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Kolarz, Henry – Gentlemen bitten zur Kasse, Die (Hörspiel)

_Rasanter Räuber-Krimi, genau wie im Film_

Es war der spektakulärste Postraub der britischen Kriminalgeschichte. Europa hielt den Atem an, als eine maskierte Gangsterbande Anfang der 60er Jahre beim Überfall auf einen englischen Postzug 2,5 Millionen Pfund erbeutete. Von Drahtziehern und Diebesgut fehlte jahrzehntelang jede Spur. Nicht nur der listige Plan, sondern vor allem der ausgeprägt galante Stil des Überfalls machte die Gangstergeschichte zum Kult. Die erste Verfilmung des Coups von 1966 brachte das Gentlemen-Flair in Millionen deutscher Wohnzimmer.

Der Norddeutsche Rundfunk produzierte den Film 1966 und lieferte so die Vorlage fürs Hörspiel.

Die Wikipedia bietet ausführliche, deutschsprachige Informationen unter [dieser Adresse]http://de.wikipedia.org/wiki/Postzugraub an.

_Die Sprecher/Die Mitwirkenden_

Erzähler: Hans-Günter Martens und Peter Weis
Michael Donegan: Horst Tappert
Patrick Kinsey: Hans Cossy
Archibald Arrow: Günther Neutze
Geoffrey Black: Karl-Heinz Hess
Dennis McLeod: Siegfried Lowitz
Jennifer Donegan: Grit Boettcher
Und viele weitere.

Regie führten beim Film John Olden & Claus Peter Witt, beim Hörspiel Günter Merlau. Das Drehbuch stammt von Henry Kolarz.

_Handlung_

Am 7. August 1963 fuhr der Postzug von Glasgow um 18:50 Uhr ab und sollte wie stets um 3:40 Uhr in London eintreffen. Doch in der Nacht zum 8. August wurde er bei der Bridego-Eisenbahnbrücke in Ledburn nahe Mentmore in der Grafschaft Buckinghamshire in England ausgeraubt.

Die Beute von exakt 2.631.684 Pfund war damals 29,5 Millionen D-Mark wert – eine gigantische Summe für westdeutsche Nachkriegsverhältnisse. Das entspricht heute einem Wert von etwa 39 Millionen Pfund oder 46 Millionen Euro, also nicht gerade Peanuts. Im Laufe der Ermittlung und der Festnahmen tauchte nur ein Achtel der Beute wieder auf (rund 330.000). Wo ist der Rest?

|Der Tipp|

Archibald Arrow, ein stilvoll gekleideter Betreiber eines Friseursalons, den seine Frau Susie Frost führt, erhält im Klub von gerald Williams einen heißen Tipp. Der abgehalfterte Gauner Twinkie gibt ihm den Tipp für den Postzug von Glasgow nach London. Der Zug karre jede Nacht gebrauchte Banknoten in Millionenwert von A nach B. Archie ist skeptisch, doch wenn was draus werden sollte, kriegt Twinkie die üblichen zehn Prozent.

|Der Major|

Archie braucht einen Mann, der so ein Riesending beurteilen und im Ernstfall auch organisieren kann. Der Mann dafür ist Michael Donegan, ein ehemaliger Major der Armee, der anno 1944 in Südfrankreich mit dem Widerstand gegen die Nazis kämpfte, um die Invasion vorzubereiten. Seine Spezialität: Eisenbahntunnel. Mit einem Trick stoppte er einen Nachschubzug der Nazis nach dem anderen, immer in Tunneln und Unterführungen. Der Major: Das Ding kann gemacht werden. Wenn man es richtig vorbereitet und finanziert.

|Probelauf|

Donegan ist klar, dass er für die Vorfinanzierung eines Stabes von über einem Dutzend Helfern mindestens 50.000 Pfund braucht (über 5 Mio. D-Mark). Woher nehmen und nicht stehlen? Eben. Wenig später stürmen vier maskierte Gentlemen in das Büro der Fluggesellschaft BOAC auf dem Londoner Flughafen und greifen bei einer Geldübergabe zu. Die Beute von 62.000 Pfund reicht, um die Vorbereitungen voranzutreiben.

