakt 25 Jahre nach dem Selbstmord des Verbrechergenies Dr. Mabuse scheint jemand dessen Vermächtnis anzutreten, um die Grundfesten der Staatsgewalt zu erschüttern. Eine neue obskure Organisation ermordet den allzu neugierigen Fernsehreporter Peter Barter, bedroht die Mordkommission und nimmt als nächstes Opfer einen amerikanischen Industriellen ins Visier. Die Intrige gegen ihn ist fein gesponnen, doch wird Kommissar Kras rechtzeitig zur Stelle sein?

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Karen Duve – Die entführte Prinzessin (Lesung)

Wenn Ritter Bredur dem baskarischen Prinzen Diego beim Festmahl nicht ein Bein gestellt hätte, wäre die Brautwerbung um Prinzessin Lisvana nur eine Formsache gewesen. So aber führt der folgende Zwist zur Entführung der Dame durch die Baskarier. Doch in Baskarien wird Diego seiner Dame nicht froh: Sie verweigert die Heirat. Während Diego um Fassung ringt, bricht Ritter Bredur gen Baskarien auf, um seine Liebste aus den Klauen Diegos zu befreien. – Und wo kommt jetzt der Drache vor?

Die Autorin

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Artur Brauner / Harald Reinl / Susa Gülzow / Laduslaus Fodor / Marc Behm – Im Stahlnetz des Dr. Mabuse

Rasanter Thriller mit dem Nostalgie-Touch

Man schreibt das Jahr 1961. 29 Jahre nach dem Selbstmord des Verbrechergenies Dr. Mabuse scheint jemand dessen Vermächtnis anzutreten, um die Grundfesten der Staatsgewalt zu erschüttern. Eine Reihe mysteriöser Morde trägt die unverkennbare Handschrift des genialen Verbrechers Dr. Mabuse. Seine Spur führt Inspektor Lohmann, den FBI-Agenten Joe Como und die Journalistin Maria Sabrehm direkt in ein Gefängnis. Dort wird den Häftlingen in der Abteilung D ein Rauschgift verabreicht, das sie zu willenlosen Werkzeugen Mabuses macht. Um den Verbrecher zu entlarven, lässt sich Como selbst in die Haftanstalt einweisen.

Artur Brauner / Harald Reinl / Susa Gülzow / Laduslaus Fodor / Marc Behm – Im Stahlnetz des Dr. Mabuse weiterlesen

Wolf, Manfred (Hg.) / Goethe, Johann Wolfgang von – Leser fragen – Goethe antwortet (Lesung)

Weisheiten aus alten Tagen – noch aktuell?

In einer Art Interview soll Herr von Goethe „klassische Lebenshilfen“ liefern, so steht es auf dem Titelbild. Nichts Menschliches soll ihm ja angeblich fremd sein, und so antwortet er in gedrechselten Sätzen auf Fragen zu Themen wie Liebe, Frauen, Liebhaber, aber auch alles zwischen A wie Arbeit und Z wie Zustand.

Der Autor
Wolf, Manfred (Hg.) / Goethe, Johann Wolfgang von – Leser fragen – Goethe antwortet (Lesung) weiterlesen

Domínguez, Carlos María – Papierhaus, Das (Lesung)

_Die Schattenlinie der Liebe und der Bücherwelt_

Ein Universitätsdozent erhält eines Tages ein altes Exemplar von Joseph Conrads Roman „Die Schattenlinie“. Doch es kommt eigentlich zu spät, denn die Adressatin, eine Literaturdozentin und -liebhaberin, ist kürzlich verstorben. Bei dem Versuch, den Absender kennen zu lernen und ihm das Buch zurückzugeben, stößt er auf ein tragisches Schicksal.

_Der Autor_

Carlos María Domínguez wurde 1955 in Buenos Aires, Argentinien, geboren und lebt seit 1989 in Montevideo, Uruguay. Hier arbeitet er als Schriftsteller, Journalist und Literaturkritiker. Sein Werk umfasst drei Romane, Biografien, ein Theaterstück und natürlich viele Reportagen, von denen einige als Buch veröffentlicht wurden. Seine Erzählung „Das Papierhaus“ wurde 2001 in Uruguay mit dem Premio Lolita Rubial ausgezeichnet und ist das erste auf deutsch erschienene Buch des Autors.

_Der Sprecher_

Jürgen Tarrach erhielt seine Schauspielausbildung am Max-Reinhardt-Seminar in Wien und stand seit Mitte der neunziger Jahre in zahlreichen großen Rollen auf der Bühne. Zu seinen Filmerfolgen zählen „Die Musterknaben“, neben Oliver Korittke, und – zusammen mit Dietmar Bär – „Durch dick und dünn“ sowie diverse Rollen in Film und Fernsehen. (Verlagsinfo) Tarrach liest die ungekürzte Fasssung. Regie führte Torsten Feuerstein.

_Handlung_

Bluma Lennon ist Literaturdozentin an der Uni Cambridge und begeistert sich leidenschaftlich für Bücher. Doch genau diese Leidenschaft wird ihr zum Verhängnis, wie sich leider erweist.

Kurz nachdem sie in einer Buchhandlung eine alte Ausgabe der „Gedichte“ von Emily Dickinson (USA, 19. Jahrhundert) erstanden hat und gerade in das zweite dieser Kunstwerke vertieft ist, wird sie von einem Auto überfahren.

Ein argentinischer Kollege, dessen Namen wir nie erfahren, tritt ihre Nachfolge an der Uni an und erhält kurz nach ihrem Tod ein an sie adressiertes Päckchen aus Uruguay mit kuriosem Inhalt: Es handelt sich um ein altes, zerlesenes Exemplar von Joseph Conrads (Polen, 19. Jahrhundert) Roman „Die Schattenlinie“. An Buchdeckeln und -rücken klebt eine Zementkruste – interessant. Kein Schreiben begleitet das Buch, nur eine Widmung Blumas gibt Aufschluss über den Absender des Päckchens: „Für Carlos als Andenken an die verrückten Tage in Monterrey“.

Diese Widmung wurde vor zwei Jahren auf einem Literaturkongress in Monterrey geschrieben, vermutlich für einen ihrer Liebhaber, mutmaßt Blumas Kollege. Doch viele ungeklärte Fragen bleiben: Warum kehrt das Buch verdreckt zwei Jahre später nach Cambridge zurück? Wo war es in der Zwischenzeit? Sollte Bluma etwas an den Zementresten ablesen? Hat da jemand ein Haus gebaut?

Man muss dem Rätsel auf den Grund gehen, so viel ist klar, doch es lässt sich nicht in Cambridge lösen. Auf den Spuren des Absenders begibt sich unser Literaturdozent schließlich von Neugier getrieben auf eine Reise um die halbe Welt. Zuerst in seine argentinische Heimat, dann ins urugayische Montevideo. Dort kennen sich die Büchersammler und -händler, weil sie sich gegenseitig bei Nachlassversteigerungen ausstechen.

Vom Antiquar de Narli hört unser Erzähler erstmals von Carlos Brauer, jedoch mit einer Art Grauen. Der Sucher wird weitergeschickt zu Delgado, der Carlos Brauer die längste Zeit kannte. Carlos hatte rund 20.000 Bücher, doch wo sind sie jetzt? Nach einem Brand in seiner Wohnung, bei dem er den Katalog zu seiner Bibliothek einbüßte, zog Carlos mitsamt seinen Büchern an die Küste.

Schließlich stößt der Sucher auf das titelgebende Papierhaus und die Geschichte eines Mannes mit einer außergewöhnlichen Liebe zu Büchern. Diese Liebe hat ihn seine Existenz gekostet.

_Mein Eindruck_

Jedes Buch hat sein eigenes Schicksal, aber jeder Leser, Sammler, Händler von Büchern ebenso. Die Rede ist hier nicht vom „Trend zum Zweitbuch“, sondern von richtig großen Privatbibliotheken. Sie sind so umfangreich, dass sie einen Faktor im Leben darstellen. Die Bücher belegen die komplette Wohnung und werden zu einem Gesundheitsrisiko oder einer potentiellen Brandquelle.

Sie besiedeln nicht nur den physischen Lebensraum, sondern auch die Innenwelt. Das führt mitunter zu recht kuriosen Verwaltungsmethoden. Nach welchem Prinzip soll eine Bibliothek sortiert und katalogisiert werden? Daran scheiden sich die Geister. Carlos Brauers Prinzip war a) die thematische Zuordnung und b) die Berücksichtigung von Dichterfeindschaften. Dazu gehört natürlich eine Menge Hintergrund- und Szenewissen. Er war quasi ein Insider der lateinamerikanischen Literaturszene. Doch wie soll er sich an die Ordnungsprinzipien erinnern, sobald seine Kartei verbrannt war? Plötzlich hat er keinen Zugang mehr zur alten Ordnung. Alles ändert sich.

Die Liebe einer Nacht mit Bluma Lennon hat als Unterpfand jenes Buch „Die Schattenlinie“ hervorgebracht. Und als Bluma starb, wurde dieses Unterpfand zu einem Bumerang, der das Leben der anderen Hälfte des Liebespaars ebenso aus der Bahn warf. Unser Erzähler lernt Carlos nie persönlich kennen, als sei Carlos jenseits der Schattenlinie verschwunden. Vielmehr erhält er mehrere Berichte über ihn und sein verrücktes „Papierhaus“, das Strandhaus, das er aus den Büchern seiner Bibliothek mauern ließ. Plötzlich hatte die Metapher, dass ein eifriger Leser in seiner Bibliothek lebe, Gestalt angenommen. Aber als Bluma ihr Buch zurückforderte, bedeutete dies das Ende dieses Hauses …

Der Autor erweist sich als umfassender und intimer Kenner der Welt-Literatur, nicht nur jener Lateinamerikas. Und er kennt die Leser, Sammler, Jäger und Händler, die sich dem Buch gewidmet haben. Dieses Kulturprodukt erweist sich nicht immer nur als Kulturträger, sondern auch als Gefahr für seine Besitzer – so etwa unter der argentinischen Militärdiktatur, als viele Leute ihre potenziell gefährlichen Bücher verbrannten, versteckten und vergruben.

Gefährlich erweist sich das uralte Kulturprodukt auch, wenn die Liebe seine Wege kreuzt, wie in dem Fall von Bluma Lennon und Carlos Brauer. Bücher brachten sie zusammen und eines verband sie, Bluma starb lesend, Carlos ging in seinen Büchern unter.

Das Buch hat nicht nur eine tragische Handlung, sondern beschreibt auch fast den gesamten Kosmos des Erlebens, den die Bücherfreunde erfahren. Insofern ist die Geschichte von höchstem Interesse für jeden passionierten Leser. Carlos Brauers Methode, sein Haus aus Büchern zu erbauen, hält sozusagen die Apokalypse bereit: den Inhalt und ideellen Wert völlig zu ignorieren und ein Buch ausschließlich als physischen Gegenstand, wie einen x-beliebigen Backstein, zu behandeln. Für Bibliophile gibt es keinen größeren Horror.

|Der Sprecher|

Jürgen Tarrach erweist sich als überaus kompetenter Sprecher des Textes. Zwischen jedem Kapitel macht er eine deutliche Pause, so dass der Hörer nie im Zweifel ist, wo die eine Szene aufhört und die nächste anfängt. Tarrachs Vortrag selbst lässt auch nichts an Verständlichkeit zu wünschen übrig. Und er begeht auch selten den Fehler, zu viel Emotionalität hineinzulegen. Seine Fähigkeit, alle spanischen, französischen und die meisten der englischen Autorennamen korrekt auszusprechen, ist zu bewundern. Die einzige Ausnahme, die ich registrieren konnte, ist der Name des Iren William Butler Yeats. Aber für irische Namen gelten sowieso andere Regeln.

|Das Booklet|

Als informativ und hilfreich erweist sich das achtseitige Booklet. Hier findet man nicht bloß Werbung und eine Leseprobe, sondern auch akkurate Informationen über den Autor, den Sprecher, die CD-Tracks und schließlich sogar eine Landkarte. Auf dieser ist der Reiseweg unseres Berichterstatters eingetragen, ja sogar seine Fortbewegungsmittel Flugzeug, Schiff (aliscafo) und Bus und Taxi. Der Weg führt ihn zu Carlos‘ letztem Domizil an der Laguna von Rocha. Und die Weltkarte verdeutlicht unübersehbar, über welche Distanzen hinweg ein Buch drei Menschen verbinden kann.

