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Mötley Crüe & Neil Strauss – Dirt, The

Es gibt da so eine Band, die heißt |GUNS ‚N ROSES|, war zu Beginn der Neunziger ganz, ganz oben, fetzte sich dann aber derart heftig, dass man statt der sicheren Millionen den Split in Kauf nahm, woraufhin ein gewisser Axl Rose seinen ehemaligen Mitstreitern allen Frust heimzahlen wollte und es fortan unter altem Namen mit neuer Band solo versuchte. Wie’s weiter ging, ist bekannt: „Chinese Democracy“ ist nach jahrelanger Ankündigung und massiven Vorscusszahlungen noch immer nicht in den Läden, die Band aber trotzdem ständig in den Schlagzeilen. Nicht schlecht für jemanden, der seit gut einer Dekade keine neue Note mehr von sich hat hören lassen.

Doch all diese Eskapaden sind nichts im Vergleich zu einer anderen Band aus derselben Ära: |MÖTLEY CRÜE|. Vince Neill, Mick Mars, Tommy Lee und Nikki Sixx gehören wohl zweifelsohne zu den größten Skandalnudeln, mit denen das Rockbusiness sich jemals auseinander setzen musste, und haben diesen Ruf auch über mehrere Jahrzehnte tapfer verteidigt.

Welche Band hatte schon mehr prominente Groupies als das verruchte Skandalquartett? Immerhin hat sich ungefähr die halbe „Baywatch“-Belegschaft in den Betten von Lee, Sixx und Co. eingenistet. Oder die Drogen – während vergleichbar große Rock-Acts wie |AEROSMITH| nie einen großen Hehl aus ihren Problemen gemacht haben und zwischenzeitlich sogar so tief am Boden waren, dass der Tod wahrscheinlicher als das Comeback war, wurden die Experimente der |CRÜE| nie an die große Glocke gehängt. Gut, wenn man heute einen Mick Mars wie eine Mumie auf der Bühne stehen sieht, werden einem die Spuren, die die unerlaubten Substanzen hinterlassen haben, schon bewusst, aber damals war es halt nicht das große Ding.

Doch warum schreibe ich dies alles überhaupt? Nun, ganz einfach: MÖTLEY CRÜE waren schon immer eine Band, die sämtliche Rock-’n‘-Roll-Klischees bis zum Exzess ausgelebt hat und im Nachhinein auch immer verdammt stolz auf sein ‚Geleistetes‘ war. Das macht die Band nicht zum Abziehbild von |SINAL TAP| – dafür ist die Musik auch viel zu gut –, lässt aber eindeutige Parallelen zur Trash-Ikone erkennen. Und weil sich die ganzen Storys, die die Viererbande in ihrer langen Karriere gesammelt hat, ziemlich gut verkaufen lassen, haben sich |MÖTLEY CRÜE| zur Jahrtausendwende dazu entschlossen, gemeinsam an ihrer offiziellen Biografie zu arbeiten, die in den Staaten auf sofortigem Wege in die Bestsellerlisten schoss.

„The Dirt“ ist der Titek des unheilvollen Buches, in dem die Vielzahl der Eskapaden aus der Perspektive der verschiedenen Bandmitglieder dargestellt wird. Die Highlights, der rasante Aufstieg, das große Chaos, der Zwist und die abertausenden Affären – all das ist in dieser dreckigen Lektüre zu finden, und entgegen allen Befürchtungen ist dieses Buch dabei alles andere als ein langweiliger Ritt auf dem Klischeepferd. Gut, sieht man mal von den ganzen Geschichten um Alkohol und sonstige zweifelhafte Mittelchen ab. Was „The Dirt“ so unheimlich lesenswert macht, sind die verschiedenen Ansichten der einzelnen Bandmitglieder. Auf der Bühne sind sie der pure Rock ’n‘ Roll, abseits aber vier vollkommen unterschiedliche Individuen, bei denen man sich im Anschluss an diese Lektüre wundern muss, dass sie als Einheit überhaupt funktionieren können.