Aber der Überfall ruft auch Kriminalkommissar Dennis McLeod auf den Plan, der von seinen Kollegen nur „Mister Mac“ genannt wird, weil er so eine sanfte und ruhige Art hat, dass der Normalbürger ihn für einen von ihnen hält. Weit gefehlt! Wenig später steht McLeod vor Archies Haus auf der Matte. Archies Neffe hat sich verplappert: Er führ den Fluchtwagen. Doch Archie bleibt kühl wie stets, und McLeod muss wieder abziehen. Man wird sich wiedersehen.

|Die Farm|

Archie kauft mit Hilfe des Anwalts Peter Masterson und dessen deutscher Frau Inge eine abgelegene Farm auf dem Lande. Der einzige Vorteil des leerstehenden Gemäuers: Es ist nur 30 Meilen vom geplanten Tatort entfernt. Nach und nach treffen hier die Männer ein, die das Ding ihres Lebens drehen wollen. Rennfahrer, Elektriker, Lokführer, Maler und vieles mehr. Der wichtigste Mann für Donegan ist der Elektriker, der das Stoppsignal manipulieren soll: Walter Lloyd. Eigentlich eine ehrliche Haut, gehört er aber doch zu den Fulham Boys, Londoner Gauner. Er holt zwei davon mit ins Boot, was den Major verärgert.

Die Fenster sind verhängt, die Fahrzeuge geklaut und umgespritzt, die Alibis etabliert, die Gattinnen eingeweiht. Es kann losgehen. Doch am 6.8. ruft Twinkie an: Der Postzug heute Nacht ist nur halb voll, das lohnt sich nicht. Morgen wird dafür doppelt so viel Geld Transport. Also alles zurück auf Anfang auf der Farm. Donegan ist das Saufen, Spieln und Feiern der Arbeitertypen zuwider. Auf Wache wimmelt er einen neugierigen Nachbarn ab, der ein Feld pachten will. Dieser Mann wird sich später genau an die Farm erinnern.

|D-Day|

Die Nacht der Tat ist da! Rund 14 Mann brechen um Mitternacht, um rechtzeitig an der Unterführung Sears Crossing bei Lindsdale zu sein. Doch sie müssen den schwerbewachten Zug schon fast einen Kilometer davor an einem Haltesignal stoppen. Dieses manipuliert Walter Lloyd wie vorgesehen. Der Zug aus Glasgow hält mit kreischenden Bremsen an. Sofort überwältigen die Räuber die beiden Lokführer. Trotz des strikten Befehls des Majors, keine Gewalt anzuwenden – keine einzige Pistole ist im Spiel – , wird einer der Lokführer schwer am Kopf verwundet. Gleich hinter der Lok ist der Waggon mit dem Geld. Beide werden abgekoppelt und zur Unterführung gefahren. Die Wachmannschaft in den anderen Waggons kriegt nichts davon mit.

Bei der Unterführung stehen die Lieferwagen bereit, die Geldsäcke aufzunehmen. Doch zuerst müssen die Wachen im Geldwaggon überwältigt werden. Auch das geht ruckzuck. Keiner der Beamten riskiert Gesundheit oder Leben für ein paar alte Scheine. Nach weniger als einer Stunde ist der Spuk vorbei. Als die Wachmannschaften in den abgekoppelten Waggons auf einer Farm Alarm geben können, sind die Posträuber bereits zurück auf ihrem Stützpunkt. Wird man sie entdecken?

|Die Ermittlung|

Die Nachricht vom Postzugraub versetzt nicht nur die Britischen Inseln in helle Aufregung, sondern auch den rest der westlichen Welt. Die Beute ist einfach zu gigantisch: Die größte in der gesamten Kriminalgeschichte! Für die Presse ein gefundenes Fressen. Und Kommissar Dennis McLeod hat mit seinen zwei Leuten einen schweren Stand gegen die peinlichen Fragen der Reporter. Es hilft ihm auch wenig, dass die Bevölkerung gegenüber den Gentlemanräubern eine positive Haltung einnimmt. „Wow, das war generalstabsmäßige Arbeit, Hut ab! Es gibt noch Hoffnung für England, wenn es solche Männer hat!“