_Unterm Strich_

„Das Papierhaus“ hält für jeden begeisterten Leser und Bücherfreund eine Fundgrube von Erlebnissen, Ansichten und Einstellungen bereit, die Aufschluss darüber gibt, wie es Schicksalsgenosssen ergehen kann. So mancher wird sich darin wiedererkennen. Das Buch erweist sich als der Liebe Unterpfand, doch kann es auch eine Gefahrenquelle sein.

Die tragisch-ironische Geschichte der Liebe zwischen Carlos Brauer und Bluma Lennon belegt, welches Schicksal Bücher bedeuten können, aber sie führt den kenntnisreichen Erzähler auch in den Kosmos der Literatur und der Bücher, als gerate er in eine Unterwelt, in der Auguren Wahrheiten bereithalten. Wie weiland Odysseus irrt er auf der Spur von Carlos Brauer von einem Ratgeber zum nächsten, nur um auf den ultimativen Horror zu stoßen: die Apokalypse der Bücher – das Papierhaus.

Und nach diesem traumatischen Erlebnis, nach der Rückkehr aus der Unterwelt, ist seine Einstellung zu den Büchern nie mehr die gleiche. Als wäre „Die Schattenlinie“ überschritten worden, von der Joseph Conrad in seinem Reiseroman erzählt. Die Schattenlinie ist jene reale Grenze auf dem Globus, wo sich der Tag von der Nacht scheidet. Sie wird in Wissenschaftskreisen auch als „Terminator“ bezeichnet … Und wer wissen will, wo das schicksalsträchtige Buch seine letzte Ruhe findet, muss die Geschichte selbst lesen oder hören.

Jürgen Tarrach liest die Geschichte in diesem Hörbuch ungekürzt vor, und es gibt durchaus schlechtere Methoden, sich dieses Buch anzueignen. Ich habe seinem Vortrag gerne zugehört, und da die Story nicht lang ist und kaum Personal aufweist, brauchte ich nicht einmal Notizen zu machen. Wer kann, sollte die Geschichte mehrmals hören. Dann geben sich die ironischen Aspekte der Story zu erkennen. Denn natürlich enthält auch sie eine Schattenlinie.

|Originaltitel: La casa de papel, 2004
Aus dem Spanischen von Elisabeth Müller
120 Minuten auf 2 CDs|

Gülzow, Susa – Scotland Yard jagt Dr. Mabuse

_Spannend: Verbrechergenie greift die Regierung Ihrer Majestät an_

Dr. Mabuse ist tot, nicht aber sein Geist: Besessen von dem einstigen Superverbrecher stiehlt der Irrenarzt Prof. Pohland ein Gerät, mit dem man Leute hypnotisieren kann. Es gelingt ihm, 13 Menschen an den Schaltstellen der Macht unter seine Kontrolle zu bringen, doch Major Bill Tern ist ihm bereit auf der Spur. Gelingt es ihm, Mabuses Welteroberungspläne zu durchkreuzen? (Verlagsinfo)

_Die Autorin_

Susa Gülzow arbeitet seit 1988 als Autorin, Regisseurin und Sprecherin. Aus ihrer Feder stammen beispielsweise die Hörspielfassungen von „Lucky Luke“, diversen Heinz-Erhardt-Filmen und „Dr. Mabuse“ sowie zahlreiche Synchronbearbeitungen.

|Die „Dr. Mabuse“-Reihe nach dem Krieg:|

1) Die 1000 Augen des Dr. Mabuse (1957)
2) Im Stahlnetz des Dr. Mabuse
3) Die unsichtbaren Krallen des Dr. Mabuse
4) Das Testament des Dr. Mabuse (1962)
5) Scotland Yard jagt Dr. Mabuse (1963)
6) Die Todesstrahlen des Dr. Mabuse (1964)

_Die Sprecher/Die Inszenierung_

Die Regie führte 1963 Paul May, die Musik lieferte Rolf Wilhelm, das Drehbuch stammt von Ladislas Fodor nach der Figur von Norbert Jacques und nach einem Roman von Bryan Edgar Wallace.

|Die Rollen und ihre Sprecher:|

Major Bill Tern: Peter van Eyck
Mrs. Tern: Agnes Windeck
Nancy: Sabine Bethmann
Cockstone: Dieter Borsche
Inspektor Vulpius: Werner Peters
Sowie Walter Rilla als Prof. Pohland
u. v. a.
Erzähler: Wolf Frass

_Handlung_

Dr. Pohland, der frühere Irrenarzt, der Mabuse, das Genie des Bösen, betreute, glaubt sich nun selbst von Mabuse besessen, nachdem dieser angeblich gestorben ist. Deshalb ist Pohland auch von der Möglichkeit der Übertragung von Gedanken und Willen geradezu besessen. Um diese Idee in die Realität umsetzen zu können, lässt er den wissenschaftlich vorgebildeten Sträfling George Cockstone bei einem Zugüberfall nahe Hamburg befreien.

Von einem alten Kameraden namens Hillyard zu Mabuse gebracht, findet dieser Cockstone nützlich und überträgt ihm eine besondere Aufgabe – die Erfindung von Prof. Laurenz zu stehlen und einzusetzen. Dieses Gerät verändert das Gehirn des Opfers so, dass es für Gedanken- und Willensübertragung empfänglich wird. Um unerkannt bei Laurenz arbeiten zu können, bekommt Cockstone ein neues Gesicht, ein neues Diplom und selbstverständlich einen neuen Namen: Ranke.

Inspoktor Vulpius von der Hamburger Kripo telefoniert mit Cockstones Betreuer bei Scotland Yard, einem gewissen Major Bill Tern. Zuerst bekommt Vulpius nur dessen alte Mutter an die Strippe, die eine begierige Krimileserin ist, doch dann meldet sich Tern selbst. Er beschließt, nach Hamburg zu kommen. Hier informiert er Vulpius über Cockstones wissenschaftlichen Hintergrund und stellt die entscheidende Frage: welche große Organisation schaffte es, diesen Zugüberfall generalstabsmäßig vorzubereiten und auszuführen? Und wozu braucht sie Cockstone überhaupt?

Wenige Tage später ermordet der bis dato unbescholtene Briefträger Schröder Professor Laurenz. Nach einem Gespräch mit Laurenz‘ Mitarbeiter Ranke, der unverdächtig genug erscheint, vernimmt Vulpius den völlig verstörten Briefträger. Der sagt immer wieder, er habe unter Zwang gehandelt, als er den Stößel aus einem Mörser nahm und damit den Professor erschlug. Weil Bill Terns Mamachen diese Tat verdächtig erscheint, kommt Tern nochmals nach Hamburg, um sich diesen Ranke mal anzusehen. Doch bevor er das Labor erreicht, fliegt dieses in die Luft! Die verbrannte Leiche, die man zunächst für Ranke gehalten hat, wird von einer Italienerin als die eines plastischen Chirurgen identifziert. Tern kombiniert: Ranke ist Cockstone, mit einem neuen Gesicht. Na, prächtig!

Dr. Mabuse verteilt neue Aufgaben. Das Gerät, das ihm Cockstone geliefert hat, ist zu verbessern, damit die Befehle nicht mehr nur 24 Stunden vorhalten. Außerdem müssen mehr Edelsteine besorgt werden, um weitere Geräte bauen zu können. Für all dies ist natürlich eine Menge Geld nötig. Mabuse befiehlt den Überfall auf einen Postzug. Wenig später erschüttern der Skandal um eine bestohlene und entführte Prinzessin sowie eine Millionenbeute unbekannter Räuber Großbritannien.

Und doch ist dies erst der Anfang: Mabuse greift die britische Regierung direkt an …

_Mein Eindruck_

Lange Zeit sieht es so aus, als könne Dr. Mabuse die britische Regierung in die Knie zwingen, schließlich hat er ja eine Prinzessin in seiner Gewalt. Doch er hat nicht mit Mamachens Einfallsreichtum gerechnet sowie einer ganz speziellen Eigenschaft: Sie trägt ein Hörgerät, von dem ihr Sohnemann Bill bislang nichts gewusst haben will. Und durch dieses Hörgerät – so eines trägt übrigens auch Vulpius – ist sie immun gegen die Strahlung des Gedankentransmitters, den Mabuse von seinen Leuten einsetzen lässt. Dabei tauchen hie und da freundliche Fotografen auf, drücken auf den Auslöser ihrer Kamera, doch statt des erwarteten Bildes entsteht ein Zwang, der den „Geknipsten“ willfährig macht.

Dass es weder ein Telepathiegerät gibt, noch eine Abschirmung mittels Hörgerät, ist eh klar. Aber solche futuristischen Gimmicks gehören mit zum Charakter der Serie. So finden auch schon mal Todesstrahlen Einsatz in einer Folge. Auf dieser Weise versuchten es die deutschen Produzenten mit den technischen Spielereien der neuen „James Bond“-Reihe aufzunehmen, während bei den frühen „Mabuse“-Folgen noch Telepathie und Hypnose völlig ausgereicht hatten. Mit ihren begrenzten Mitteln kamen die Deutschen auch recht weit, spannten diesmal aber des internationalen Flairs wegen auch britische Figuren ein.

Auf einer zweiten Ebene lässt sich das Verbrechergenie Dr. Mabuse – oder dessen Nachfolger – politisch auch als Schatten der Vergangenheit interpretieren, als Schreckensbild, das aus dem Bewusstsein der Massen verdrängt worden ist. „Der braune Spuk“, wie das der BKA-Beamte nennt, ist im Jahr 1957, in dem die Handlung des ersten „Mabuse“-Films nach dem Krieg spielt, erst zwölf Jahre zuvor vertrieben worden – und zwar keineswegs vom deutschen Volk selbst. „Der Schoß ist fruchtbar noch, aus dem das kroch“ – gilt dieses Zitat weiterhin? Diesmal treffen Dr. Mabuses Machenschaften die Briten – dies ist allemal unverfänglicher als der Schauplatz Berlin, der in Fritz Langs Klassiker „Die 1000 Augen des Dr. Mabuse“ den Zuschauer verunsicherte.

Was wir also zu hören bekommen, ist ein Gruselkrimi bekannter Machart. Wir haben eine Reihe von Männern, die alles Mögliche sein können. Wir haben zwei aufrechte Polizisten, der ihr Möglichstes versucht, erstens am Leben zu bleiben, und zweitens, ein Genie des Verbrechens zu fangen. Wir haben mehrere Gegner, die die beiden ausschalten wollen. Die besondere Raffinesse dieser Gegner besteht darin, dass sie den „Guten“ ihren Willen aufzwingen können (es sei denn, diese haben eine Abschirmung dabei). Wir haben ein actionreiches Finale, indem geballert wird, was die Platzpatronen hergeben. Doch am Schluss steht wieder die Frage im Raum, ob sie den echten Dr. Mabuse erwischt haben.

