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Felix Genzmer – Die Edda

Es hieße wohl Eulen nach Athen – oder unserem Thema angepasst: Raben nach Asgard – tragen, wenn man betonte, dass die „Edda“ das wichtigste Zeugnis für die germanische Religion darstellt. Sie ist sozusagen die große alte, weise Frau, die uns etwas über die Religion auch unserer Vorfahren erzählt. Denn obwohl der Hauptteil dieser Lieder über germanische Götter und Helden, der sogenannte „Codex Regius“, erst im 13. Jahrhundert auf der Insel Thule im hohen Norden, also Island, aufgezeichnet wurde, überliefert er uns doch Vorstellungen, die über die Fläche eines Gebiet verbreitet waren, das Skandinavien, das heutige Deutschland und Britannien einschloß. Odin und Thor kennt man im südgermanischen Raum als Wotan und Donar. Die Heldenlieder des „Nibelungen-Zyklus“ in der „Edda“ sind von heutigen deutschen Gebieten nach Island gewandert – Siegfried heißt hier Sigurd und Hagen Högni. Zugleich gibt die „Edda“ damit die älteste erhaltene Version der Nibelungensage wieder.

Selbst wer sich als Leser dieser Seite noch nicht mit den altgermanischen Mythen und Sagen in der „Edda“ auseinandergesetzt hat, dem werden die Geschichten vielleicht bekannt vorkommen. Viele Musikgruppen aus dem Bereich des Metal, Gothic, Neofolk oder Dark Ambient beschäftigen sich ja mit den alten Göttern, Sagenhelden oder Runen. Auf der zweiten CD der Viking-Metaller FALKENBACH beispielsweise findet sich das Instrumental „Baldurs Tod“ – jener strahlende Gott Baldur ist gemeint, der durch die List Lokis ums Leben kommt und ins Totenreich zur Göttin Hel fährt. Sein Tod stellt ein unheilvolles Omen dar, das auf den Ragnarök verweist, den Untergang der Götter.

Tragisch und voll dunklen Zwielichts erscheint die Religion der Germanen in dem berühmten Lied „Volüspa“ („Der Seherin Gesicht“). Doch diese Tragik ist kämpferisch und das genaue Gegenteil einer Opferhaltung. Die Götter wissen um ihren Untergang und trotzdem ergeben sie sich kein einziges Mal der Resignation. Ihre Verantwortung und ihre Sorge um die Welt bestimmen ihr ganzes Handeln. Der Höchste des Göttergeschlechts der Asen, Odin, murmelt bis zuletzt mit dem zukunftskundigen Haupt Mimirs, um für die Endschlacht bereit zu sein. In dieser Schlacht kämpfen die Einherjer, die gefallenen Krieger, Seite an Seite mit den Göttern gegen die dämonischen Mächte, den Gott Loki, seine von ihm gezeugten Ungeheuer und die Riesen. Auch wenn Odin, Thor und Frey fallen, so taucht doch eine neue Welt auf, in der Baldur aus dem Reich der Hel zurückkehrt und über die die Söhne der Asen herrschen werden.

Diese aktive Haltung gegenüber dem Schicksal, das von den Nornen als den überpersönlichen Mächten gewebt wird, findet sich in den Heldensagen wieder. Die germanische Heldensage erzählt von der Konfrontation einer starken Persönlichkeit mit dem eigenen Tod. Der Germane nimmt dieses Schicksal nicht nur an – nein, er macht es auch noch ganz zu seinem eigenen Willen. Die menschliche Freiheit bewährt sich für den Germanen erst in der Haltung, die er dem Tod gegenüber einnimmt. Högni lacht, während die Hunnen ihm das Herz aus der Brust schneiden. Hamdir und Sörli rächen den Tod ihrer Schwester Schwanhild an dem König Jörmunrek. Aufgereizt durch die eigene Mutter gehen sie mit vollem Bewußtsein in den Tod. Kurz bevor Hamdir mit vielen klaffenden Wunden zu Boden sinkt, sagt er: „Gut haben wir gekämpft: / Wir stehn auf Gotenleichen, / aufrecht, ob schwertmüden, / wie Aare im Gezweig; / Heldenruhm gewannen wir, / sterben wir heut oder morgen: / niemand sieht den Abend, / wenn die Norne sprach.“ (S. 221) Diese Stelle soll gleichzeitig als Beispiel für die kraftvolle Schönheit der Übersetzung Felix Genzmers dienen.