Aber es gibt reichlich Spuren am Tatort, die sorgfältig katalogisiert werden. Die Räuber halten sich drei Tage versteckt, bevor sie im Radio hören, dass die Polizei den Radius der Durchsuchungen auf 30 Meilen (ca. 48 km) ausgeweitet hat: Das betrifft auch ihre Farm. Sie müssen weg. Die Luft wird dünn.

|Die Trennung|

Jetzt kommt es zum Bruch zwischen Donegan und Arrow, den zwei Anführern. Archie will das geld nehmen und sofort aufteilen, natürlich mit der Maßgabe, es nicht gleich zu verjubeln – das würde auffallen und Verdacht auf die Täter lenken. Donegan ist strikt dagegen, denn er weiß, wozu Gauner neigen: Sie leben für den Tag und wollen ihren plötzlichen Reichtum genießen. In einer Abstimmung werden der Major und seine Getreuen überstimmt. Archie übernimmt das Kommando.

Schon machen sich die Fulham Boys auf Fahrrädern aus dem Staub, als Archie und seine Leute aufbrechen. Erst jetzt können der Major und seine Leute die Spuren beseitigen und ihren beträchtlichen Anteil begraben. Wer würde schon auf dem Friedhof nachsehen? „Ruhe in Frieden“ – wohl wahr. Danach versteckt sich Donegan, während die beiden anderen, Black und Kinsey, das Unschuldslamm spielen.

|Der Anfang vom Ende? |

McLeod braucht nicht lange zu warten, bis die ersten Zeugenmeldungen eintreffen und die Spurensicherung auf der verlassenen Farm reiche Beute einfährt: Finderabdrücke, Farbspritzer, Stoffreste. Wunderbar. Doch wo sind die beiden Anführer Archie Arrow und Michael Donegan, fragt er sich. Und wie sich herausstellt, muss seine Truppe hart arbeiten, um wenigstens einen der beiden zu schnappen …

_Mein Eindruck_

„Die Gentlemen bitten zur Kasse“ wurde nach dem Drehbuch von Henry Kolarz, der den „Tatsachenbericht“ schrieb, fürs Fernsehen und als Hörspiel inszeniert. Die drei Teile der Filmserie waren in der tristen, von Schwarzweißsendungen geprägten TV-Landschaft Westdeutschlands ein echter Knaller. Ein ähnlicher Straßenfeger wie später die Durbridge-Krimis und die Edgar-Wallace-Verfilmungen.

Ich weiß noch genau, dass die drei Filme mehrfach wiederholt wurden. Damals sah ich erstmals das Gesicht von Horst Tappert (Donegan), Günter Neutze (Arrow) und Siegfried Lowitz (McLeod). Ich hätte aber nicht gedacht, dass auch die TV-Hörspiele eine ähnlich spannende Wirkung entfalten könnten wie die Fernsehfassung.

Die Story entfaltet aber gemäß der Aufbereitung durch Kolarz ihre unvermeidliche Wucht. Die Vorbereitung, die Durchführung, die Ermittlung, die Trennung, der Untergang – alles wie in einem klassischen Drama. Der Witz bei der Geschichte ist jedoch nicht die gigantische Beute oder die ausgefuchste Ermittlung McLeods, sondern die überraschende Sympathie, die den Gentlemen-Räubern bis heute entgegengebracht wird.

Es waren eben keine gewöhnlichen Ganoven, die den Coup ausbaldowerten, sondern ein ehemaliger Offizier, Michael Donegan. Seine Figur wirkt auf uns zwiespältig: Wir können zwar seine Beherrschtheit und Coolness bewundern, müssen aber mit Bedauern hinnehmen, dass er nicht gerade dem Lustprinzip frönt – dafür ist er in seiner Pedanterie viel zu uncool. Die Vorstellung davon, was „cool“ ist, hat sich eben im Lauf der knapp fünfzig Jahre grundlegend gewandelt.

Da ist uns Nachgeborenen doch Archie Arrow, der stilvolle Lebemann, viel sympathischer. Sicher, er lebt für den Tag, aber tun wird das nicht auch? Und wer würde wirklich auf 30 Millionen hocken, als wärs ein Gelege von goldenen Eiern, während sich die anderen einen schönen Lenz machen? Eben! Dumme Sache also, dass Archie dennoch geschnappt wird – und Donegan nicht.