Einen Verbrecher in der englischen Pampa zu jagen, wäre aber viel zu reizlos. Nein, Bill Terns neue Freundin Nancy, die schutzbedürftige Tochter des ermordeten Prof. Masterson, wurde von Mabuses Schergen ebenfalls entführt. Bills ritterliche Aufgabe besteht natürlich darin, die Maid in Not zu befreien – und hinterher zu freien. Wenn sein Mamachen nichts dagegen hat.

_Der Sprecher/Die Inszenierung_

Nach einer Fanfare in einem schrecklich miesen Sound, die zum Glück nur 30 Sekunden dauert, geht der Hör-Film sofort los. Es gibt keine Einleitung, lediglich eindringliche Musik, wie man sie aus den 1959 gestarteten Edgar-Wallace-Verfilmungen kennt. Die Musik dirigiert die Emotionen, die den Zuhörer (so wie einst den Zuschauer) erfüllen sollen: Beklemmung, Furcht, Entsetzen, aber auch romantische Gefühle, nach dem Finale schließlich Triumph und Erleichterung.

Schon nach wenigen Minuten gibt es die erste Leiche. Einige weitere werden folgen. Die Geräuschkulisse entspricht dem Niveau eines Edgar-Wallace-Krimis. Was mich jedoch völlig enttäuscht hat, ist die mickrige Qualität der Schüsse, Hier wurden offensichtlich nur Platzpatronen benutzt, deren Geräuschentwicklung doch sehr begrenzt ist. Aber es klingt einfach nach den Spielzeugpistolen, die wir Jungs beim Räuber-und-Gendarm- oder Cowboy-und-Indianer-Spielen benutzten (ich war immer der Indianer, logo!). Auch die Explosionen klingen eher nach einem zusammenkrachenden Haus als einer hochgehenden Ladung Sprengstoff.

Die Sprecher entsprechen den damaligen Schauspielern ist ja klar. Herausragend fand ich Peter van Eyck als Bill Tern, Werner Peters als Vulpius, Agnes Windeck als Mamachen Tern und ganz besonders der kühle, beherrschte Dieter Borsche als George Cockstone. Borsche ist ein Edelmime, der schon preußische Könige, Generäle und Prinzen spielte. Warum er sich für diese Produktion hergab, ist mir schleierhaft. Vielleicht lag es am Charme des Produzenten Atze Brauner.

Immerhin ist die Geräuschkulisse ziemlich realistisch, besonders in den Interieurs, aber auch auf der Straße. Schade, dass für den Effekt des Telepathiegeräts kein besonderer Sound gefunden wurde. Da der Mono-Sound keineswegs dem Dolby-Digital-5.1-Standard entspricht, knarren auch die Stimmen der Darsteller recht kernig und obertonlastig daher. Diese Qualität ist jedoch offenbar die des Originals, denn das Hörspiel wurde durchgehend, wie die DDD-Signatur auf der Hülle verrät, mit digitalen Mitteln hergestellt. Um mehr aus dem Original herauszukitzeln, wäre wohl ein teures Remastering nötig. Und das können sich meines Wissens nur die großen Studios leisten.

|Das Booklet|

Das Booklet umfasst zwölf Seiten, die sich sehen lassen können. Neben einem historischen Zeitungsartikel über die Dreharbeiten im Berliner Grunewald sind hier nicht nur die Macher des Film detailliert vorgestellt, sondern auch die Verantwortlichen des Hörbuchs. Natürlich fehlt auch Produzent Sven Michael Schreivogel nicht. Er dankt mehreren Quellen, ohne deren Unterstützung das Produkt wesentlich magerer ausgefallen wäre, darunter der Tochter von Filmproduzent Artur Brauner, sowie den Erben von Norbert Jacques, dem Schöpfer der Figur des Dr. Mabuse.

Im Booklet sind zahlreiche Filmfotos in ausgezeichneter Qualität abgedruckt. Zu sehen sind:

Major Bill Tern: Peter van Eyck, teetrinkend
Mrs. Tern: Agnes Windeck, Bill und Vulpius vernehmend
Nancy Masterson: Sabine Bethmann (oho, im superknappen Höschen!)
Cockstone: Dieter Borsche, mit Hypnotisiergerät
Inspektor Vulpius: Werner Peters, neben Peter van Eyck
Sowie Walter Rilla als Prof. Pohland, mit Spezialbrille

Die letzte Seite führt die Trackliste auf.

_Unterm Strich_

Das Hörspiel weiß auf spannende und ironische Weise zu unterhalten, ohne dass weder die Intelligenz noch die Romantik oder der Humor zu kurz kommen. Allerdings heißt es angesichts der Fülle der Dialogtexte aufpassen. Ich musste das Hörspiel in aller Ruhe zweimal anhören, um die zahlreichen versteckten Hinweise, falschen Fährten und Doppelidentitäten zu verstehen und auf die Reihe zu bekommen.

Das Drehbuch ist schon ziemlich ausgetüftelt. Doch auch beim ersten Anhören ist die Essenz leicht zu kapieren: Grusel, Spannung, Romantik und Terrorismus gehen hier eine bemerkenswerte Verbindung in einem Thriller ein, der heute leider schon wieder vergessen ist. Die antifaschistischen Untertöne des Fritz-Lang-Films von 1957 fehlen in den Fortsetzungen, dafür kamen Action und Humor besser zum Zuge, Letzteres insbesondere durch die Frauenfiguren.

Das Booklet zu der qualitativ hochstehenden Hörbuchproduktion wartet mit schönen Fotos zum Film sowie mit einem aufschlussreichen Zeitungsartikel zum Dreh in Berlin auf. Die Filmfotos ergänzen die Informationen zu zahlreichen Mitwirkenden damals und heute. Wenn der Rest der Reihe ebenso gut produziert wird, könnte das Thema „Dr. Mabuse, der Staatsfeind Nr. 1“ eine Wiederauferstehung mit Langzeitwirkung feiern. Der Käufer erhält für sein Geld einen reellen Gegenwert. Der Preis erscheint mir der Ausstattung angemessen.

|1 CD mit 61:47 Spielminuten
ISBN-13: 978-3821853253|
[www.eichborn-lido.de ]http://www.eichborn-lido.de/

_Susa Gülzow bei |Buchwurm.info|:_
[„Die 1000 Augen des Dr. Mabuse“ (Hörspiel) 945
[„Im Stahlnetz des Dr. Mabuse“ (Hörspiel) 1717
[„Die unsichtbaren Krallen des Dr. Mabuse“ (Hörspiel) 1738
[„Kommissar X: Der Panther aus der Bronx“ (Hörspiel) 1757
[„Dämonenkiller: Im Zeichen des Bösen“ (Hörspiel-Edition 21) 4906
[„Kommissar X: Eine Kugel für den Richter“ (Hörspiel) 5053
[„Wiedergeburt des Bösen (Das magische Amulett, Folge 1) (Hörspiel) 5311
[„Die schwarze Witwe, Die (Das magische Amulett, Folge 2) (Hörspiel) 5417
[„Die Todesstrahlen des Dr. Mabuse“ (Hörspiel) 6040
[“ Das Testament des Dr. Mabuse“ (Hörspiel) 6086

Bennett, Arnold – Hotel Grand Babylon (Lesung)

London Ende des 19. Jahrhunderts: Der Amerikaner Theodore Racksole ist einer der Reichsten – und ein Freund schneller Entschlüsse. Weil ihm das Benehmen eines Oberkellners missfällt, kauft er während seines London-Urlaubs gleich das ganze Hotel. Als Racksole allerdings den Küchenchef beim Einbalsamieren einer Leiche überrascht, beginnen er und seine Tochter Nella zu ahnen, dass seine neuen Angestellten einiges auf dem Kerbholz haben. Ein turbulentes Verwirrspiel um einen geheimnisvollen Mord beginnt.

_Der Autor_

Enoch Arnold Bennett wurde 1867 in Hanley in der Grafschaft Staffordshire geboren. Er brachte es zwar nicht zum Advokaten, aber zum Herausgeber des „Woman“-Magazins (ab 1893), bis ihm endlich die Honorare für seine über 50 Werke – Romane, Erzählungen, Dramen, Essays und Autobiografisches – das Leben eines freien Schriftstellers ermöglichten. Er starb 1931 an Typhus. Zu seinen Freunden zählten die Schriftsteller Joseph Conrad, H. G. Wells, John Galsworthy und Arthur Conan Doyle. Er ist in Großbritannien immer noch recht bekannt, hierzulande aber längst vergessen.

„Hotel Grand Babylon“ erschien in Fortsetzungen in der Zeitschrift „Golden Penny“, bevor der Roman im Jahr 1902 als Buch veröffentlicht wurde. Als wäre es eine Fingerübung, hat Bennett das gleiche Thema 1930 noch einmal aufgegriffen und zu einem riesigen Roman mit dem Titel „Hotel Imperial“ ausgebaut. Laut Armin Eidner hat das so geehrte Hotel Savoy seitdem ein „Omelette Arnold Bennett“ auf seiner Speisekarte.

_Die Sprecherin_

Katharina Thalbach, geboren 1954 in Berlin, wuchs auf der Bühne auf. Schon mit vier Jahren spielte sie Kinderrollen, im Fernsehen und im Film. Nach dem Tod ihrer Mutter, der Schauspielerin Sabine Thalbach, nahm Brecht-Erbin Helene Weigel sie in ihre Obhut und bot ihr einen Meisterschülervertrag an. Mit 15 debütierte sie in Brechts „Dreigroschenoper“ und wurde als Entdeckung gefeiert. Sie spielte am Berliner Ensemble und ab 1971 an der Volksbühne Berlin (Ost). Nach großen Erfolgen in der DDR wurde sie auch in der Bundesrepublik bekannt, als sie in Volker Schlöndorffs Verfilmung von Grass‘ „Die Blechtrommel“ auftrat.

_Handlung_

Das titelgebende Hotel Grand Babylon ist ein perfekt geführtes Londoner Etablissement, in dem sich die gekrönten Häupter Europas die Klinke in die Hand geben. Geleitet wird es von einem Schweizer namens Felix Babylon. Zumindest so lange, bis sich eines Tages ein neureicher Amerikaner hierher verirrt: Theodore Racksole.

Der Tag seines Besuches ist unseligerweise auch der Geburtstag seiner Tochter Nella (kurz für Helen). Und als der schnöselige Oberkellner Jules seinen stinkreichen Gast auf freundlichste Weise brüskiert, platzt dem Ami quasi die Hutschnur. Ein kurzes Gespräch unter Bossen genügt, und Racksole hat das Hotel mit allem Drum und Dran gekauft – schlappe 400.000 Pfund genügen. Der Oberkellner kündigt von sich aus. Racksole und Nella bekommen ihre Steaks mit Bier.

Noch am gleichen Abend kommt Racksole merkwürdigen Vorgängen in seinem Hotel auf die Spur. Beim Essen hat Nella ihm einen Herrn Reginald Dimmock vorgestellt, seines Zeichens Kammerdiener eines deutschen Prinzen namens Aribert von Posen. Eigentlich sollte in Zimmer 111 Nella logieren, doch als er Einlass verlangt, öffnet eben jener Dimmock. Und was hatte der Kerl mit dem zwielichtigen Jules zu bereden? Der vorgehaltene Revolver Racksoles verlangt Auskunft: Nella war so nett, das Zimmer mit Dimmock zu tauschen, denn ein Stein hatte das Fenster zertrümmert – verständlich, oder? Jules wird gefeuert.

