Schlagwort-Archive: Elizabeth Becka

Elizabeth Becka – Mit dem letzten Atemzug. Thriller

Die Spurensicherungsexpertin Evelyn James vom Gerichtsmedizinischen Institut Cleveland wird an einem kalten Novemberabend an einen Tatort gerufen, an dem man die Leiche einer jungen Frau aus dem Fluss Cuyahoga geborgen hat. Als wäre sie ein Mafiaopfer aus einem Hollywoodfilm, stecken ihre Füße in einem schweren Zementeimer, der Körper ist mit Ketten gefesselt. Weil sie sich nicht befreien konnte, nachdem sie lebend in das eisige Wasser geworfen worden war, musste sie ertrinken, obwohl sie „bis zum letzten Atemzug“ kämpfte.

Wenig später wird ein zweites derartiges Opfer gefunden, doch die Tochter des Bürgermeisters wurde am Flussufer erdrosselt – sie hatte sich aus dem Zementeimer und den Ketten befreien können! Weil Evelyn James früher mal an der Uni die Freundin des jetzigen Bürgermeisters von Cleveland war, befindet sie sich bald in einem üblen Interessenskonflikt: Sie darf eigentlich nichts über den Fortgang der Ermittlungen preisgeben, doch Daryl Pierson musste sie versprechen, genau dies zu tun. Will er etwa private Rache üben?

|Die Autorin|

Elizabeth Becka ist wie ihre Hauptfigur Spurensicherungsexpertin und als Mitglied der „American Academy of Forensic Sciences“ auch als forensische Gutachterin vor Gericht tätig. Sie arbeitete fünf Jahre im Cuyahoga County Coroner’s Office in Cleveland, zuständig für Stoff-, Haar- und DNA-Analysen und ist heute für die Tatort-Sicherung im Cape Coral Police Department, Florida, verantwortlich.

_Handlung_

Die Spurensicherungsexpertin Evelyn James kann den November wie die meisten Leute auch nicht leiden. Das Leben einer alleinerziehenden Mutter eines pubertierenden Mädchens ist nicht einfach, und dann will auch noch ein intriganter Praktikant ihren Arbeitsplatz haben und sägt an ihrem Stuhl.

Nicht gerade bester Laune trifft sie daher am neuesten Tatort von Cleveland, Ohio, ein. Eine junge Frau wurde aus dem Cuyahoga-Fluss gefischt. Das Besondere an ihr: Man hatte sie von einer Brücke ins Wasser geworfen, als sie noch lebte. Aber sie konnte sich nicht durch Schwimmen retten, weil ihre Füße in einem Zementeimer steckten und sie mit Ketten gefesselt war. Es war kein Raubmord, und die reale Mafia hat eigentlich ganz andere Methoden, ihre Opfer zu erledigen: „zwei Schüsse in den Nacken“, meinen die Detectives Riley und Milaski.

Ein Besuch beim örtlichen Mafiaboss Mario Ashworth, einem Baulöwen, bringt daher nichts außer der Bekanntschaft seines imposant gebauten Gorillas Marcus. Und seine junge Frau lebt auch noch.

Die nächste Wasserleiche, die man wenige Tage später am Flussufer findet, ist wesentlich interessanter. Evelyn erkennt sie sofort. Destiny Pierson war es gelungen, den Zementeimer von den Füßen zu streifen und sich aus den Ketten zu lösen. Erst am Ufer hatte ihr Mörder sie erwischt und erdrosselt. Nicht nur Riley und Milaski sind erschüttert, sondern auch Evelyn: Destiny Pierson ist die Tochter des jetzigen Bürgermeisters von Cleveland, der am College ihr Freund war, bevor er eine schöne reiche Erbin heiratete.