Besonders die Betrachtung des Mick Mars lassen mich bisweilen daran zweifeln, dass dieser Mann ein Teil dieser Band ist. Kühl und nüchtern, meist auch sehr sachlich wird seine Sicht der Dinge erzählt, und selbst im Bezug auf die zahlreichen Exzesse prahlt er nicht mit den Erfahrungen, die ihn teilweise zu einem echten Wrack haben verkommen lassen. Wirklich bewegend, und das überrascht sicherlich die meisten, sind auch die Schilderungen von Frontmann Vince Neill. Die Geschichte mit Razzle von |HANOI ROCKS|, der auf Neills Mitverschulden hin den Tod fand, wird erstmals etwas intensiver und auch persönlich abgehandelt – und dies gänzlich, ohne dass man den Eindruck bekommt, Neill würde hier eine Pflichtaufgabe erledigen, um diesen festen Bestandteil der |CRÜE|-History nicht ausklammern zu müssen. Auch die hier etwas detailreicher beschriebene Auseinandersetzung mit dem Tod von Vinces Tochter geht unter die Haut und zeigt den Sänger von einer eher ungewohnten, sehr nachdenklichen Seite.

Dem entgegen stehen mit Tommy Lee und Nikki Sixx die beiden Partykanonen der Band, die auch in ihren Schilderungen ausschließlich das darstellen wollen, was ihrem wüsten Image als absolute Rockstars gerecht wird. Während die Geschichte von Mr. Sixx noch halbwegs glaubwürdig erscheint, ist der Bericht des ehemaligen Pamela-Anderson-Lovers ziemlich flach, ganz so nach dem Motto „20 Jahre Sex, Drugs, Rock ’n‘ Roll und gar nichts anderes“. Vielleicht hätte der Mann mal ein wenig mehr von seiner Persönlichkeit preisgegeben als lediglich das zu pinseln, was die Leser eh schon wissen. Aber das macht das Buch jetzt auch nicht dringend schlechter …

Was mich ein wenig überrascht, ist die Tatsache, dass man auch dem kurzzeitig eingesprungenen Sänger John Corabi Gelegenheit gegeben hat, ein paar vernichtend ehrliche Worte zu seiner Zeit bei der Band zu verlieren. Vielleicht ist dies sogar die interessanteste Handlungsebene in der ganzen Biografie, da sie eine sehr schwierige Periode dieser Band beschreibt und dazu als einziger Beitrag völlig ohne Klischees auskommt. Selbst die wenigen Sätze, die Manager und Leute aus dem Bandumfeld loswerden durften, orientieren sich da eher am Stil der Band und treffen dabei genau das, was die Egomanen sich für diesen Part wohl gewünscht haben.

Aber warum ist „The Dirt“ jetzt so herausragend, dass man gerade sogar intensiv an einer Verfilmung arbeitet? Nun, ganz einfach: Weil so etwas noch nie dagewesen ist. Es ist tatsächlich wahr. Fast alle Bandbiografien sind lediglich ein Überblick über das Schaffen der Künstler, enthalten aber meist nichts wirklich Persönliches. „The Dirt“ ist da anders; man taucht tiefer in das Seelenleben der Musiker ein und entdeckt so an vielen Stellen Dinge, die in einer ‚herkömmlichen‘ Geschichtsaufarbeitung nicht zu lesen sind. Sicherlich, die Inhalte sind berechnend und deutlich auf ein gewisses Zielpublikum zugeschnitten. Und damit ist der Infogehalt auch auf einem gleichen Level mit dem Unterhaltungsfaktor. Aber ist es nicht genau das, was man von einer Biografie erwartet? Gerade dann, wenn die beschriebene Band zu den wohl interessantesten Phänomenen der gesamten Geschichte der Rockmusik gehört? Und in Sachen Entertainment kommt „The Dirt“ nun wirklich nicht zu kurz.

Ich legte mir das Buch bereits vor drei Jahren bei einer Stockholm-Reise in englischer Sprache zu und amüsierte mich bereits damals in der Originalvariante über die vielen schmeichelhaften Zitate. Daran hat sich bei der deutschen Fassung nichts geändert; die Übersetzung ist astrein und gibt das Flair des Ursprungsbuches authentisch wieder. Stellenweise fühlt man sich dabei selber wie ein Teil der |CRÜE| und kann vieles nachvollziehen. Und ehrlich gesagt fühlt sich dies ziemlich cool an!