Prinz Aribert von Posen trifft ein und vermisst seinen Kammerdiener, der alles für ihn und seinen Regenten vorbereiten sollte. Ach, da ist Reginald ja schon! Nur, dass er mausetot ist, als man ihn findet. Die Polizei stellt Racksole unangenehme Fragen, kann aber noch wesentlich unangenehmer werden, als wenig später Dimmocks Leiche verschwunden ist. Keiner kann sich das Wie erklären.

Unterdessen lässt die aufgeweckte Nella ihren weiblichen Charme spielen und bringt den Prinzen zum Reden, der ihr alsbald sein Leid klagt (obwohl sie nur eine Amerikanerin ist). Sein Regent, der in wenigen Tagen heiraten soll, ist zwischen Brüssel und dem Kanalhafen Oostende spurlos verschwunden, möglicherweise entführt. Ob wohl Jules dahintersteckt?

Wie Racksole von einem Börsenmakler erfährt, wollte der Fürst in London eine Million Pfund leihen, um heiraten zu können. Da er den Zahlungstermin nicht einhalten kann, darf er auf Geheiß des deutschen Kaisers auch nicht heiraten. Wodurch wiederum die Auserkorene für den Heiratsantrag eines Anderen frei wird.

Nella und ihrem Vater wird klar, dass hier eine fein gesponnene Verschwörung am Werke ist. Doch was könnte sie dagegen tun? Nella hat schon eine Idee und reist nach Oostende ab, ohne ihre Vater um Erlaubnis zu fragen. Ein Abenteuer beginnt, das bis zum Schluss noch recht turbulent wird.

_Mein Eindruck_

Armin Eidherr bringt den Gehalt dieses Comedy-Thrillers und ausgewachsenen Kriminalromans auf den Punkt, wenn er im Booklet schreibt, dass im Hotel Grand Babylon – hinter dem sich das Londoner Savoy Hotel verbirgt – alte und neue Welt, überlebte Tradition und Moderne des 20. Jahrhunderts aufeinandertreffen. Die zwei schrulligen Amerikaner Racksole und Nella mischen die eingefahrenen europäischen Verhältnisse im Hotel auf. Diese Verhältnisse entpuppen sich schon recht bald als korrupt und doppelbödig, mit dem so genannten „Jules“, einem waschechten Briten, als Drahtzieher politischer Machenschaften.

Dass der Euro-Adel nicht nur moralisch, sondern auch wirtschaftlich am Ende ist, belegen die Ereignisse um Fürst Eugen von Posen, einem mit 50 Millionen Pfund verschuldeten Ministaat, der mit dem echten Posen nichts zu tun hat. Der Fürst muss zwecks Entschuldung einen Börsenmakler und inoffiziellen Pfandleiher bitten, ihm aus der Patsche zu helfen – wahrscheinlich zu horrenden Zinsen. Dass Eugens Widersacher in Sachen Heiratspolitik dies zu verhindern wissen, gehört zum üblichen Ränkespiel, mit dem sich die Alte Welt zugrunde richtet.

Aber auch die Amerikaner haben nicht viel Besseres vorzuweisen. Racksole, dem „drittreichsten Mann Amerikas“ (und damit der Welt), mangelt es an kultivierter Lebensart, die durch seine Millionen keineswegs wettgemacht wird. Er löst seine Probleme vorzugsweise mit dem Revolver, egal ob auf den Korridoren und in den Kellern des Hotels oder auf den Wellen der Themse. Für solche Probleme hat man in Europa die Polizei und die Diplomatie erfunden.

Nella ist eine interessante Figur, denn sie ist die Verkörperung der modernen Frau, die sich nicht mehr hinter einem Mann versteckt, sondern die Dinge selbst in die Hand nimmt. Das viktorianische Ideal der heimgebundenen Gebärmaschine ist ihr schnuppe, doch den Zeitgenossen Bennetts dürfte ein Stein vom Herzen gefallen sein, als auch Nella unter die Haube kommt und ihrem adeligen Männe ewige Treue schwört.

Hierin liegt auch der Grund, warum das letzte Viertel des Romans mir so sauer aufgestoßen ist, nachdem ich mich bei der Krimihandlung so gut amüsiert hatte. Um jeden Preis versuchen die beiden Amis die Angelegenheiten des ach so armen Fürsten Eugen und seines Onkels Aribert ins Lot zu bringen: ein schmieriges Melodram, das umso süßlicher wird, als auch Nella sich in Aribert verliebt hat und nun Möglichkeiten sucht, die Misere des Hauses Posen zu beenden.

_Die Sprecherin_

Katharina Thalbachs Stimme hat schon einige Anstrengungen hinter sich, und das hört man. Es ist ein gut trainiertes Organ, das sich unterschiedlichsten Anforderungen anpassen kann. Das zeigt sich am deutlichsten, wenn sie eine ausgefallene Sprechweise bemüht, um eine Figur zu charakterisieren. Und davon gibt es im Stück doch einige. Felix Babylon klingt schon superfreundlich, wenn er mit Racksole redet, so dass er geradezu zwielichtig wirkt. Doch wie sich zeigt, ist Babylon eine ehrliche Haut.

Das Gleiche trifft auf die Seeleute zu, mit denen Racksole den Hafen und die Docks von London nach Jules durchsucht. Jeder von ihnen hat eine subtil andere Klangfarbe in seiner Stimme. Auf diese Weise wird der Vortrag nicht langweilig.

Woran es Thalbach ein wenig mangelt, ist die Fähigkeit, die an vielen Stellen angebrachte Ironie so zum Ausdruck zu bringen, dass man sie auch sofort wahrnimmt. Dadurch wird ihr Vortrag weniger amüsant und und die Aussagen weniger bissig, sondern glatter.

_Unterm Strich_

Von der Titelillustration sollte man sich nicht täuschen lassen. Im Roman geht es weniger um stilechtes und kultiviertes Auftreten, als vielmehr um verschwundene Leichen, wütende Amerikaner, abstürzende Verbrecher, Liebeshändel, Entführung, eine Verfolgungsjagd auf der Themse, eine einbalsamierte Leiche und natürlich um edlen Wein (leider vergiftet). Doch statt einen der sensationsgierigen Kolportageromane der Jahrhundertwende zu fabrizieren, gelingt Bennett durchaus über weite Strecken ein genaues Porträt seiner Zeit, fokussiert im edelsten Hotel Europas.

Ich sage „über weite Strecken“, weil das letzte Viertel versucht, die Konventionen einer glücklichen persönlichen Verbindung – vulgo: Liebe – zu bedienen und dabei die Klischees des Melodrams für meinen Geschmack zu sehr strapaziert. Und wenn sie nicht gestorben sind, dann dinieren sie noch heute im Hotel Savoy.

Die Sprecherin Katharina Thalbach vermag den Vortrag lebendig zu gestalten, selbst wenn ihre stimmliche Wandlungsfähigkeit eingeschränkt erscheint, vergleicht man sie etwa mit der von Franziska Pigulla oder Rufus Beck. Thalbach hat ein unfehlbares Gespür für Stil und Intonation, was ja für die Sprecher jener uns bereits fernen Zeit doch ganz wesentlich war. Das umfangreiche Booklet ist eine willkommene Hilfe für die Einsicht in den Hintergrund des Autors, seines Werkes und seiner Zeit. Betrachtet man das Hörbuch mit unverstelltem Blick, kann man einen ironischen und spannungsreichen Kriminalroman genießen. Aber eben nur über weite Strecken.

|264 Minuten auf 3 CDs
Originaltitel: Hotel Grand Babylon, 1902
Aus dem Englischen übersetzt von Renate Orth-Guthmann|

Gülzow, Susa / Klingler, Walter / Fodor, Ladislas / Stemmle, R. A. / von Harbou, Thea / Jacques, N. – Testament des Dr. Mabuse, Das

_Die Welt als Irrenhaus, regiert vom Bösen_

Dreiste Verbrechen, wie sie nur Dr. Mabuse planen kann, halten Berlin in Atem – doch der sitzt streng bewacht in einer Nervenheilanstalt. Kommissar Lohmann und sein Assistent Krüger kommen einer Bande auf die Schliche, die von einem geheimnisvollen Mann gesteuert wird. Aber wer ist dieser Anführer? Irrenarzt Prof. Pohland schwört, dass es nicht Mabuse sein kann …

_Die Autorin_

Susa Gülzow arbeitet seit 1988 als Autorin, Regisseurin und Sprecherin. Aus ihrer Feder stammen beispielsweise die Hörspielfassungen von „Lucky Luke“, diversen Heinz-Erhardt-Filmen und „Dr. Mabuse“ sowie zahlreiche Synchronbearbeitungen.

Die Dr.-Mabuse-Reihe nach dem Krieg:

1) [Die 1000 Augen des Dr. Mabuse 945 (1957)
2) [Im Stahlnetz des Dr. Mabuse 1717
3) [Die unsichtbaren Krallen des Dr. Mabuse 1738
4) Das Testament des Dr. Mabuse (1962)
5) Scotland Yard jagt Dr. Mabuse (1963)
6) [Die Todesstrahlen des Dr. Mabuse 6040 (1964)

_Die Inszenierung_

Die Regie führte 1962 Walter Klingler, die Musik lieferte Raimund Rosenberger, das Drehbuch stammt von Ladislas Fodor und R. A. Stemmle nach einem Original-Drehbuch von Thea von Harbou und der Figur von Norbert Jacques.

|Die Rollen und ihre Sprecher:|

Kommissar Lohmann: Gert Fröbe
Kriminalassistent Krüger: Harald Juhnke
Nelly: Senta Berger
Johnny Briggs: Helmut Schmid
Mortimer: Charles Regnier
Walter Rilla als Prof. Pohland
Sowie Wolfgang Preiss als Dr. Mabuse
u. v. a.
Erzähler: Wolf Frass

_Handlung_

Dr. Mabuse, das Genie des Bösen, sitzt sicher hinter den Gittern der Irrenanstalt von Dr. Pohland, schreibt und zeichnet. Eigentlich müsste er also ungefährlich sein. Doch das Gegenteil ist der Fall. Aber wie?

Als der Ganove Mortimer eine Gruft auf dem Friedhof betritt, bringt er einen neuen Rekruten der Bande mit. Der Neue staunt nicht schlecht, als sich an einer Wand des Raumes der Chef als Schatten an der Wand zeigt und eine unheimliche Stimme erklingt. Der Chef befiehlt den Überfalls auf einen Goldtransport – mit Hilfe einer Fallgrube. Wie kommt er nur auf solche genialen Einfälle, wundert sich der Neue, Eddie.

Der Überfall klappt wie geplant, und Kommissar Lohmann (Fröbe) und sein Assi Kürger (Juhnke) ärgern sich grün und blau. Der Wert des geraubten Goldes beträgt etwa 1,5 Millionen D-Mark. Kein schlechter Stundenlohn für eine Nacht Arbeit. Am Tatort findet Lohmann eine ungewöhnliche Sorte von Zigarette: eine Spezialanfertigung. Bankdirektor Heinrich verlangt die baldige Ergreifung der Täter.