Felix Genzmer gilt zu Recht als der beste Edda-Übersetzer. Von der Erstveröffentlichung 1912 (der Heldenliedteil) bis zu seinem Tode 1959 hat Genzmer an seiner Übersetzung gearbeitet, um dem Original noch ein Stück näher zu kommen und noch besser die Stimmung der altnordischen Lieder zu rekonstruieren. Er stand allerdings unter dem Einfluss der in den Zwanzigerjahren führenden Schule des bekannten Germanisten/Nordisten Andreas Heusler, die unter dem Postulat arbeitete, dass man aus der teils ungeordneten Überlieferung das Original zurückgewinnen könne. So kommt es, dass Genzmer einige Gesätze anders als in der Vorlage anordnet und manches als unpassend Empfundene wegließ. In seinen späteren Überarbeitungen nahm er viele dieser gestrichenen Stellen wieder auf. Die Aufzählung der Zwergennamen in der „Volüspa“ erscheint allerdings nicht in Genzmers Übersetzung, weil sie wahrscheinlich ein späterer Einschub in das Gedicht ist. Wer einen Vergleich haben will, sollte sich die preiswerte Simrock-Übersetzung aus dem |Phaidon|-Verlag besorgen, welche auch einen Teil der sogenannten „Jüngeren Edda“ des Snorri Sturluson enthält.

Die Übertragung von Genzmer darf als die sprachlich schönste bezeichnet werden. Sie nähert sich in Ton und Duktus dem Original am weitesten an. Genzmer versucht möglichst häufig den Stabreim wiederzugeben, der in der Regel auf vier Hebungen innerhalb von zwei Kurzzeilen (eine Kurzzeile im oberen Beispiel immer bis zum / ) beruht und bei dem die Betonung auf dem Anlaut liegt: Eine beeindruckende altertümliche Reimform, die vor allem beim lauten Lesen zu ihrer vollen Wirkung kommt. Und laut vorlesen sollte man diese Lieder – immerhin waren sie ursprünglich zum mündlichen Vortrag in der geselligen Runde z. B. beim Opferfest oder in der Königshalle gedacht.

Wie kam es nun, dass diese mündlichen Lieder in christlicher Zeit in Island auf Pergament niedergeschrieben wurden? Wir haben auf Island die typische „Inselsituation“. Fernab der großen Umwälzungen in Europa, fernab der eigentlichen Missionszentren konnte sich hier die alte Überlieferung halten. Eine Donar-Eiche wurde in Island glücklicherweise nie gefällt. Zwar führten die Isländer im Jahre 1000 durch eigenen Thingbeschluss, aber unter militärischem Druck des norwegischen Königs Olaf Tryggvason die christliche Religion ein, doch die nicht-öffentliche Verehrung der alten Götter war erlaubt; es bildeten sich heidnisch-christliche Synkretismen und das altgermanische Ethos blieb noch weit bis ins 12. Jahrhundert lebendig. Die isländischen Geistlichen waren so eng mit ihrem Volk verbunden, dass sie die heidnischen Sagen und Lieder mit viel Liebe aufgezeichnet haben.

Diese Edda-Ausgabe enthält neben dem „Codex Regius“ noch einige andere Lieder aus den Island-Sagas (eine sehr altertümliche Form besitzt das „Hunnenschlachtlied“). Jedem der kostbaren Sprachdenkmäler ist ein kleiner Einführungstext vorangestellt. Erwähnt sollte noch werden, dass die Edda neben den Götter- und Heldensagen auch Sittengedichte, Spruchweisheiten und Mitteilungen über die Runen enthält. Hier erfährt man, woher die Runen stammen (reginkunnum – „götterenstammt“) und zu welchen Zwecken sie verwendet wurden. Leider fehlt in der vorliegenden Ausgabe das „Bjarkilied“, welches uns nur in einer lateinischen Umschreibung des dänischen Geschichtsschreibers Saxo Grammaticus erhalten ist. Genzmer rekonstruierte aus dieser Umschreibung ein Stabreimlied. Das „Bjarkilied“ stellt eine Hymne auf die germanische Gefolgschaftstreue dar. Unerfindlich bleibt, warum es in der Gesamtausgabe keinen Platz gefunden hat.

Die Edda-Übersetzung von Felix Genzmer sei allen ans Herz gelegt, die sich nicht als „menschliche Eintagsfliegen“ betrachten, sondern mit Goethe der Meinung sind, dass das Leben dessen nicht lebenswert ist, der „nicht von dreitausend Jahren sich weiß Rechenschaft zu geben“.

Gebundene Ausgabe: 384 Seiten
Diederichs