Ein Wort noch zum Buchtitel; ja, das Buch ist der pure Dreck! Hier wird eine Menge schmutziger Wäsche gewaschen und dazu werden zahlreiche skandalöse Schoten neu aufgebahrt. Die Band nimmt wie auch sonst kein Blatt vor den Mund, treibt es aber dabei nicht zu weit. Oberflächlichkeit und Plattitüden liegen den Autoren des Buches fern, Ernsthaftigkeit in Kombination mit Humor und Ironie sind bei den Herren da schon gefragter. Bissig bis zur Gürtellinie, aber nur selten darunter, im Rahmen des Erlaubten, aber in jedweder Hinsicht bis ans Limit – wenn ich selber auch einmal eine solche Biografie schreiben müsste, dann soll sie mit diesem Vorzeigewerk verglichen werden.

Endlich ist das Buch nun auch hierzulande regulär als preiswerteres Paperback erhältlich, und zwar über das neue Sub-Label |Heyne Hardcore|. Abgerundet mit einigen Fotos, ergibt sich hier ein vorzügliches Beispiel einer Bandbiografie, an der sich alles Folgende wird orientieren müssen. Egal ob man diese Band jetzt mag oder nicht, „The Dirt“ sollte man gelesen haben!

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Bela B. Felsenheimer – Scharnow

Scharnow ist über(all).

In Scharnow, einem Dorf nördlich von Berlin, ist der Hund begraben. Scheinbar. Tatsächlich wird hier gerade die Welt gewendet: Schützen liegen auf der Lauer, um die Agenten einer Universalmacht zu vernichten, mordlustige Bücher richten blutige Verheerung an, und mittendrin hat ein Pakt der Glücklichen plötzlich kein Bier mehr.
Wenn sich dann ein syrischer Praktikant für ein Mangamädchen stark macht, ist auch die Liebe nicht weit. Und was ist eigentlich mit den beiden homosexuellen Eichhörnchen? (Verlagsinfo)

Inhalt und Eindrücke:

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[NEWS] RICHARD LAYMON: Die Familie

Neues von Richard Laymon bei Heyne Hardcore: „Die Familie“.

Wie der Vater, so der Sohn …

Über einem Höhlenlabyrinth liegt das Mordock Cave Hotel, bei Touristen sehr beliebt. Ein Familienbetrieb, geführt von Vater und Sohn Mordock. Beide legen Wert auf ihre Traditionen: Zimmer 115 ist stets für die attraktiveren Gäste reserviert. Nach einem Stromausfall wird die Mordock-Höhle für eine Touristengruppe zur Falle. Es ist dunkel. Es gibt keinen Ausweg. Und bald merken die Eingesperrten, dass in der Finsternis jemand lauert. Die Mordocks – und noch etwas anderes. Etwas, das Blut riecht. Etwas, das Fleisch will …

Richard Laymon wurde 1947 in Chicago geboren und studierte in Kalifornien englische Literatur. Er arbeitete als Lehrer, Bibliothekar und Zeitschriftenredakteur, bevor er sich ganz dem Schreiben widmete und zu einem der bestverkauften Spannungsautoren aller Zeiten wurde. 2001 gestorben, gilt Laymon heute in den USA und Großbritannien als Horror-Kultautor, der von Schriftstellerkollegen wie Stephen King und Dean Koontz hoch geschätzt wird.
(Verlagsinfos)

Originaltitel: Midnight’s Lair
Originalverlag: Zebra
Aus dem Amerikanischen von Marcel Häußler
Deutsche Erstausgabe
Taschenbuch, Broschur, 352 Seiten
ISBN: 978-3-453-67625-1

Der Verlag bietet unter dieser Adresse eine Leseprobe an.

Uschmann, Oliver – Überleben auf Festivals

Jeden Sommer kommt es in ganz Europa zu einer wohl einzigartigen Rudelbildung. Tausende Fans der härteren musikalischen Gangart treffen sich bei einer Vielzahl stilistisch genau definierter Festivals zum Party-Wochenende und genießen zu leider immer weiter steigenden Preisen Musik, Drinks und das alljährlich-einzigartige Treiben. Doch was genau veranlasst den Liebhaber über seine musikalischen Interessen hinaus, Teil eines solchen Events zu sein? Warum treibt er sich über drei und mehrere Tage dazu, auf verdreckten Campingplätzen, in beengten Zelten und bei bedenklicher Nahrung seinem Dasein zu fristen, wo der Solo-Gig des Lieblingskünstlers doch weitaus entspannter zu genießen ist? Gründe für den Festivalbesuch gibt es schließlich zahlreiche. Doch wer sind diese Personen, die man auf einem Festival antrifft? Und welche eigenwilligen Rituale bestimmen ihr Leben während der heimischen Abstinenz?