Als der Chef seiner Bande den nächsten Überfall aufträgt, wagt es Eddie, die Tür zum Aufenthaltsraum des Chefs zu öffnen – er stirbt durch eine Kugel. Johnny Briggs, der Ex-Boxer (Schmid) soll ihn ersetzen, damit alles beim Unternehmen „Diamantenbörse“ klappt. Diesmal tritt die Bande als Fensterputzer auf, bevor sie die Bank betritt und den Tresor ausräumt. In null Komma nichts sind die Herrschaften wieder verduftet, und als Lohmann eintrifft, ist der Spuk vorüber. Auch diesmal entdeckt er die bewusste Zigarettenkippe – eine Art Signatur für eine bestimmte Person …

Lohmann will Dr. Mabuse sehen, und Dr. Pohland lässt ihn bis zu dessen Zelle vor. Mabuse schreibt und zeichnet, ganz harmlos, oder? Aber warum schreibt Mabuse dann in Spiegelschrift? Pohland nimmt alle Notizen mit. Angeredet von Lohmann, antwortet Mabuse nicht, sondern schreibt weiter. Lohmann sagt es Pohland nicht, aber er ist überzeugt, dass Mabuse der Kopf der Verbrecherbande ist, die die Bank ausgeräumt hat.

Johnn Briggs wird zum nächsten Coup abgeholt. Es geht um den Überfall auf den Zugwaggon einer Gelddruckerei. Doch diesmal hat sich ein Polizeispitzel in die Bande gemogelt und verpfeift das Vorhaben. Dumm nur, dass Krüger ihm kein Wort glaubt. So gelingt der Überfall, und fortan druckt die Bande in höchster Eile jede Menge Falschgeld. Als Lohmann wieder zu Mabuse vordringt, rastet ein anderer Patient der Anstalt aus: Mabuse habe ihn durch Gedankenübertragung bedroht. Plötzlich sieht sich Lohmann von einem Irren gewürgt …

_Mein Eindruck_

Die Wirkung des Film-Hörspiels lässt sich in einem Wort zusammenfassen: Verunsicherung. Die Subversivität dieses Skripts ist allumfassend – Hut ab! Mabuse hat den netten Dr. Pohland zu seiner Marionette gemacht. Als Schattenmann gibt dieser dem Edelgangster Mortimer seine bzw. Mabuses Befehle, die zu drei großen Coups im Verlauf der Handlung führen. Mortimer hat beste Kontakte im Establishment, so etwa einen Anwalt. Er hat auch keine Mühe, die Stadtbank auszuspionieren. Ist es dumm oder dreist, dass er an jedem Tatort seine Unterschrift in Gestalt einer spezialgefertigten Dunhill-Zigarre hinterlässt? Genauso gut könnte er sagen: „Fangt mich doch, wenn ihr könnt!“

Das lässt sich Kommissar Lohmann nicht zweimal sagen. Doch obwohl Bankdirektoren ihn auf Knien um Schutz vor Mabuse bittet und er Mabuse auf die Finger schaut, kann er ihm nichts nachweisen. Denn das Verbrechen erfolgt ja durch den ehrenwerten Dr. Pohland! Dieser doziert als Gipfel der Ironie vor Studenten über das vorzügliche und bemerkenswerte Gehirn Dr. Mabuses. So wird das Böse zum Gegenstand der Bewunderung. Wenn das nicht subversiv ist.

Aber auch Lohmann ist nicht gegen Attacken gefeit. Im Irrenhaus, dieser Metapher für die neue Gesellschaft der Verbrecher, fällt er Pohland in die Hände, der ihn ebenfalls umpolen will. Nur das beherzte Eingreifen seines Assis und zweier Mitpatienten bewahrt Lohmann vor einem üblen Schicksal als Pohland-Mabuses Marionette. Selten wurde die Korrumpierbarkeit der Gesetzeshüter derartig offen angedeutet. In den USA hätte die Zensurbehörde MPAA den Film sofort aus dem Verkehr gezogen.

Dass auch Menschlichkeit und Liebe gegen ein Genie des Bösen keine Chance haben, belegt das Schicksal von Johnny Briggs (Helmut Schmid) und seiner Freundin Nele (Senta Berger). Der ehemalige Boxer Briggs bringt es nicht übers Herz, einen Bahn-Mitarbeiter zu erschießen, und wird deshalb von Mortimer zu Mabuse, dem Schattenmann, gebracht. Solche Insubordination wird lediglich als Verrat aufgefasst und mit dem Tode bestraft. Doch statt ein paar Kugeln ins Hirn ist die Strafe ganz nach dem Geschmack eines Hypnotiseurs: Briggs soll im Spiegelkabinett verrückt werden! Das klappt sogar, und so landen Johnny und Nele ebenfalls in der Irrenanstalt Pohlands.

Doch die Lage ist nicht hoffnungslos. Die Spannung wird durch die verschiedenen Spitzel, Verräter und Aufklärungsaktionen hoch gehalten, so dass Mabuse keineswegs freie Hand hat und für Lohmann Hoffnung besteht, Mabuse das Handwerk zu legen. Nur besteht eben die zentrale Ironie darin, dass Mabuse wie ein harmloser alter Mann aussieht, während der eigentliche Täter den weißen Kittel eines Irrenarztes trägt.

Am Schluss flüchtet Pohland nach Mabuses Tod und nimmt dessen Testament mit. In der nächsten Folge „Scotland Yard jagt Dr. Mabuse“ spielt es wieder eine Rolle. Es erweist sich aber als brisant genug, dass es jemand in seinem Tresor in die Luft jagt. Die Gefahr, die vom Bösen ausgeht, besteht also fort.

_Die Inszenierung_

Nach einer Fanfare in einem schrecklich miesen Sound, die zum Glück nur 30 Sekunden dauert, geht der Hör-Film sofort los. Es gibt keine Einleitung, lediglich eindringliche Musik, wie man sie aus den 1959 gestarteten Edgar-Wallace-Verfilmungen kennt. Die Musik dirigiert die Emotionen, die den Zuhörer (so wie einst den Zuschauer) erfüllen sollen: Beklemmung, Furcht, Entsetzen, aber auch romantische Gefühle, nach dem Finale schließlich Triumph und Erleichterung.

Schon nach wenigen Minuten gibt es die erste Leiche. Einige weitere werden folgen. Die Geräuschkulisse entspricht dem Niveau eines Edgar-Wallace-Krimis. Was mich jedoch völlig enttäuscht hat, ist die mickrige Qualität der Schüsse. Hier wurden offensichtlich nur Platzpatronen benutzt, deren Geräuschentwicklung doch sehr begrenzt ist. Aber es klingt einfach nach den Spielzeugpistolen, die wir Jungs beim Räuber-und-Gendarm- oder Cowboy-und-Indianer-Spielen benutzten (ich war immer der Indianer, logo!). Auch die Explosionen klingen eher nach einem zusammenkrachenden Haus als einer hochgehenden Ladung Sprengstoff.

Die Sprecher entsprechen den damaligen Schauspielern, ist ja klar. Herausragend fand ich Gert Fröbe als Kommissar Lohmann, Charles Regnier als Mabuses Handlanger Mortimer und das Paar Senta Berger und Helmut Schmid (der später eine denkwürdige Rolle neben einer doppelten Lilo Pulver spielen sollte). Schade, dass Harald Juhnke nicht zur Geltung kommt. Er darf mal wieder wie Harry bloß den Wagen holen und dumme Fragen stellen, um Fröbe die Gelegenheit zu geben, seine Weisheit herauszustellen.

Immerhin ist die Geräuschkulisse ziemlich realistisch, besonders in den Interieurs, aber auch auf der Straße. Schade, dass für den Effekt des Telepathiegeräts kein besonderer Sound gefunden wurde. Da der Mono-Sound keineswegs DD-5.1-Standard entspricht, knarren auch die Stimmen der Darsteller recht kernig und obertonlastig daher. Diese Qualität ist jedoch offenbar die des Originals, denn das Hörspiel wurde durchgehend, wie die DDD-Signatur auf der Hülle verrät, mit digitalen Mitteln hergestellt. Um mehr aus dem Original herauszukitzeln, wäre wohl ein teures Remastering nötig. Und das können sich meines Wissens nur die großen Studios leisten.

|Das Booklet|

Das Booklet umfasst zwölf Seiten, die sich sehen lassen können. Neben einem historischen Filmplakat sind hier nicht nur die Macher des Film detailliert vorgestellt, sondern auch die Verantwortlichen des Hörbuchs. Natürlich fehlt auch Produzent Sven Michael Schreivogel nicht. Er dankt mehreren Quellen, ohne deren Unterstützung das Produkt wesentlich magerer ausgefallen wäre, darunter der Tochter von Filmproduzent Artur Brauner, sowie den Erben von Norbert Jacques, dem Schöpfer der Figur des Dr. Mabuse.

Im Booklet sind zwölf Filmfotos in ausgezeichneter Qualität abgedruckt. Zu sehen sind:

Kommissar Lohmann: Gert Fröbe, u. a. als unfreiwilliger Patient des Irrenarztes Pohland;
Sein Kriminalassistent Krüger: Harald Juhnke, mit wilder Haartolle;
Nelly: Senta Berger neben Helmut Schmid als Johnny Briggs, ein smartes Liebespaar;
Mortimer: Charles Regnier, der sich mit einem dubiosen Schattenmann trifft;
Walter Rilla als Prof. Pohland, der sich über Gert Fröbe auf seinem Behandlungsstuhl freut;
sowie Wolfgang Preiss als Dr. Mabuse, an seinen Verbrechensplänen schreibend (in Spiegelschrift).

Außerdem ist ein Werkfoto von den Dreharbeiten zu sehen. Die letzte Seite führt die Trackliste auf.

_Unterm Strich_

Dieses Hörspiel verunsichert auf der ganzen Linie. Es gibt keine Maßstäbe, an denen sich der Filmfreund festhalten könnte: Weder triumphiert die Polizei, noch überleben Liebe und Menschlichkeit. Verrat reckt allenthalben sein hässliches Haupt, und die Zwielichtigkeit aller Beziehungen und Identitäten lässt sich am besten in der Irrenanstalt des Dr. Pohland-Mabuse symbolisieren.

Das Drehbuch ist schon ziemlich ausgetüftelt. Doch auch beim ersten Anhören ist die Essenz leicht zu kapieren: Grusel, Spannung, (sehr wenig) Romantik und (sehr viel) Terrorismus gehen hier eine bemerkenswerte Verbindung in einem Thriller ein, der heute leider schon wieder vergessen ist. Die antifaschistischen Untertöne des Fritz-Lang-Films von 1933 fehlen in den Fortsetzungen, dafür kamen Action und ironischer Humor besser zum Zuge. Ansonsten ist dieser erste Film einer Trilogie ziemlich grimmig. Gert Fröbe hat aber in „Goldfinger“ wesentlich besser gespielt.

Das Booklet zu der qualitativ hochstehenden Hörbuchproduktion wartet mit zwölf interessanten Fotos zum Film und mit einem Bild zum Dreh in Berlin auf. Die Filmfotos ergänzen die Informationen zu zahlreichen Mitwirkenden damals und heute.

Wenn der Rest der Reihe ebenso gut produziert wird, könnte das Thema „Dr. Mabuse, der Staatsfeind Nr. 1“ eine Wiederauferstehung mit Langzeitwirkung feiern. Der Käufer erhält für sein Geld einen reellen Gegenwert. Der Preis erscheint mir der Ausstattung angemessen.

|66 Minuten auf 1 CD
ISBN-13: 978-3-8218-5389-5|
http://www.eichborn.de

Die Todesstrahlen des Dr. Mabuse

„Ich war es nicht, es war Dr. Mabuse!“

Letztlich ist der Irrenarzt Pohland in der Nervenheilanstalt gelandet, kann aber entkommen. Nun will er sich der Erfindung von Prof. Larsen bemächtigen – einem Todeslaser, der über Satellit jeden Punkt der Erde zerstören kann. Geheimdienstmajor Bob Anders erhält den Auftrag, Larsen und die Waffe zu schützen …

Die Autorin

Susa Gülzow arbeitet seit 1988 als Autorin, Regisseurin und Sprecherin. Aus ihrer Feder stammen beispielsweise die Hörspielfassungen von „Lucky Luke“, diversen Heinz-Erhardt-Filmen und „Dr. Mabuse“ sowie zahlreiche Synchronbearbeitungen.