Zum Erstaunen des Zuhörers geht die Story nämlich nach der Gerichtsverhandlung eine ganze Zeitlang weiter – mit zwei Updates auf „den neuesten Stand der Ermittlungen“ bis 1965. Es ist nicht Archie, sondern Donegan, der einen der Verurteilten nach dem anderen aus dem Knast befreit, zuerst natürlich seinen getreuen Kinsey. Er verliert seine Frau, die den Stress des Versteckens nicht mehr aushält und mit den Kindern auf die Bahamas zieht, macht aber dennoch weiter. Ein moderner Held?

_Die Sprecher/Die Inszenierung_

|Die Erzähler und Sprecher|

Es gibt erstaunlicherweise zwei Erzähler, einen aus dem Original-Hörspiel bzw. -Film und einen aus der aktuellen Produktion. Der Erste ist für die Fakten zum Kriminalfall zuständig, der Zweite für Hintergrundinformationen und Übergänge zwischen Szenen.

Die Sprecher sind selbstredend jene aus den Filmen. Tappert spielt den Ex-Militär Donegan, der überstimmt wird, Neutze den Lebemann Archie Arrow und Siegfried Lowitz den täuschend sanften Kommissar (den er dann auch später in „Der Alte“ verkörperte). Es gibt für einen Kriminalfilm erstaunlich viele Frauenfiguren, so etwa Susie Frost, Arrows Frau, gesprochen von Grit Boettcher, die damals recht bekannt war.

Daneben tauchen noch weitere Gattinnen und Liebchen auf. Archie betrügt seine Frau nämlich – McLeod schreckt nicht davor zurück, Arrow in flagranti delicto, nämlich beim Ehebruch, zu ertappen und zu verhaften. Auch Donegan scheint mit Ehebruch beschäftigt – doch das ist alles nur gespielt, um die Cops, die einen Einbrecher suchen, zu täuschen. Wer hätte gedacht, dass in diesem Kriminalstück so viel witzige Würze steckt!

|Geräusche|

Die Geräusche sind allesamt die eines realistischen Films. Wir holen also jede Menge Motoren, Schritte, Sirenen, Radionachrichten, Durchsagen, Rufe, sogar Gesang. Doch das Einzige, was wir nicht hören, ist das, was wir von jedem Krimi erwarten würden: Schüsse.

|Musik|

Die Musik stammt von der damals für einen Krimi standardmäßigen Jazz-Combo, was ja bekanntlich nicht jedermanns Geschmack ist. Aber der Jazz-Rhythmus ist so flott und eingängig, dass man gleich fasziniert ist. Obendrein wird dieses Motiv an jedem Ende und jedem Angang einer CD wiederholt.

|Booklet|

Von einem Booklet kann keine Rede sein. Alle Infos über die Sprecher und die Macher sind auf der Innenseite des Hörbuchs abgedruckt.

_Unterm Strich_

Ich habe jede Minute dieses über drei CDs verteilten Hörspiels genossen. (Zumindest da, wo die jeweils einleitenden Recaps nicht die Namen und Handlungsabläufe wiederholen.) Die Story ist straff erzählt, folgerichtig aufgebaut und in manchen Szenen spannend geschildert, manchmal sogar amüsant. Etwas ironisch sind die beiden Aktualisierungen auf den „neuesten Stand der Ermittlungen“ bis zum Jahr 1965.

|Der Fall Ronald Biggs|

Was mich etwas verblüfft hat: An keiner einzigen Stelle wird Ronald Biggs erwähnt, jener „Posträuber“, der nach Brasilien flüchtete und sich dort einen schönen Lenz machte. Er wird im [Wikipedia-Artikel]http://de.wikipedia.org/wiki/Postzugraub erwähnt, einer der Ausbrecher, der nach nur 15 Monaten Haft nach Rio entkam. „1991 nahm Biggs mit der Deutschen Punk- und Rockband Die Toten Hosen die Single „Carnival In Rio (Punk Was)“ für deren Album „Learning English – Lesson One“ auf und feierte mit ihnen seinen 62. Geburtstag.“

|Das Hörbuch|

Die größte Herausforderung an den Audio-Verlag bestand sicherlich in der Sicherstellung einer hohen Tonqualität. Dieser Transfer von der Filmtonspur ist erstaunlich gut gelungen. Es gibt keine Mängel. Die CDs sind in einem Stapel untergebracht, der zwar etwas wirkt, aber funktioniert, wenn man vorsichtig ist.