Diesen Fragen ist Oliver Uschmann in seinem neuen Buch „Überleben auf Festivals“ recht intensiv nachgegangen. Und selbst wenn seine skurrile Darstellung über Typen, Personen, Persönlichkeiten und Gegebenheiten satirischer Natur ist, so wird man sich doch vor allem als Verfechter des sommerlichen Treibens sehr schnell in irgendeiner Form wiederfinden – oder gleich in vielfältiger Ausprägung.

Uschmann unterteilt sein Buch in mehrere Kapitel, deren einzelne Episoden nicht nur allzu typische Charakteristika jener Events beschreiben, sondern auch weit hergeholte Thesen über das Seelenleben der jeweiligen Besucherspezies aufstellen. Besonders experimentierfreudig gibt sich der Autor bei der Darstellung der Gattung der Besucher, die vom Barbaren über den Kümmerer bis hin zum modernen Twitterer reicht. Beschrieben werden typische Verhaltensmuster, die musikalisch-äquivalenten Vorlieben, prägende Erlebnisse aus der Vergangenheit und ihre ganzheitliche Konsequenz für den Aufenthalt.

Uschmann beweist dabei Fachkenntnis und Mut, lehnt sich manchmal bewusst sehr weit aus dem Fenster, übertreibt gerade bei der Verhaltensanalyse maßlos, verschafft sich und seinen Umschreibungen dabei aber wachsende Sympathiewerte, weil hier gelegentlich auch Schmerzgrenzen und Tabus überschritten werden, ohne den unteren Sektor der Gürtellinie zu streifen. Wenn hier beispielsweise eigenwillige, aber völlig normale Beziehungsgeflechte zwischen den einzelnen Besuchertypen analysiert werden, ist man erstaunt, dass selbst die völlig überspitzten Ausführungen einen gewissen Wahrheitswert haben, die „Überleben auf Festivals“ nicht bloß als Comedy-Werk wichtig machen. Fakten und Phantasie vermischen sich zu einer urkomischen Einheit, die gerade in den Zusammenfassungen über Menschen wie den Retro-Rocker und den Fachmann einen richtig tollen Unterhaltungswert aufbieten. Und dabei ist hier erst der Anfang gemacht …

In den weiteren Kapiteln werden einem die unterschiedlichen Musikergattungen nahegebracht, man erfährt von Riten und Bräuchen am Zeltplatz und bekommt auch einen ziemlich analytischen Einblick in die Wahl der Bauten und Siedlungen, in denen sich der Festivalbesucher während seines Wochenendausflugs einquartiert. Darüber hinaus widmet sich ein sehr spezieller Teilabschnitt den teils ekelerregenden kulinarischen Genüssen(?), denen man auf dem Gelände begegnet und die zum größten Teil wohl jedweder Hygieneprüfung zum Opfer fallen würden.

Interessant wird es schließlich, wenn sich die einzelnen Inhalte vermischen und beispielsweise bestimmte Rituale mit den dazugehörigen Charakteren in Verbindung gebracht werden. Oder wenn sich offenbart, warum diverse Speisen lediglich von einer bestimmten Gattung des Festivalgastes konsumiert werden. Hier greift Uschmann dann zum äußersten Extrem, würzt seine Darstellungen mit sehr pikantem, trockenem Humor und erreicht am Ende noch weitaus mehr Lacher als der umschriebene Menschentyp im Bierrausch vor der Hauptbühne – und das will ja schon mal einiges bedeuten!

Insofern wäre es eigentlich schon fatal, dieses Buch abzulehnen, weil Festivals und die Menschen, die sich dort Sommer für Sommer aufhalten, ordentlich durch den Kakao gezogen werden. Denn gerade diejenigen, die hier am ehesten betroffen sind, werden staunen, wie perfekt sie in manchen Abschnitten satirisch getroffen werden, welche Eigenbrödlereien sie selber ausleben, ohne sie als solche zu erkennen, und wie – plump gesagt – bescheuert man sich doch gerne schon einmal verhält, wenn man sein Haus für ein Wochenende verlässt und sein Leben in dieser Zeit in die Dienste des Rock ’n‘ Roll stellt. Von daher gehen für diesen ironischen, humorvollen und absolut gelungenen Beitrag zu einem Teil der zeitgemäßen Kultur beide Daumen absolut senkrecht nach oben!