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anonym / Färberböck, Max / Rohrbach, Günter – Anonyma. Eine Frau in Berlin (Hörspiel)

_Bescheidene Umsetzung: Besser den Film sehen!_

Das Original-Hörspiel zum Film von Max Färberböck, der seit dem 23. Oktober 2008 in den Kinos gezeigt wird.

April 1945. Die Rote Armee marschiert in Berlin ein. In einem halb zerstörten Wohnhaus werden die Frauen Opfer von Vergewaltigungen. Eine von ihnen ist ANONYMA (Nina Hoss), einst Journalistin und Fotografin. In der Not fasst sie den Entschluss, sich einen russischen Offizier zu suchen, der sie beschützt. Und es geschieht, worauf sie am wenigsten gefasst war: Es entsteht eine Beziehung zu dem Offizier (Evgenij Sidikhin), die sich wie Liebe anfühlt, wäre da nicht die Barriere, die sie bis zum Ende Feinde bleiben lässt. (Verlagsinfo)

_Die Macher_

|Autorin: anonym|. Alle Zitate aus: „Anonyma. Eine Frau in Berlin. Tagebuchaufzeichnungen vom 20. April bis zum 22. Juni 1945.“ © Eichborn Verlag, Frankfurt am Main, 2003.

|Regisseur Max Färberböck|

Der Absolvent der Hochschule für Film und Fernsehen (HFF) sammelte erste Erfahrungen am Theater, u. a. als Regieassistent von Peter Zadek am Schauspielhaus in Hamburg. Es folgten Theaterinszenierungen in Heidelberg, Köln, Italien und Argentinien, bevor er mit drei Folgen von „Der Fahnder“ (1990) seine Fernseharbeit begann. Er schrieb und inszenierte die bei Publikum und Presse gleichermaßen erfolgreichen, preisgekrönten TV-Movies „Schlafende Hunde“ (1992) sowie „Einer zahlt immer“ (1993) und schuf 1993 die Fernsehfigur „Bella Block“ und realisierte zwei Folgen: „Die Kommissarin“ (1994), für die er mit dem Adolf Grimme Preis in Gold ausgezeichnet wurde, und „Liebestod“ (1995). Mit „Aimée und Jaguar“ (1999) gab Färberböck dann sein überaus erfolgreiches Kinodebüt. Das von Günter Rohrbach produzierte Drama eröffnete 1999 die Internationalen Filmfestspiele Berlin und erhielt eine Nominierung für den |Golden Globe|. Seinen Hauptdarstellerinnen Juliane Köhler und Maria Schrader brachte „Aimée und Jaguar“ den |Silbernen Bären|, den |Bayerischen Filmpreis| und den |Deutschen Filmpreis| als Beste Darstellerinnen ein.

Max Färberböcks zwei Jahre später realisierter Fernsehfilm „Jenseits“ gewann 2001 den Fernsehpreis des SWR und wurde beim Internationalen Fernsehfestival von Monte Carlo mit zwei |Goldenen Nymphen| ausgezeichnet. Der Kinofilm „September“ (2002), der bei den Internationalen Filmfestspielen in Cannes in der Reihe |Un Certain Regard| Premiere feierte, war eine unmittelbare Auseinandersetzung Färberböcks mit den Folgen des 11. Septembers 2001 in Deutschland.

|Produzent Günter Rohrbach|

Nach seinem Studium der Germanistik und Philosophie mit anschließender Promotion war Günter Rohrbach vor allem als Filmkritiker tätig. Ab 1961 arbeitete er beim WDR, wo er ab 1965 Fernsehspielchef und ab 1972 auch Unterhaltungschef war. Von 1979 bis 1994 war er Geschäftsführer der |Bavaria-Film| in München und seit 1992 nebenamtlich tätig als Abteilungsleiter und Honorarprofessor an der Hochschule für Film und Fernsehen (HFF) in München. Seit 1994 arbeitet er als freier Produzent. Neben zahlreichen Fernsehspielproduktionen produzierte Günter Rohrbach über 40 Kinofilme und wurde dafür vielfach ausgezeichnet, darunter mit mehreren Bundesfilmpreisen und Bayerischen Filmpreisen, dem Adolf-Grimme-Preis, zwei |Goldenen Kameras| sowie Nominierungen für den |Oscar| und den |Golden Globe|.

Zu seinen Produktionen zählen Filme wie Rainer Werner Fassbinders „Berlin Alexanderplatz“ (1980), Wolfgang Petersens „Das Boot“ (1981), Peter Zadeks „Die wilden Fünfziger“ (1982), Hajo Gies „Schimanski – Zahn um Zahn“ (1985), Dominik Grafs „Die Katze“ (1987) und „Die Sieger“ (1994), Peter Timms „Go, Trabi, go“ (1991), Helmut Dietls „Schtonk!“ (1992), Rainer Kaufmanns „Die Apothekerin“ (1997) und „Kalt ist der Abendhauch“ (1999), Jan Schüttes „Fette Welt“ (1998), Max Färberböcks „Aimée & Jaguar“ (1999) und Hermine Huntgeburths „Die weiße Massai“ (2005) und „Effi“ (2008). Seit 2003 zeichnet er an der Seite von Senta Berger als Präsident der |Deutschen Filmakademie| verantwortlich.

|Musik: Zbigniew Preisner|

Der polnische Komponist Zbigniew Preisner erlangte Weltruhm durch seine langjährige Zusammenarbeit mit dem 1996 verstorbenen Regisseur Krzysztof Kieslowski. Preisner gewann 1994 einen |César| für seine Musik zu Kieslowskis „Drei Farben: Rot“, 1996 bekam er einen weiteren |César| für seine Musik zu Jean Beckers „Eliza“. 1997 wurde Zbigniew Preisner bei den Berliner Festspielen mit dem |Silbernen Bären| für die Musik zu dem dänischen Film „The Island on Bird Street“ (Regie: Soren Kragh-Jacobsen) ausgezeichnet. Des Weiteren komponierte er u. a. für drei Filme von Agnieszka Holland, „Der Priestermord“ (1988), „Hitlerjunge Salomon“ (1990) und „Der geheime Garten“ (1993). 1992 schrieb er die Musik zu Louis Malles „Das Verhängnis“.

Die Erzählerin: Ursula Illert

_Handlung_

|Zitat: ANONYMA, Montag, 23. April 1945, 9 Uhr früh
„Beim Bäcker hieß es, die Russen stünden nun bei Weißensee und Rangsdorf. Im Rangsdorfer Strandbad habe ich oft gebadet. Ich spreche es versuchsweise laut vor mich hin: ‚Die Russen in Rangsdorf‘. Es will nicht zusammenklingen. Im Osten heute feurig roter Himmel, endlose Brände.“|

Es sind die letzten Tage des Krieges, April 1945 in Berlin. Im Keller eines halb zerstörten Wohnhauses kauern die Menschen und warten. Sie haben die Bombennächte überstanden und auch den Artilleriebeschuss. Die meisten von ihnen sind Frauen und sie ahnen, was sie erwartet. Der Einmarsch der Roten Armee in Berlin steht unmittelbar bevor.

Da ist die stets hilfreiche Witwe (Irm Hermann), da sind die lebenslustigen Schwestern Bärbel (Jördis Triebel) und Greta (Rosalie Thomass), die ältere Buchhändlerin (Katharina Blaschke), die Likörfabrikantin (Maria Hartmann), deren Mann sie einer Jüngeren wegen sitzen ließ, das lesbische Liebespaar Steffi (Sandra Hüller) und Lisbeth (Isabell Gerschke), die resolute Achtzigjährige (Erni Mangold), das verzweifelte Flüchtlingsmädchen (Anne Kanis), da sind Mütter mit ihren Kindern und auch ein paar ältere Männer, aus denen der Krieg alle Kraft herausgesogen hat.

Vor allem aber ist da die knapp dreißigjährige Anonyma (Nina Hoss), dereinst Journalistin und Fotografin. Sie wird die Ereignisse der nächsten Tage für ihren Lebensgefährten Gerd (August Diehl) festhalten, der vor Jahren an die Ostfront verschwand.

|Zitat: ANONYMA, Sonntag, 13. Mai
„Über Berlin läuten die Glocken zum Sieg der Alliierten. Irgendwo steigt in dieser Stunde die berühmte Parade, die uns nichts angeht. (…) Liebe? Die liegt zertreten am Boden. Und stünde sie wieder auf, so würde ich ständig darum bangen, fände keine Zukunft darin, wagte nie mehr, Dauer zu erhoffen. (…) Trotzdem reizt das dunkle und wunderliche Abenteuer des Lebens. Ich bleibe schon aus Neugier dabei; und weil es mich freut, zu atmen und meine gesunden Glieder zu spüren.“|

Es werden Tage der Schrecken und widersprüchlichsten Erfahrungen. Anonyma wird, wie die meisten Frauen, von den Siegern mehrfach vergewaltigt. Doch sie taugt nicht zum Opfer. Mit Mut und dem unbedingtem Willen, ihre Würde zu verteidigen, fasst sie einen Entschluss. Sie wird sich „einen Wolf“ suchen, einen russischen Offizier, der sie vor den anderen schützt. Als Gegenleistung wird sie mit ihm schlafen – freiwillig. Und es geschieht, worauf sie am wenigsten gefasst war: Der höfliche, melancholische Offizier Andrej (Evgeny Sidikhin) weckt ihr Interesse, ja, es entsteht eine Beziehung, die sich wie Liebe anfühlt. Und doch schwindet nie die Barriere, die beide nicht vergessen lässt, dass sie feindlichen Lagern angehören.

Auch die anderen Frauen entwickeln ihre Strategien, mal schnoddrig, mal unterwürfig, auf kleine Vorteile bedacht. Und es zeigt sich, dass auch die sowjetischen Soldaten nach menschlicher Nähe verlangen. Sie nisten sich ein in diesem zerbombten Haus. Und schließlich werden Sieger und Besiegte sogar das Ende des Krieges zusammen feiern. Denn etwas vereint sie doch: Sie sind – nach einem langen Krieg – dem Tod entronnen.

|Zitat: ANONYMA, Freitag, 27. April 1945, Tag der Katastrophe, wilder Wirbel – notiert
Samstag Vormittag
„Es begann mit Stille. Allzu stille Nacht. Gegen Mitternacht meldet Fräulein Behn, daß der Feind bis an die Schrebergärten vorgedrungen sei und die deutsche Linie bereits vor uns liege. Ich konnte nicht einschlafen, probierte in Gedanken mein Russisch aus, übte Redensarten, von denen ich annahm, daß ich sie nun verwenden könnte. (…) Gegen 18 Uhr ging es los. Einer kam in den Keller, Bullenkerl, stockbesoffen, fuchtelte mit seinem Revolver herum und nahm Kurs auf die Likörfabrikantin. Die oder keine. Er jagte sie mit dem Revolver quer durch den Keller, stieß sie vor sich her zur Tür. Sie wehrte sich, schlug um sich, heulte – als plötzlich der Revolver losging. Der Schuß hallte wischen die Balken, in die Mauer, ohne Schaden anzurichten. Darob Kellerpanik, alle springen auf, schreien …

Da haben sie mich. Die beiden haben hier gelauert. Ich schreie, schreie … Hinter mir klappt dumpf die Kellertür zu. Der eine zerrt mich an den Handgelenken weiter, den Gang hinauf. Nun zerrt auch der andere, wobei er mir seine Hand so an die Kehle legt, daß ich nicht mehr schreien will, in der Angst erwürgt zu werden. Beide reißen an mir, schon liege ich am Boden. Aus der Jackentasche klirrt mir etwas heraus. Es müssen die Hausschlüssel sein, mein Schlüsselbund. Ich komme mit dem Kopf auf der untersten Stufe der Kellertreppe zu liegen, spüre im Rücken naßkühl die Fliesen. Oben am Türspalt, durch den etwas Licht fällt, hält der eine Mann Wache, während der andere an meinem Unterzeug reißt, sich gewaltsam den Weg sucht.“|

|ANONYMA, von Samstag, 16. Juni, bis Freitag, 22. Juni 1945
„Ich habe Gerd inzwischen meine Tagebuchhefte gegeben (es sind drei Kladden voll geworden). Gerd setzte sich eine Weile drüber hin, gab mir dann die Hefte zurück, meinte, er könne sich nicht durchfinden durch mein Gekritzel und die vielen eingelegten Zettel mit den Steno-Zeichen und den Abkürzungen. ‚Was soll denn das heißen?‘ fragte er und deutete auf Schdg. Ich mußte lachen: ‚Ja, doch natürlich Schändung.‘ Er sah mich an, als ob ich verrückt sei, sagte nichts mehr.“|

Für seine „Verbrüderung mit dem Feind“ wird der Major strafversetzt, kurz nachdem Anonymas Gatte Gerd aus dem Krieg heimgekehrt ist. Doch schon nach zwei Tagen hält er nicht mehr aus, aus ihren Notizbüchern über von all dem zu erfahren, was sie und die anderen Frauen getan haben. Voll Abscheu verschwindet er ins Nirgendwo.