|3 Audio-CDs mit 178 Minuten Spieldauer
ISBN-13: 978-3862310166|

_Henry Kolarz bei |Buchwurm.info|:_
[„Nachts um 4 wird nicht geklingelt“]http://buchwurm.info/book/anzeigen.php?id_book=2235

Henry Kolarz – Nachts um 4 wird nicht geklingelt

Im Jahre 1959 sitzen im Zuchthaus Ivy Bluff, gelegen im US-Staat North Carolina, 37 Kapitalverbrecher der unverbesserlichen Sorte ein. Hier sollen sie nicht rehabilitiert, sondern weggeschlossen und mit jenem Eifer bestraft werden, der für die gesetzestreuen und frommen Bewohner der Südstaaten typisch ist. Die Männer hinter Gittern müssen im Steinbruch schuften, werden mit einem Brei aus Schweineleber und Maismehl gefüttert, dürfen nicht lesen, rauchen oder entspannen, werden von abgestumpften, tückischen Wächtern misshandelt. Ihre berechtigten Proteste verhallen ungehört.

An einem kalten Dezembertag wagen 19 Männer den Ausbruch. Mörder, Vergewaltiger, Bankräuber, Psychopathen sind es, die Ivy Bluff den Rücken kehren. Wie Tiere hat man sie gehalten, sie haben nichts zu verlieren, sind zu allen entschlossen. Blitzschnell zerstreuen sie sich in alle Himmelsrichtungen, springen auf Güterzüge, stehlen Autos oder verkriechen sich in abgelegenen Schlupfwinkeln. Sie nehmen Geiseln, sie rauben und töten.

Angst greift unter den braven Bürgern Amerikas um sich. 19 tollwütige Teufel treiben ihr Unwesen! Starke Männer schlafen mit der Waffe in der Hand, Mütter, Hausfrauen und behütete Töchter weinen und trauen sich nicht mehr aus dem Haus. Glücklicherweise ist das Gesetz stark in Amerika. Gottes kriminalistische Zuchtrute auf Erden – FBI-Chef J. Edgar Hoover – setzt seine besten Männer auf den Fall an. Sie rasten und ruhen nicht, treiben die Strolche, denen die Knie zittern, wenn das Wort „FBI“ fällt, in die Enge. Aber der Teufel sorgt trotzdem für die Seinen: Obwohl Polizisten jeden Stein umdrehen und auch redliche Bürger ihre Nachbarn noch schärfer als üblich – es könnten ja Kommunisten sein – im Auge behalten, schlüpfen einige Schufte ihren Verfolgern durch die Maschen. Wochen und Monate vergehen, in denen das Lumpenpack für Angst & Schrecken sorgt, bis letztendlich das Gesetz obsiegt …

Henry Kolarz schrieb seinen „Roman nach Tatsachen“ im Jahre 1961. Dem Buch ging eine Reportageserie für die Illustrierte „Stern“ voraus, für die der Verfasser angeblich vor Ort recherchierte. Theoretisch muss er also über Fakten und Hintergründe informiert gewesen sein. Für den Roman beschloss Kolarz indes diese zugunsten der Spannung weitgehend zu ignorieren.

Jeder billige Trick ist ihm dabei recht. Der Ausbruch von Ivy Bluff ist in seinem historischen Ablauf recht gut belegt. Besagte Fakten sprechen eigentlich für sich. Kolarz sucht jedoch das menschliche Drama. Ihn interessiert das Verhalten von 19 verzweifelten, gefährlichen Männern auf der Flucht. Was treibt sie, was fühlen sie, wie gehen sie miteinander und mit den Menschen um, die sie immer wieder treffen? Das sind gute Fragen, die der Verfasser freilich nie gestellt zu haben scheint. Er nutzt das Ivy-Bluff-Geschehen stattdessen als Aufhänger für ein Thrillergarn, das als Vorlage für ein zeitgenössisches B-Movie dienen könnte.