|Paperback, Flexobroschur, 368 Seiten
ISBN: 978-3-453-26808-1|
http://heyne-hardcore.de
http://www.heyne.de

Timothy Greenfield-Sanders – XXX: 30 Porno-Stars im Porträt

Inhalt:

Im Oktober 2004 wurde in der Mary Boone Gallery in New York die Ausstellung „XXX Pornstar-Portraits“ gezeigt. Dazu entstanden ein Dokumentarfilm, eine Soundtrack-CD sowie der hier in Übersetzung vorstellte Begleitband, weil besagte Ausstellung ab 2005 durch Europa bzw. Deutschland tourte.

„XXX“ maskiert in den USA das Wörtchen Sex, weil es in diesem frommen Land einen hässlichen Klang besitzt. „XXX“ schwebt über den Eingängen zu den „Adult-Film“-Abteilungen der Videotheken, lässt sich aber auch als „30“ übersetzen, was den quantitativen Rahmen für Timothy Greenfield-Sanders‘ Fotoprojekt vorgab. Dessen Kern bilden folgerichtig 30 großformatige Porträts aktuell (= 2004) aktiver Pornostars oder genreprominenter Ruheständler, wobei sowohl Vertreter/innen des hetero- als auch homosexuellen Pornofilms aufgenommen wurden. Timothy Greenfield-Sanders hielt seine Motive jeweils in bekleidetem Zustand fest, um sie anschließend in möglichst entsprechender Körperhaltung und Mimik nackt zu fotografieren.

Da 30 Doppelseiten kein Buch ergeben, werden die Bilder von 140 Seiten Text begleitet, der sich in zwei Großkapitel gliedern lässt. In einem ersten Teil schreiben 15 bekannte Journalisten, Kritiker, Kunstschaffende und Insider des Pornogeschäfts aus ihrer oft sehr subjektiven Sicht über das Phänomen Pornografie. Sachlich informierende Artikel stehen hier neben Interviews und Prosatexten.

In einem zweiten Textteil kommen (neben einem weiteren Porträt- oder Ganzkörperfoto) die porträtierten Pornostars selbst zu Wort. Sie geben Auskunft über Herkunft und Jugendjahre, beschreiben, wie sie den Weg ins „business“ fanden und was ihnen zum Arbeitsalltag einfällt. Dazu gibt‘s eine Liste mit ‚Lieblingsfilmen‘, in denen der jeweilige Darsteller selbst mitwirkte.

Kluge Worte aus vorsichtiger Distanz

Entweder geht die Welt jetzt endgültig unter, oder sie tritt nun doch ins Zeitalter des Wassermanns ein. Das Urteil ist jedenfalls gefällt, bevor dieses Buch aufgeschlagen wird, denn sein Inhalt polarisiert auch im 21. Jahrhundert. Es zeigt Menschen, die für Geld vor der Kamera miteinander Sex haben, und gibt ihnen sogar ein Forum, in dem sie über sich und ihre ‚Arbeit‘ sprechen können. Damit fällt die Fraktion derer, die der Pornografie als Unterhaltung, aus moralischen Gründen oder überhaupt abhold sind, als Leser (und Käufer) aus. „XXX“ ist freilich auch nicht für den durchschnittlichen Porno-Proll gedacht, der in der Videothek als Dauerkunde per Handschlag begrüßt wird.

Nein, hier hat sich ein echter (oder wenigstens anerkannter) Künstler des Themas angenommen, welches es nunmehr zu adeln galt, damit der freigeistig denkende, vorurteilsfreie, womöglich intellektuelle Interessent offen und ohne als Lustmolch/in gebrandmarkt zu werden zu diesem Buch greifen kann. Auf dass diese Rechnung aufgeht, bedienen sich Autor und Verlag des weiterhin bewährten „Playboy“-Prinzips: Zwischen diversen Fotostrecken, die an ausgelichteter Deutlichkeit und Schärfe nichts zu wünschen übrig lassen, erstrecken sich ausgedehnte Textpassagen, in denen große Geister ihren Esprit versprühen, wenn sie eloquent und gar mutig zugleich mit dem Verpönten flirten.