Pierson bittet Evelyn, ihm um der alten Freundschaft willen die Ermittlungsergebnisse unter der Hand weiterzuleiten, eine höchste illegale, korrupte und gefährliche Handlungsweise. Denn dadurch könnten nicht nur Beweisstücke vor Gericht für ungültig erklärt, sondern auch Unschuldige gefährdet werden. Und wenn der Deal rauskommt, könnte es so aussehen, als führte der Bürgermeister einen privaten Rachefeldzug – ein gefundenes Fressen für seine Gegner und die Medienhaie.

Destiny Pierson und Ophelia (welch ein passender Name, denken alle) Ripetti sind aber nicht die ersten Opfer des Zementeimer-Killers, es gab schon drei ähnliche Fälle davor. Evelyn und Milaski sind durch durch die Folgen, die das Verschwinden der Frauen für ihre Angehörigen hatte, erschüttert und arbeiten enger zusammen, ja sogar parallel zueinander. Die politischen Implikationen des Falles interessieren sie weniger, aber der Kontakt zum Bürgermeister rückt Evelyn ins Zwielicht. Kann ihr die Polizei noch vertrauen?

Eine brisante Zuspitzung erfahren die Ereignisse, als erst Evelyns Tochter Angel aus der Obhut ihres Vaters verschwindet und wenig später Evelyn selbst wie vom Erdboden verschluckt ist. Wird sie das nächste Opfer, dessen Füße man in einem Zementeimer unter einer Brücke findet?

_Mein Eindruck_

Obwohl es wegen der bizarren Tötungsmethode zunächst nicht so aussieht, ist doch „Mit dem letzten Atemzug“ ein außergewöhnlich realistisch erzählter Thriller. Der Realismus betrifft sowohl die an Patricia Cornwell, Tess Gerritsen und Kathy Reichs erinnernden Ermittlungsmethoden als auch die Darstellung des Privatlebens und der persönlichen Erlebnisse der Ermittler. Dabei steht das Paar Evelyn James und David Milaski im Mittelpunkt des Interesses. Beide stehen mit dem Rücken zur Wand, was ihren beruflichen Erfolg betrifft: Wenn sie den Fall nicht lösen, sind sie beide erledigt.

|Die unscheinbare Spur|

Das ist der Grund, warum Evelyn ein erhebliches Risiko eingeht, als sie sich auf eine Spur setzt, die von den anderen Ermittlern bislang ignoriert wurde. Es ist eine Faser. Eine ganz gewöhnliche Faser aus einer synthetisch hergestellten Tischdecke, wie Caterer sie bei Empfängen verwenden würden. Damit könnte man zum Beispiel einen Kofferraum auskleiden, in dem ein Mordopfer transportiert wird. Die Faser fand sich an den Kleidern eines der beiden Opfer.

Als David Milaski, von Evelyn darüber unterrichtet, genau solch eine Tischdecke bei einem Krankenpfleger vorfindet, der sowohl beide Mordopfer betreut als auch Evelyns Tochter Anngel nach ihrer Blinddarmoperation gepflegt hatte, schrillen bei ihm sozusagen sämtliche Alarmglocken. Ist dieser Mann das lange gesuchte Bindeglied zwischen den Opfern, die einander ja nicht gekannt hatten?

|Ein Frage des Vertrauens|

Obwohl der unverheiratete Milaski die alleinstehende Evelyn sehr attraktiv findet, fällt es ihm doch zunehmend schwerer, ihr im Beruf Vertrauen entgegenzubringen. Sie trifft den Bürgermeister und telefoniert mit ihm, teilt ihm dabei möglicherweise Ermittlungsergebnisse mit, die dann vor Gericht nicht standhalten. Was natürlich die Arbeit der Kriminalinspektoren völlig zunichte machen würde und sie wie die letzten Deppen aussehen ließe. Bloß gut, dass Evelyn nicht bei den Cops ist, sondern an einem städtischen Institut arbeitet. Andererseits wird schon kräftig an ihrem Stuhl gesägt. Ihre Position ist nicht die stabilste.

|Die politische Ebene|

Neben der privaten und beruflichen Ebene beleuchtet die Autorin auch noch die politische Dimension des Falles. Da klüngelt doch tatsächlich der Bürgermeister aus Eigeninteresse, nämlich besagten Rachegelüsten, mit dem Boss der hiesigen Mafia! Eine Hand wäscht die andere, wie es so schön heißt. Beschaffst du mir den Mörder, sorge ich dafür, dass du bei der Ausschreibung den Auftrag für den Neubau des Gerichtsmedizinischen Instituts (Evelyns Arbeitsstätte) bekommst – alles geritzt?