Effekthascherei und moralinsaure Klischees bestimmen die Handlung. Kolarz’ Amerika ist die Kulisse, in der auch die „Jerry Cotton“-Filme der 1960er Jahre gedreht werden. Von einem echten Verständnis für Land und Leute kann nicht die Rede sein. Die Figuren denken und reden in Phrasen. Die Story orientiert sich nur lose an den tatsächlichen Ereignissen. Kolarz „interpretiert“ und interpoliert, erfindet ganze Handlungsstränge so, dass sie ins von ihm geschaffene Gesamtbild passen.

Dieses ist eindeutig der Sensationslust verpflichtet. Allen Ernstes versucht Kolarz seinen Leser weiszumachen, dass 19 Verbrecher ein Land von der Größe der Vereinigten Staaten terrorisieren könnten. Tatsächlich waren die Männer von Ivy Bluff der Justizmaschine, die ihr Ausbruch in Gang setzte, nie gewachsen. Die meisten Häftlinge wurden rasch gefasst. Dass andere länger frei blieben, lag eher an der Unfähigkeit ihrer Jäger und der Tücke des Objekts als an ihrem kriminellen Geschick.

Natürlich kann auch keine Rede von einer „Blutspur“ sein, welche die Ausbrecher durch das Land zogen. Auch Kolarz kann nicht leugnen, dass diese neue Verbrechen fast ausschließlich begingen, um ihre Flucht fortsetzen zu können. Er versucht das zu vertuschen, indem er die Flüchtlinge ständig streiten, fluchen und ihren Opfern mit „Umlegen“ drohen lässt – kindisches Gehabe, das wohl nur Filmgangster an den Tag legen. Dazu passt ein Stil, der dokumentarische Sachlichkeit mit der naiven Nachäffung dessen mischt, was der Autor für „hartboiled“ hält. War er tatsächlich vor Ort? Hat er mit Amerikanern gesprochen? Sich umgesehen? Das zu glauben fällt wie gesagt sehr schwer.

Schwarz-Weiß-Malerei betreibt Kolarz auch in der Figurenzeichnung – dies sogar buchstäblich: Mit unerfreulicher Geschmeidigkeit macht sich der Autor den Rassismus der US-Südstaaten zu Eigen. Oder liegt er womöglich auf ähnlicher Linie? Geradezu niederträchtig setzt Kolarz auf rassistische Klischees, um seinem Thriller Schwung zu verleihen. Dabei achtet er sorgfältig darauf, entsprechende Äußerungen stets seinen Ausbrecherfiguren in den Mund zu legen – es sind schließlich Schwerverbrecher, denen man jede Schlechtigkeit zutrauen darf.

Also ist es Gangster Anderson, der die „Neger“ (das durfte man 1961 problemlos schreiben) für die Leser folgendermaßen über den Kamm schert: „Stinken, fressen, und ‚rumhuren – das ist alles, was die können.“ (S. 36) Doch es ist Kolarz, der auf den folgenden Seiten alles daran setzt, diese bösen Unterstellungen mit Leben zu füllen. William Shaw, dessen Porträt (zusammen mit den Fotos seiner Komplizen) auf dem Cover der deutschen Erstauflage abgedruckt ist und alles andere als eine Galgenvogelphysiognomie aufweist, wird bei ihm zum hässlichen, blöden, brutalen, verfressenen und vor allem ewig geilen Unhold, der es auf „unschuldige“ weiße Frauen abgesehen hat, bei deren Anblick „seine Zunge feucht aus den dicken Lippen schoss“ (S. 67). Selbst seine Kumpane ekeln sich vor ihm und prügeln den „Nigger“ tüchtig, damit er sich „benimmt“.