Fotos ohne Feigenblätter

Richten wir den Blick zunächst auf die gelungenen Seiten dieses Buches: die Porträts, wobei dieser Begriff großzügig auszulegen ist, da der Bildausschnitt definitiv nicht unterhalb des Halses endet. Sie lassen handwerkliches Geschick erkennen und verzichten auf tarnende Dekorationen, die aus der Kulisse ‚zufällig‘ ins Bild ragen und politisch korrekt das verhüllen, was nicht nur in den USA als Instrument des Teufels oder mindestens Privatsache gilt. Die Entscheidung, ob das Ergebnis nun als Kunst zu bezeichnen ist, muss zumindest dieser Rezensent denen überlassen, die mehr davon verstehen.

In der Kritik wurde viel Aufhebens davon gemacht, dass sich der Kontrast zwischen dem bekleideten und dem unbekleideten Darsteller in dessen Körperhaltung und Gesichtsausdruck widerspiegle. Es wurde davon gesprochen, dass sich mancher Pornodarsteller offenbar nackt wesentlich ‚freier‘ fühle als in Kleidern. Dem mag so sein, muss allerdings nicht. Es ist vermutlich als These ketzerisch, doch könnte der Unterschied auch mit Anstrengung zu begründen sein, weil Greenfield-Sanders von seinen Modellen forderte, möglichst identische Stellungen einzunehmen. Auf jeden Fall scheint es wieder einmal so zu sein, dass in erster Linie der Betrachter in die Züge der Porträtierten projiziert, was er oder sie dort zu sehen glaubt.

Immerhin kann Greenfield-Sanders eines klar herausstellen: Pornodarsteller beiderlei Geschlechts entsprechen selten den aktuellen Schönheitsidealen. Die männlichen Darsteller sind verständlicherweise südlich des Nabels erstaunlich gebaut, während der Restkörper, der dem unentbehrlichen Arbeitsinstrument als Fundament dient, mit Kleidern verhüllt in einer Menschenmenge kaum auffallen würde. Dasselbe gilt für viele Frauen, deren einziges sichtbares Zugeständnis an den Job der beachtliche Anteil von Silikon – zu dessen Applizierung anscheinend stets derselbe, chronisch unfähige Chirurg angeheuert wird – in ihren Oberkörpern ist. Aber hat denn vor der Lektüre dieses Buches jemand ernsthaft Anderes vermutet? Bewegung und das Geschick des Kameramanns sind neben einer gewissen Grundattraktivität sowie Spielfreude unentbehrlich für einen echten (Porno-) Star. Stillstehend und im grellen Scheinwerferlicht bleibt er oder sie – ein nackter Mensch.

Texte – blumig bis nichtssagend

Es sind vor allem die Alibi-Sentenzen, die das Vergnügen an einem prinzipiell interessanten Buch vergällen. Nicht dass wir uns falsch verstehen: Die Kritik richtet sich nicht etwa gegen eine zu geringe Zahl von Bildern, sondern gegen die Worte, mit denen wir malträtiert werden. Einige Texten deuten zwar an, dass man durchaus über Sex und Porno klug und nachdenklich und witzig schreiben kann. Doch solche raren Lichter verschwinden hinter dichten Wolken nichtssagenden, themenfernen, salbungsvollen Geschwafels, dessen Verfasser entweder dem Vergnügen frönen, sich selbst und ihre Schreibkunst darzustellen, oder sich geehrt fühlten, in einem Buch wie diesem veröffentlicht zu werden – eine „riskante Entscheidung“, wenn wir dem Vorwort Glauben schenken.

Nehmen wir als Beispiel Gore Vidal (1925-2012), der tatsächlich zu den „großen amerikanischen Intellektuellen“ zählte, als den ihn der Klappentext herausstellt. Vidal war aber auch ein Profi des Wortes, dem klingende Texte aus der Feder flossen, selbst wenn er im Grunde nichts zu sagen hatte. Zum Thema Pornografie fällt ihm nichts ein. Er reitet stattdessen seine Attacken gegen Amerikas Rechte, die Kirche und andere Menschenmanipulatoren, die er seit Jahrzehnten piesackte. Das liest sich durchaus vergnüglich, nur: Was soll es hier? Ganz einfach: Gore Vidal ist ein Name, auf den zu verzichten ein Verlag sich hüten wird. Vorteil 2: Ihn zu lesen beruhigt den potenziellen „XXX“-Leser und senkt die Hemmschwelle zum Bücherkauf.