_Anmerkungen_

|Anmerkungen von Günther Rohrbach, Produzent des Films:|

Es ist das letzte große Tabu des II. Weltkriegs. Bis heute gibt es, auch in der Wissenschaft, darüber nur wenige Veröffentlichungen, kein Standardwerk, keine verlässlichen Zahlen. Hunderttausende Frauen sind vor allem im Osten Deutschlands in den letzten Kriegswochen vergewaltigt worden. Manche Schätzungen bewegen sich zwischen einer und zwei Millionen, zuverlässig sind sie nicht. Wie sollten sie auch, denn kaum jemand hat darüber öffentlich gesprochen, am wenigsten die Frauen selbst. Sogar in den Familien gab es so etwas wie einen Schweigebann. So groß wie das Leid war die Scham, auch und gerade dem eigenen Mann, den eigenen Kindern gegenüber.

Soweit sich die Wissenschaft überhaupt dem Thema näherte, stützte sie sich auf die wenigen schriftlichen Zeugnisse, die ihr zugänglich waren. Historiker arbeiten nach Aktenlage. Mündliche Recherchen sind ihnen fremd. So waren es Journalisten wie Erich Kuby („Die Russen in Berlin 1945“) und vor allem die Filmemacherin Helke Sander, die die fundiertesten Beiträge zum Komplex der Vergewaltigungen geliefert haben. Helke Sanders Film „Befreier und Befreite“ erschien Anfang der 90er Jahre zusammen mit dem gleichnamigen Buch. Ergänzend zu zahlreichen persönlichen Zeugnissen wird hier erstmals auch versucht, den bestürzenden Umfang der Ereignisse mit Zahlen zu unterlegen. Gegenüber der Methodik dieser Ermittlung mag es Zweifel geben, unzweifelhaft ist aber, dass es hier um eine Größenordnung geht, deren erfolgreiche Verdrängung durchaus skandalös genannt werden kann. In den Kriegen der Männer waren die Frauen seit jeher eine mehr oder weniger selbstverständliche Beute. Heute nennt man das Kollateralschäden. Daran hat sich, folgt man den Berichten aus dem ehemaligen Jugoslawien, aus dem Irak oder Afghanistan, bis in unsere Gegenwart hinein nichts geändert. Dennoch war das Ausmaß der Vergewaltigungen von 1945 extrem und beispiellos.

Die Tabuisierung dieser Ereignisse hat viele Gründe. Der wichtigste: Die eigene schwere Schuld hat es den Deutschen jahrzehntelang schwer, ja unmöglich gemacht, sich auch mit jenen Verbrechen der Nazizeit und des Krieges zu beschäftigen, bei denen sie sich selbst als Opfer sehen konnten. Diese Haltung war im Nachkriegsdeutschland weitgehend unumstritten. Erst in letzter Zeit hat man, nicht ohne kritische Begleitgeräusche, damit begonnen, in diesem oder jenem Falle eine andere Perspektive zuzulassen. Zweifellos hat es auch eine Rolle gespielt, dass bei den Vergewaltigungen die Täter vor allem Soldaten der Roten Armee waren, die Opfer Bürger der DDR. Es war gerade in der DDR politisch nicht opportun, die Befreier mit einem solchen Makel zu belasten. So war es eine große Ausnahme, wenn Bert Brecht in seinem Arbeitsjournal unter dem Datum vom 25.10.1948 mit aller Vorsicht und im Bemühen um Gerechtigkeit folgendes schrieb:

|[Zitat] „immer noch, nach den drei jahren, zittert unter den arbeitern, höre ich allgemein, die panik, verursacht durch die plünderungen und vergewaltigungen nach, die der eroberung von berlin folgten. In den arbeitervierteln hatte man die befreier mit verzweifelter freude erwartet, die arme waren ausgestreckt, aber die begegnung wurde zum überfall, der die siebzigjährigen und die zwölfjährigen nicht schonte und in voller öffentlichkeit vor sich ging. Es wird berichtet, dass die russischen soldaten noch während der kämpfe von haus zu haus, blutend, erschöpft, erbittert, ihr feuer einstellten, damit frauen wasser holen konnten, die hungrigen aus den kellern in die bäckereien geleiteten, die unter trümmern begrabenen ausgraben halfen, aber nach dem kampf durchzogen betrunkene horden die wohnungen, holten die frauen, schossen die widerstand leistenden männer und frauen nieder, vergewaltigten vor den augen von kindern, standen in schlangen an vor häusern usw …“ [Zitat Ende]|

Nicht zuletzt waren es die Frauen selbst, die eine Auseinandersetzung mit diesem Thema verhinderten, weil sie kein Interesse daran hatten, mit dem, was sie trotz allem auch für ihre Schande hielten, erneut konfrontiert zu werden. Auch in der von dem Historiker Rolf-Dieter Müller im Auftrag des Militärgeschichtlichen Forschungsamtes herausgegebenen zehnbändigen Gesamtdarstellung des II. Weltkriegs werden die Vergewaltigungen nur beiläufig behandelt. Auch hier keine Zahlen – man beschränkt sich auf die pauschale Formulierung „Hunderttausende“ und resigniert vor der Unmöglichkeit einer zuverlässigen Quantifizierung mit dem Begriffspaar „zahllos und namenlos“.

|Anonyma|

Wann immer freilich in den vergangenen Jahrzehnten die Verbrechen an den Frauen im Berlin des Jahres 1945 zum Thema wurden, hat man sich nicht zuletzt auf die Tagebuchaufzeichnungen der Anonyma unter dem Titel „Eine Frau in Berlin“ berufen. Sie sind bis heute die einzige authentische Veröffentlichung, die es über die Massenvergewaltigungen des letzten Krieges gibt. Es ist bezeichnend, dass die Autorin ihren Namen auch Jahrzehnte nach den geschilderten Vorgängen nicht genannt hat. Wir haben ihren Wunsch, auch über den Tod hinaus anonym zu bleiben, respektiert, obwohl der Name an anderer Stelle inzwischen öffentlich geworden ist.

Es hat Versuche gegeben, die Authentizität dieses Dokumentes in Zweifel zu ziehen. Überzeugend waren sie nicht. Ein Gutachten Walter Kempowskis hat sie im Übrigen widerlegt. Die Ereignisse selbst sind ohnehin unumstritten.

Die Anonyma hat in der Zeit vom 20. April bis 22. Juni 1945 in Berlin Tagebuch geführt und diese Aufzeichnungen unter Anleitung ihres Mentors Kurt W. Marek (dem berühmten „C. W. Ceram“ bei |Rowohlt|) erstmals 1954 in New York in englischer Übersetzung veröffentlicht. Das Buch wurde auf Anhieb ein großer Erfolg. Nach etwa einem Dutzend weiterer ausländischer Ausgaben erschien das Buch Ende der 50er Jahre auch in Deutschland – und blieb weitgehend unbemerkt. Zu kurz war damals noch der Abstand, zu frisch waren die Wunden. Ohnehin war man in jenen Jahren vor allem damit beschäftigt, die Ereignisse des II. Weltkriegs möglichst aus dem kollektiven Gedächtnis zu verdrängen.

Es war allerdings nicht nur der Inhalt, der die Leser abschreckte, sondern vor allem der Ton, in dem die Anonyma ihre Erlebnisse verarbeitet hatte. Er ist frei von jeder Larmoyanz, kein Opfer-Pathos, kein Mitleidsappell. Anonyma schildert diese Wochen des Grauens und der Verfolgung selbstbewusst und mit jener schnoddrig sachlichen Kühle, die so typisch ist für die Berlinerin. Sie hat sich nicht unterkriegen lassen, so wenig wie viele der Frauen in ihrer Umgebung, ihr Überlebenswille war groß und stark. Und sie hat sich auch nicht gescheut, sich zu prostituieren, wenn anders das Weiterleben nicht gewonnen werden konnte.

Aber genau das, ihre Bereitschaft, das scheinbar Unmögliche zu tun, mit kühner Entschlossenheit die Gesetzlichkeiten der bürgerlichen Moral zu ignorieren und es auch noch trotzig niederzuschreiben, hat die deutschen Zeitgenossen der 50er Jahre empört. Ihr Bild von der deutschen Frau ließ nichts anderes zu als den Opfergang, im Zweifel bis zum Letzten.

Als Hans Magnus Enzensberger zu Beginn dieses Jahrhunderts das Buch wieder aufgriff und es in seiner „Anderen Bibliothek“ veröffentlichte, war die Resonanz überwältigend positiv. Befördert vom Enthusiasmus der Kritiker enterte das Buch auf Anhieb die Bestsellerlisten. Erneute Veröffentlichungen in zahlreichen Ländern waren die Folge.

|Der Film|

Der Film stellt sich dem Thema in seiner ganzen Komplexität, das heißt, er erzählt keine Opfergeschichte. Er verschweigt also nicht, wer in diesem Krieg die Angreifer, wer die Täter waren. Es ist kein Film über arme deutsche Frauen und böse russische Soldaten. Dennoch weicht er den harten Fakten nicht aus. Das ist ein schmaler Grat, auf dem er sich bewegt, aber es ist möglich, weil die Anonyma für sich selbst die mutige Entscheidung getroffen hat, kein Opfer sein zu wollen. Sie hat uns überdies die Chance gegeben, das zu vermeiden, was in vergleichbaren deutschen Filmen immer wieder geschieht, dass nämlich die Hauptfiguren aus dem politischen Kontext der Nazizeit herausgelöst und ideologisch entschuldet werden.

Wir haben uns dem Problem gestellt, dass die Anonyma ein Teil des Systems war. „War ich selber dafür? Dagegen?“, schreibt sie in ihrem Tagebuch, „Ich war jedenfalls mittendrin und habe die Luft eingeatmet, die uns umgab und die uns färbte, auch wenn wir es nicht wollten.“ Sie war Journalistin, da hatte sie nicht viele Möglichkeiten, den Ansprüchen derer zu entkommen, die dieses Land regierten. Sie hat Texte geschrieben, wie sie damals geschrieben wurden, auch von Journalisten, die später den demokratischen Geist der Bundesrepublik repräsentierten.