Auch sonst bedient Kolarz gern alle einschlägigen Vorurteile. Wenn Ausbrecher Stewart einen schwarzen Eisenbahnarbeiter überfällt, um dessen Kleidung zu rauben, wird dies so eingeleitet: „Ein Neger richtete sich schlaftrunken im Bett auf und glotzte Stewart blöde an … ‚Ich hab’ nichts verbrochen, Massa!'“ (S. 39). Später gerät Stewart in New York unter die „Portoricaner“ – gemeint sind Zuwanderer von der Karibik-Insel Puerto Rico. Die schildert Kolarz als „Halbaffen“, welche „ihren“ Stadtteil fest im Griff haben und gegenüber den alteingesessenen (natürlich weißen) Bürgern unverschämt auftreten: „Jetzt haben sie sich auf der ganzen Westseite eingenistet … Zu Hause auf ihrer Insel hätten sie arbeiten müssen, aber hier gibt man ihnen fünfunddreißig Dollar in der Woche Unterstützung. Und die Behörden wagen es nicht, sie hart anzufassen. Ihre Stimmen können Wahlen entscheiden.“ (S. 157) Also: Vorsicht vor Fremdlingen, deutsche Leser, auf dass es uns nicht ebenso ergeht! (Ach ja: Und um 4 Uhr morgens liegen ordentliche Menschen im Bett – es muss also ein Strolch sein, wenn es um diese unchristliche Zeit an der Tür klingelt!)

Wohl unfreiwillig gelingt Kolarz das Kunststück, in seinem Roman nicht eine sympathische Figur auftreten zu lassen. Seine Ausbrecher sind selbstverständlich vertierte Rohlinge, die nichts als Raubmord & Vergewaltigung im Kopf haben. Wenn’s aber zur Sache geht, werden sie eigenartig zimperlich – Pech für Kolarz, dass die 19 Unholde nachweislich nur einen Mann umbrachten. So muss er sie über weitere Schreckenstaten eben fantasieren lassen.

Möglichst deutlich soll der Unterschied zwischen Abschaum und Vorschriftsbürger ausfallen. Der US-amerikanische Durchschnittsjoe würde sich nach Kolarz dem Terror nichtswürdiger Strolche normalerweise niemals beugen und diese unerschrocken Mores lehren. Leider steht ihm in der Regel eine schwache Frau im Weg, die beschützt werden muss und dabei heftig klammert. Kolarz-Frauen sind ängstlich, willenlos, abhängig von „ihrem“ Mann/Vater/Bruder. In der Krise zerfließen sie in Tränen, verfallen in blinde Panik und sind auch sonst die reinste Landplage.

Das Gesetz repräsentieren nach Kolarz ausschließlich aufrechte, unbestechliche Männer, die das Verbrechen mit Leib und Seele hassen. Ist ein Mensch kriminell geworden, so trägt er selbst die Schuld daran. Aufgabe der Polizei ist es, ihn zu verfolgen und zu fassen. Will er nicht aufgeben – umso besser: Gefangene werden ungern gemacht; man spart dem Staat gutes Geld, wenn man solches Pack umgehend austilgt.

Die Elite der Strafverfolger bildet „FBI“, von Kolarz penetrant ohne Artikel genannt. Stellvertretend für dessen Mitarbeiter stellt uns der Verfasser Mike Pastrato vor, „41 Jahre alt, Besitzer eines bis auf einen kleine Rest abbezahlten Hauses im Villenviertel und Vater von drei Kindern, die davon träumen, später auch einmal FBI-Agenten zu werden.“ (S. 45) Nach dem Mittagessen zieht Mike stets ein frisches Oberhemd an; ein halbes Dutzend Hemden hängt in seinem Aktenschrank. Ja, das sind die Menschen, die Amerika zu dem machen, was es geworden ist: manisch sauber, fleißig, angepasst & wie ein Zahnrad funktionierend.

So ließe es sich leicht viele Seiten weiter schimpfen und schaudern, doch es soll an dieser Stelle genug sein. „Nachts um 4 wird nicht geklingelt“ sollte heute, mehr als vier Jahrzehnte nach seiner Entstehung, ganz sicher nicht als Tatsachenbericht, sondern als (schlechter) Roman gelesen werden. Miserable Thriller gibt es allerdings auch in der Gegenwart mehr als genug. Wieso also Zeit an diesen alten Schinken verschwenden?

Weil „Nachts um 4 …“ inzwischen selbst zum Zeitdokument geworden ist. Anders ausgedrückt: Hier redet der Zeitgeist, wie ihm der Schnabel gewachsen ist. 1961 ist noch nicht gar so lange her – und 1961 lag 1945 gerade 16 Jahre zurück. Da erstaunt die Offenheit, mit der „Neger“ und „Portorikaner“ unverhohlen dämonisiert und letztlich entmenschlicht werden, ohne dass sich jemand dadurch gestört gefühlt hätte. Insofern ist auch „Nachts um 4 …“ ein weiteres Indiz dafür, dass 1945 für das „deutsche Wesen“ keinen glatten Schnitt und Neuanfang bedeutete.