Außer Vidal waren es 14 weitere, (mehr oder weniger) gesellschaftlich akzeptierte oder prominente Zeitgenossen, die sich – mit Geld oder guten Worten – als Gastautoren locken ließen. Im ausführlichen Verzeichnis werden sie mit ihren eindrucksvollen künstlerischen und/oder wissenschaftlichen und/oder wenigstens intellektuellen Meriten aufgelistet: John Malkovich, Schauspielerstar mit Independent-Touch! Lou Reed, Musiker mit wüster Vergangenheit, die ihn weise werden ließ! Salman Rushdie, seit Jahrzehnten von muslimischen Moral-Assassinen gejagt! Der gemeinsame Nenner ist: Fast alle diese Männer und Frauen liefern reine Gelegenheits- und Gefälligkeitstexte ab. Nur wenige bemühen sich um das Thema – so Rushdie, der wirklich etwas über die Rolle der Pornografie in den muslimisch dominierten oder diktierten Teilen der Welt zu berichten weiß.

Besser den Mund halten!

Ansonsten langweilt ein Sammelsurium bemühter, die Provokation (vergeblich) suchender Betroffenheits-Lyriker (Reed, Koestenbaum, Leroy), müder Wiederkäuer tausendfach diskutierter, debattierter Pro-/Contra-Porno-Argumente (Wattleton) oder der Geilheit unverdächtiger Wissenschaftler (Gray). Noch sinnloser sind das Thema völlig verfehlende Loblieder auf alte Underground-Kumpane (Waters), ungelenke Hymnen an die Macht des Sexus‘ (Hartley) oder witzlose Schwafeleien à la Whitley Strieber, den nunmehr sämtliche guten Geister verlassen haben und durch außerirdische Einflüsse ersetzt wurden, gegen die kein irdisches Medikament mehr etwas ausrichten kann.

Leider auch nicht lesenswerter erweist sich „XXX“ in seinem zweiten Textteil, in dem sich die fotografierten Darsteller zur eigenen Person äußerten bzw. äußern konnten, denn einige wollten oder konnten nicht, woraufhin einfach aus den Pressetexten diverser Pornofilmstudios zitiert wird, deren Wahrheitsgehalt denen der ‚seriösen‘ Hollywood-Studios entsprechen dürfte. Wer sich vpr der Lektüre dieser Essays und Kommentare in dem Glauben wähnte, von einem verborgenen Reich verbotener Lust bzw. sexuell-chauvinistischer Knechtung zu lesen, wird umgehend eines Schlechteren belehrt: Neun von zehn Schwerarbeiter des nackten Gewerbe haben nichts Bemerkenswertes zu berichten.

Die Biografien gleichen sich, unglückliche Kindheiten kommen vor, sind aber weder symptomatisch noch der Anfang vom unvermeidlichen Abstieg in den Pornosumpf. Dieser wird nie als solcher, sondern durchweg als abenteuerlicher Arbeitsplatz mit guten Verdienstmöglichkeiten und dem Privileg von Dienstreisen empfunden, die halt Sex in einem erloschenen Vulkan mit einschließen können. Manche Darsteller waren zuvor sogar erfolgreich in ‚richtigen‘ Jobs tätig; „Lexington Steele“, dessen Gemächt jeden Lippizaner-Hengst vor Neid erbleichen ließe, war z. B. als Börsenmakler aktiv (und vermisst in seiner aktuellen Karriere „die festen Regeln der amerikanischen Unternehmerkultur“, S. 193), wie überhaupt die angeblich so lockeren Berufsbeischläfer sich privat erstaunlich ‚normal‘ sogar spießig geben oder es sind- wieso auch nicht?

Intellektuell können diese Autoren definitiv nicht mit den Profis im „XXX“-Vorderteil mithalten. Das Unvermögen, etwas Interessantes zu erzählen, kommt immerhin angenehm unbemäntelt daher. Stolz werden obskure Auszeichnungen („für den besten Dreier“; „für die beste Oralszene in einem geschlossenen Klavier“ etc.) aufgezählt, gern die Gelegenheit für aktivistische Appelle wider den Rassismus, prüde Politiker und andere Widrigkeiten genutzt. Hier und da lassen sich dann doch nicht nur eigenwerberische Plappereien, sondern ehrliche Selbstäußerungen lesen, die verraten, was man ebenfalls annehmen konnte: Im Pornobusiness arbeiten auch Männer und Frauen mit Köpfchen; Sharon Mitchell hat inzwischen ihren Doktor gemacht.