Die Autorin arbeitet inzwischen nicht mehr in Cleveland, sondern in Florida. Wer weiß, wen sie dort aufs Korn nimmt? Falls sie es sich beruflich leisten kann und niemand an ihrem eigenen Stuhl sägt.

|Der Erzählstil|

Sollte nun der Eindruck entstanden sein, der Erzählstil sei ebenfalls von kühlem Realismus angekränkelt, könnte vielleicht (hoffentlich) eine Textprobe vom Gegenteil überzeugen:

[Das Opfer wird lebend in den Fluss geworfen.] „Die Kälte fuhr ihr wie ein Messer durch den Leib. Mit aller Kraft widerstand sie dem fast überwältigenden Drang, nach Luft zu schnappen. Die Ketten über ihren Schultern, fest im Zementeimer verankert, zerrten sie auf den Grund des Flusses. Sie öffnete die Augen und sah nur schwarzes Nichts. Eine kalte, krallende Vorhölle. Ihre Lungen drohten zu platzen. Wasser drang in ihre Nase. Und sie dachte verzweifelt: Ich schaffe es nicht.“ (Man beachte die dramatisch kurzen Sätze, die für ein Drehbuch wie geschaffen sind.)

Das Finale ist dementsprechend höchst spannend, und die Rettung kommt in allerletzter Sekunde. So gehört sich das.

|Die Übersetzung|

Da kann ich eigentlich nicht meckern. Hier wurde saubere Arbeit geleistet. Aber auf den Seiten 149 und 150 fragte ich mich dann doch, warum „Slip“ auf einmal einen weiblichen Artikel (die) haben sollte, wenn in Deutschland alle Frauen „der Slip“ sagen.

Einen eindeutigen Fehler der Autorin findet man auf Seite 165. Was stimmt an folgendem Satz nicht? „Evelyn setzte sich vor den Computer und rief das Suchprogramm auf. Zwar arbeitete der alte Prozessor mit Höchstgeschwindigkeit, doch er rumpelte und knirschte, als wären Nägel in einen Reißwolf geraten.“ Da rollen sich dem PC-Fachman die Zehennägel auf, nicht wahr? Denn nicht der Hauptprozessor rumpelt, sondern die Festplatte (genauer: deren Schreib-/Lesekopf), und das auch nur bei sehr alten Modellen.

_Unterm Strich_

„Mit dem letzten letzten Atemzug“ ist handwerklich gut gemacht, spannend, realistisch und anschaulich erzählt und ragt damit ein wenig über die Massenware an Krimis und Thrillern hinaus.

Mit Evelyn James ist der Autorin eine glaubwürdige Hauptfigur gelungen, die allen alleinerziehenden Frauen sehr vertraut vorkommen dürfte. Hier herrscht kein Heile-Welt-Schema vor – jetzt dürfen auch Frauen mal kaputt, müde, genervt und unorganisiert sein. Dass auch Evelyn in die Schusslinie gerät, liegt in der Natur ihres Ermittlerjobs. Und dass sie von einem Mann gerettet werden muss, tja, wen freut das wohl am meisten?

Als Mann ist mir aber aufgefallen, dass die Figur des David Milaski weniger eingehend geschildert wird und daher blasser und weniger plausibel wirkt. Da muss die Autorin in ihren Charakterisierungen noch ein wenig üben. Nach diesem guten Start wird sie sicher bald das nächste Buch mit Evelyn James in der Hauptrolle verkaufen können.

|Orignaltitel: Trace Evidence, 2005
Aus dem US-Englischen übersetzt von Ingeborg Ebel|