Interessant ist darüber hinaus die schlichte Schwarzweißsicht, die Kolarz einem ganzen Kontinent aufprägt, wobei er Amerika schreibt aber Europa bzw. Deutschland meint. Die Obrigkeit hat immer Recht, also gehorche ihr als Bürger und sei ihr dienstbar. Wer nicht mitspielt, macht sich als Außenseiter verdächtig und steht bereits mit einem Bein im Gefängnis. Ist man dort angelangt, hat man seine Menschenrechte verwirkt und ist eine Bestie, die am besten abgeknallt wird; in der Tat hat man den Ausbrecher Yank Hensley von Amts wegen zum Vogelfreien erklärt: Jeder brave Bürger durfte ihn ohne Warnung niederschießen. Es fällt schwer zu glauben, dass dies in einem zivilisierten Land unter „Rechtsprechung“ fiel.

Aber mit Recht & Gesetz ist das in den USA seit jeher eine besonders Sache … Ivy Bluff selbst ist ein gutes Beispiel dafür. Diese Einrichtung nimmt auf der Liste der historischen Justizirrwege, die in den USA begangen wurden, einen der oberen Plätze ein. 1956 wurde diese Strafanstalt speziell für verurteilte Verbrecher gegründet, die als „zu schwierig“ für „normale“ Gefängnisse eingeschätzt wurden, weil sie zur Gewalt gegenüber Wärtern und Mithäftlingen, Ausbrüchen oder sonstigem unkooperativen Verhalten neigten. In Ivy Bluff sollten sie zur Raison gebracht werden und nachdrücklich büßen, was sie der Gesellschaft angetan hatten. Dies betrieben die Betreiber mit einer Inbrunst, die 1959 gleich die Hälfte der Insassen zum Ausbruch aus der angeblichen Hochsicherheitseinrichtung trieb.

Sie wurden wieder gefangen, aber die Tage von Ivy Bluff als Gefangenenlager im mittelalterlichen Stil waren gezählt. Selbst gesetzestreue Bürger waren schockiert, als im Zuge der Ermittlungen herauskam, wie die Häftlinge hier gehalten und be- oder besser misshandelt wurden. (Hätten sie es nicht erfahren, wäre es ihnen sicher gleichgültig gewesen.) 1963 wurde aus Ivy Bluff „Blanch Prison“, eine Einrichtung für kranke Gefangene, die natürlich nicht mehr zur Zwangsarbeit antreten mussten. 1983 wandelte man Blanch eine Strafanstalt für Jugendliche um, die während ihrer Haftzeit in anderen Gefängnissen in Schwierigkeiten gerieten. 1999 wurde Blanch geschlossen.

Henry Kolarz, geboren 1927 in Berlin, schlug bereits in jungen Jahren die journalistische Laufbahn ein. Für diverse Illustrierten verfasste er mehrteilige Reportagen und spezialisierte sich dabei auf kriminalistische Themen. Storys wie „Nachts um 4 wird nicht geklingelt“, „Wenn Joseph nicht gesungen hätte“ oder „Der Tod der Schneevögel“ arbeitete Kolarz später in recht erfolgreiche „Tatsachenromane“ um. Den Durchbruch brachte ihm seine „Nacherzählung“ des berühmten englischen Postraubs von 1963, die unter dem Titel „Die Gentlemen bitten zur Kasse“ auch für das Fernsehen verfilmt und zu einem bekannten „Straßenfeger“ wurde.

In der zweiten Hälfte der 1970er Jahre verlagerte Kolarz seine schriftstellerische Arbeit und verfasste mit „Kalahari“ einen ersten „echten“ Roman bzw. Politthriller, dem er 1981 „Die roten Elefanten“ (1986 als siebenteilige TV-Serie verfilmt) folgen ließ. Kolarz, der am 12. Oktober 2001 in Hamburg starb, schrieb darüber hinaus diverse Drehbücher für Fernsehdokumentationen und Krimis (u. a. für „Tatort“).