Wir haben uns auch bemüht, den russischen Soldaten Gerechtigkeit widerfahren zu lassen. Sie waren zum großen Teil einfache Bauern, denen man dieses reiche Deutschland als Beute versprochen hat, als Ausgleich für erlittenes Leid. Kein anderes Volk hat auch nur annähernd so viele Opfer gebracht. Von den über 50 Millionen Toten des II. Weltkriegs waren mehr als die Hälfte Bürger der Sowjetunion.

Den Rahmen des Films bilden die Vergewaltigungen und die mutige Selbstbehauptung, mit der eine Gruppe von Berliner Frauen versucht, damit umzugehen. In seinem Kern aber erzählt der Film eine hochdramatische Geschichte zweier Menschen, die Feinde sind und die dennoch ein starkes Gefühl füreinander entwickeln. Wir stützen uns dabei auf vorsichtige Andeutungen der Tagebuchautorin, erlauben es uns aber, darüber hinauszugehen.

„Der Krieg verändert die Worte“, sagt Anonyma zu ihrem Beschützer, „Liebe ist nicht mehr das, was es war.“ Als am Ende Gert, ihr Mann, zurückkehrt, erleben wir das wahre Drama dieser Geschichte. Die Frauen haben, jedenfalls in ihrer Mehrheit, ihre Verletzungen tapfer ertragen. Es waren die Männer, die es nicht schafften.

_Mein Eindruck_

Was die Inhaltsangabe und Rohrbachs Anmerkungen verschweigen, sind die verräterischen Aktionen auf beiden Seiten. Der Major, Andrej, verbrüdert sich mit dem Feind und wird dafür strafversetzt – Sibirien. Aber zuvor kam es zu einem schweren Verstoß gegen die Sicherheitsbestimmungen der Russen durch die Bewohner des Hauses, in dem Anonyma lebt.

Alle Deutschen sollten selbstverständlich ihre Waffen abgeben. Doch Anonyma hat in ihrer Dachwohnung einen jungen deutschen Soldaten geduldet, der bewaffnet war und Essen von den Russen stahl. Sie brachte es nicht übers Herz, ihn durch Verrat nach Sibirien zu schicken. Doch Petka, ihr erster „Kavalier“, durchsuchte das Haus bis zum Dach auf der Suche nach einem weiblichen Ersatz für die vorenthaltene Anonyma. Er stößt auf das schlesische Flüchtlingsmädchen, das zur Freundin des jungen deutschen Soldaten geworden ist. Der Soldat schießt auf den russischen Gegner, der sich an dem Mädchen vergreifen will.

Alles fliegt auf, und das ganze Haus muss Sanktionen der Russen erdulden. Nun hat der Rivale des Majors, Oberleutnant Andropov, Oberwasser und nutzt die Chance, ihn auszubooten und versetzen zu lassen. Für das Verstecken des deutschen Soldaten muss sich Anonyma Vorwürfe von ihren deutschen Mitbewohnern anhören, sogar von Eckart, dem alten Volkssturmangehörigen.

Verrat ist eben auf beiden Seiten zu finden und meist durch das definiert, was dem jeweiligen Machthaber nützt. Die Frauen mussten sich durch dieses moralische Minenfeld hindurchlavieren. Anonyma will nicht zur Beute aller werden und stellt sich unter den Schutz eines einzigen dieser „Wölfe“, des Majors. Sie hintergeht ihn, indem sie verschweigt, wen sie in der Dachwohnung beherbergt. Da sie selbst aber machtlos ist, kann sie niemanden wirklich schützen. Es kommt zur Katastrophe.

Aber sie wird überleben. Sie erinnert an die Deutsche Lena Brandt in Soderberghs Film [„The Good German“,]http://www.powermetal.de/video/review-1044.html der auf dem Roman „In den Ruinen von Berlin“ von Joseph Kanon beruht. Gerade die Deutschen haben dafür einige Redensarten erfunden. „Not kennt kein Gebot“ und „Nach dem Fressen kommt die Moral“.

Doch der Film ist nicht zynisch oder kaltschnäuzig inszeniert, sondern steht auf der Seite der Menschen, nicht auf jener der Geschichtsschreibung oder irgendeines Systems. Deshalb nimmt er keine Verurteilungen vor. Das fand ich sehr positiv. Allerdings sind viele Szenen ohne Dialoge geschrieben, sondern wurden für Blicke und Gesten inszeniert. Dies wird dem Hörspiel zum Verhängnis …

_Die Inszenierung des Film-Hörspiels_

Mehr als einmal gibt es lange Szenen in diesem Film, in denen kaum ein Wort gesprochen wird. Kennt der Hörer den Film noch nicht, muss er sich Gesten, Mienen und Blicke vorstellen. Das fällt schwer in einem Film, der so von Emotionen getragen ist wie dieser. Mehrmals habe ich die Machart des Films mit [„Die Welle“]http://www.powermetal.de/video/review-1622.html verglichen. Dort gibt es aber wesentlich mehr Dialoge, da sich der ganze Film um Kommunikation und Gemeinschaft dreht.

Eigentlich sollte es in „Anonyma“ ebenfalls darum gehen, doch es fehlen die Worte. Und wenn es sie mal gibt, dann an den entscheidenden Stellen in russischer Sprache. Einer der entscheidenden Nachteile des Hörspiels besteht im Fehlen von Untertiteln. Entscheidende Stellen des interkulturellen Dialogs – Anonyma spricht ja auch russisch! – gehen so verloren.

Alle diese Mankos könnte die Erzählstimme auffangen – tut sie aber nicht. Die Aufgabe der Erzählstimme besteht vielmehr darin, Gedanken wiederzugeben, also sehr Intimes, sowie geschichtliche Zusammenhänge, also sehr Allgemeines. Dazwischen liegt die Sphäre des Films, mit den genannten Leerstellen.

Am meisten geärgert hat mich die entscheidende Szene zwischen Anonyma und dem heimgekehrten Gatten Gerd. Wir hören jede Menge Möbelrücken, Poltern und Kratzen – möglicherweise versucht er, in der Dachwohnung sein früheres Fotoatelier einzurichten. Diesem galt seine erste Frage an seine Frau, nicht etwa ihrem Wohlbefinden. Die Musik steigert sich zu dramatischen Dimensionen, doch immer noch fällt kein Wort, was doch auf die Dauer etwas unbefriedigend ist. Ob sie nun miteinander schlafen oder nicht – wir können es uns nur vorstellen. Und das ist viel zu wenig, wie sich herausstellt.

|Sound & Geräusche|

Bei einem Film-Hörspiel kann man auch einen anständigen SOUND erwarten. Der wird zum Glück auch geliefert, wenn auch nicht in DD 5.1, sondern nur in Stereo. Das reicht aber völlig aus, um gewaltige Explosionen und Granateinschläge sowie Gewehr-Salven im Wohnzimmer oder Kopfhörer des Zuhörers losdonnern zu lassen. Ich bin selbst mehrmals zusammengezuckt, mir wurde mulmig im Magen. Erst angesichts dieser Gewalten kann man sich den Überlebenskampf in den Berliner Häuserschluchten einigermaßen vorstellen.

|Musik (Original-Score)|

Der Score von Zbigniew Preisner ist klassisch instrumentiert. Er muss mit leisen Tönen gegen die Geräusche des Überlebenskampfes ankommen. Vielfach ist ein leises Piano zu hören, auch eine junge russische Solosängerin und eine Sopranistin, die eine Kantilene singt. Einmal spielt der „Major“ Andrej selbst am Piano eine schöne Melodie, vielleicht Chopin. Am besten gefielen mir die Stellen, in denen es dramatischer und flotter zuging; dann spielt das ganze Orchester mit. Ob der Komponist auch für die russische Party- und Tanzmusik zuständig war, kann ich nicht sagen.

Der Abspann und Ausklang wird von einem einzelnen Piano bestritten, das mit seinem Klang die verschwindende Erinnerung charakterisiert, auch wenn diese noch so schmerzhaft und traurig sein mag. Dieser Ausklang dauert immerhin fast 120 Sekunden lang.

_Unterm Strich_

Man sollte vor dem Hören dieser Produktion meiner Ansicht nach den Film gesehen haben. Als Appetizer taugt das Hörspiel ebenso wenig wie als Souvenir. Die Geschichte an sich wird zwar deutlich und klanglich anschaulich dargestellt, aber das Fehlen von Erzählkommentaren (und Untertiteln) an entscheidenden Stellen hat mich mehr als einmal geärgert und frustriert. Der Preis von knapp 20 €uronen ist erheblich zu hoch für diese bescheidene Leistung.

Dennoch habe ich keinen Zweifel, dass dies ein wichtiger Film für deutsche Zuschauer ist und wesentlich zur Aufklärung über ein dunkles Kriegskapitel beiträgt. So wie „Die Welle“ über das Entstehen des Faschismus aufgeklärt hat, so erhellt „Anonyma“ das bestehende Verhältnis zwischen Deutschen und Russen. (Man lese dazu die Anmerkungen von Produzent Rohrbach.)

|120 Minuten auf 2 CDs
ISBN-13: 978-3-8218-6300-9|
http://www.eichborn-lido.de
http://www.anonyma.film.de

Jonathan Carroll – Fieberglas / The Marriage of Sticks

Entdeckungsreise ins Ich einer Zauberin

Miranda Romanac ist eine attraktive Frau mittleren Alters, die mit seltenen Büchern handelt und eigentlich ein erfülltes Leben führt. Nur der Mann fürs Leben fehlt ihr noch und sie hofft, auf einem Klassentreffen ihrem Ex-Freund James zu begegnen, für den sie immer noch romantische Gefühle hegt. So kommt es einem Schock gleich, als sie erfährt, dass James Stillman drei Jahre zuvor bei einem Autounfall ums Leben gekommen ist.

Nach New York zurückgekehrt, lernt sie den reichen Kunsthändler Hugh Oakley kennen, der lange Zeit mit James befreundet war. Sie verlieben sich und alles scheint sich wieder zum Guten zu wenden. Doch dann wird Miranda von einer Folge unerklärlicher Ereignisse heimgesucht, die ihr buchstäblich den Teppich unter den Füßen wegziehen.… (Quelle: Amazon.de)
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Bertram Weisshaar – Einfach Losgehen

Richtung Horizont

„Eine Wanderung an der eigenen Haustüre zu beginnen, scheint mir sehr naheliegend, wortwörtlich das Nächstliegende. Das Überraschende dabei ist: Schon nach wenigen Minuten verändert sich etwas. Jeder Schritt hier, alles ist mir doch so vertraut, unmittelbares Wohnumfeld, und doch ist es ein bisschen so, als wäre es mir nun ein wenig fremd, als wäre ich schon nicht mehr von hier.“

Der Spaziergangsforscher Bertram Weisshaar beschäftigt sich seit Jahrzehnten mit dem Gehen. Er spürt nach, wie sich unsere Wahrnehmung verändert, wie wir den Raum gehend begreifen können und warum Spaziergänge so wichtig für uns sind.
Bertram Weisshaar verführt uns mit seinem Buch zum Wandern und Streunen. Denn: Nichts führt dichter in die Welt hinein als das Gehen. Los geht`s. (Verlagsinfo)

Inhalt und Eindrücke

Weisshaars Buch „Einfach Losgehen“ trägt noch zusätzlich den schönen Untertitel: „Vom Spazieren, Streunen, Wandern und vom Denkengehen“ und ist in drei Abschnitte untergliedert:

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