Hübsches Buch, wenig Sinn

Der Realität des Pornofilms mehr Raum zu geben, hätte ein wirklich interessantes Buch bzw. eine eigenständige und gleichgewichtige Ergänzung det Fotos ergeben. Was bedeutet es, wenn Veteran Peter North enorme Veränderungen im Porno-Alltag der vergangenen Jahrzehnte andeutet? Gern würde man mehr von Nina Hartley erfahren, die ansatzweise vom absurden Alltag einer Pornodarstellerin und Nackttänzerin in einem prüden Land mit restriktiver Gesetzgebung berichtet. Wieso hat der einst spinnefeindliche Feminismus mehr oder weniger Burgfrieden mit der Pornografie geschlossen? Liegt Jenna Jameson richtig, wenn sie zum Job einer ‚richtigen‘ Schauspielerin keinen grundsätzlichen Unterschied und den Porno als Filmgenre mit eigenen Regeln und Instrument der Unterhaltung sieht?

Aber solche Fragen lagen nicht wirklich im Interesse von „XXX“. Die gar zu reale Pornowelt bleibt zugunsten einer sorgfältig gefilterten oder künstlerisch-künstlichen Scheinwelt ausgeblendet. Die Darsteller, denen eine scheinbar vorurteilsfreie geistige Elite die Hand reicht, werden in gewisser Weise tatsächlich ausgebeutet, zumindest aber manipuliert und nach den Vorstellungen und Wünschen der „XXX“-Autoren geformt.

So bleibt als Fazit zwar Anerkennung für die fotografische Leistung Greenfield-Sanders, aber kein Lob für die Texte seiner „klug schreibenden Freunde“ (Vorwort), die vermutlich nur in einem Land wie den USA Spießer vor Entsetzen und ‚Freigeister‘ vor Entzücken japsen lassen. Wer „A“ sagt, sollte auch „B“ wagen, doch das „XXX“-Team schafft nur ein „Ähhh …“ Dafür kann man das entstandene Buch aber außerhalb geschlossener Schranktüren präsentieren und damit Freunden und Besuchern, die das Buchregal mustern, tolerante Weltläufigkeit und erwachsenes Kunstverständnis demonstrieren.

Autor

Timothy Greenfield Sanders wurde 1952 im US-Sonnenstaat Florida geboren. Er studierte Kunstgeschichte an der Columbia University und Film am American Film Institute in Los Angeles. Als Fotograf arbeitet der Künstler seit mehr als zwei Jahrzehnten. Er hat es als Modefotograf zu einem großen Namen gebracht und sich klug auf das Porträtieren der Großen und/oder Prominenten dieser Welt spezialisiert.

Darüber ist Greenfield-Sanders selbst zum Star geworden. Seine Bilder erscheinen in den etablierten Hochglanz-Magazinen, sie hängen in den Sammlungen des Museum of Modern Art, des Metropolitan Museum, des Whitney Museum oder der National Portrait Gallery. 2004 erwarben das Museum of Modern Art und das Museum of Fine Arts in Houston 700 Porträtfotos von Greenfield-Sanders.

Als Filmemacher produzierte und inszenierte Greenfield Sanders 1997 die Dokumentation „Lou Reed: Rock and Roll Heart“. 1999 wurde er dafür mit einem „Grammy Award“ ausgezeichnet. 2004 setzte Greenfield Sanders den Dokumentarfilm „Thinking XXX“ in Szene, der die Arbeit an seinem Wanderausstellungsprojekt „XXX Porno-Stars in Portrait“ festhält, das in den USA großes Aufsehen erregte und wie geplant gleichermaßen gefeiert wie verdammt wurde.

Über das vielfältige Werk des Künstlers informiert dessen gebührend aufwändig gestaltete Website.

Paperback: 200 Seiten
Originaltitel: XXX – 30 Porn-Star Portraits (New York/Boston : Bullfinch Press 2004)
Übersetzung: Conny Lösch
http://www.randomhouse.de/heyne

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