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Freeman Wills Crofts – Das Verbrechen von Guildford

crofts-verbrechen-guildford-cover-heyne-kleinEin Buchprüfer stirbt, und Diamanten im Wert einer halben Million Pfund werden gestohlen: Inspektor French steht vor fünf Verdächtigen mit lückenlosen Alibis, die er dort, wo es darauf ankommt, durch makellose Ermittlungsarbeit erschüttert … – Lupenreinere „Whodunits“ als Freeman W. Crofts konstruierte und schrieb wohl niemand; auch dieser ist als Krimi makellos, zumal der Verfasser auf jegliche Seifenoper-Zusätze ersatzlos verzichtet: ein wunderbar gereifter Klassiker.
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Jeschke, Wolfgang (Hrsg.) – Ikarus 2001. Best of Science Fiction

Best of Classic SF, mit seltsamen Lücken

Wolfgang Jeschke, der ehemalige Herausgeber der SF- & Fantasy-Reihe im Heyne-Verlag, hat als seine letzten Herausgebertaten drei Bände mit den besten SF-Erzählungen veröffentlicht:

1) Ikarus 2001
2) Ikarus 2002
3) Fernes Licht

Die Beiträge in diesen drei Auswahlbänden stammen von den besten und bekanntesten AutorInnen in Science-Fiction und Phantastik. In diesem ersten Band sind Beiträge aus den Jahren 1955 bis 1987 vertreten.

Der Herausgeber

Wolfgang Jeschke, geboren 1936 in Tetschen, Tschechei, wuchs in Asperg bei Ludwigsburg auf und studierte Anglistik, Germanistik sowie Philosophie in München. Nach Verlagsredaktionsjobs wurde er 1969-1971 Herausgeber der Reihe „Science Fiction für Kenner“ im Lichtenberg Verlag, ab 1973 Mitherausgeber und ab 1977 alleiniger Herausgeber der bis 2001 einflussreichsten deutschen Science-Fiction-Reihe Deutschlands beim Heyne Verlag, München. Von 1977 bis 2001/02 gab er regelmäßig Anthologien – insgesamt über 400 – heraus, darunter die Einzigen mit gesamteuropäischen Autoren.

Seit 1955 veröffentlicht er eigene Arbeiten, die in ganz Europa übersetzt und z. T. für den Rundfunk bearbeitet wurden. Er schrieb mehrere Hörspiele, darunter „Sibyllen im Herkules oder Instant Biester“ (1986). Seine erster Roman ist „Der letzte Tag der Schöpfung“ (1981) befasst sich wie viele seiner Erzählungen mit Zeitreise und der Möglichkeit eines alternativen Geschichtsverlaufs. Sehr empfehlenswert ist auch die Novelle „Osiris Land“ (1982 und 1986). Eine seiner Storysammlungen trägt den Titel „Schlechte Nachrichten aus dem Vatikan“.

Die Erzählungen

1) Walter M. Miller: Der Darfsteller (The Darfsteller, 1955)

In der nahen Zukunft hat das von programmierbaren Schaufensterpuppen ausgeführte „Autodrama“ das traditionelle Theaterschauspiel abgelöst – und mit ihm auch die menschlichen Darsteller. Thornier, der einst große Mime, hat dadurch seine Berufung verloren, doch er arbeitet immer noch im Theatergebäude: als Reinigungskraft. Dass er sich erniedrigt fühlt, versteht sich von selbst. Sein Kumpel Rick erklärt, wie das Autodrama im einzelnen funktioniert, und ein tollkühner Plan.

Als das neue Stück namens „Der Anarchist“ seine Premiere hat, will er die Puppe der Hauptfigur ausfallen lassen und für sie einspringen. Soweit klappt sein Plan auch hervorragend, denn die Koproduzentin spielt mit, ist sie doch eine alte Bekannte von Thornier. Doch dann taucht auch seine frühere Geliebte Mela auf, die ebenfalls in diesem Stück durch eine Puppe verkörpert wird. Und an diesem Punkt beginnen die Dinge schiefzugehen …

Mein Eindruck

In jeder Zeile verrät der Autor seine genaue Kenntnis des Theaters, und zwar nicht nur von dessen äußerer Mechanik und Verwaltung, sondern auch vom Innenleben der Schauspieler – wie sie „ticken“, was sie motiviert, was sie zum Versagen und zum Weitermachen bringen kann. Diese Psychologie erfüllt den Charakter der Hauptfigur der Geschichte auf glaubwürdige Weise und bringt den Leser dazu, mit ihm zu fühlen: sich zu freuen, mit ihm zu bangen.

Der Autor verschließt auch nicht die Augen vor der Notwendigkeit der Veränderung durch neue Technik: Rechner, Fernsehen, Schreibmaschine, was auch immer – nun ist es eben Autodrama. Doch er sagt auch, dass jede unabwendbar erscheinende Veränderung nicht immer zum Besten ausschlagen muss. Die Hauptsache ist doch meist, dass sie Geld einbringt. Wenn dadurch einige tausend Leute ihren Job verlieren – nun ja, dann müssen sie eben umsatteln. Leichter gesagt als getan.

Was die Geschichte inzwischen antiquiert erscheinen lässt (anno 1982 wohl nicht so sehr als jetzt, 2007), sind natürlich die technischen Details. Die Programmierung der „Mannequins“, die wie frühere Stars aussehen, erfolgt noch mit Lochstreifenbändern wie anno dazumal und noch nicht mit magnetischen (Festplatte) oder optischen Medien (mit Laserabtastung) wie heute. Auch das ein paar verwirrende Druckfehler den Leser stören, gehört zu den Schwächen dieses Textes. Auf Seite 388 muss es z.B. statt „mit einem … Federhütchen und dem Kopf“ natürlich „auf dem Kopf“ heißen.

2) David J. Masson: Ablösung (Traveller’s Rest, 1965)

Der Soldat H kämpft in vorderster Front einen Grenzkrieg, von dem er nicht weiß, wer der Feind ist und wer ihn angefangen hat. Endlich wird er abgelöst und darf zurück in die Heimat. Erst den Berg hinab, weiter unter Beschuss, dann ins Teil, wo er seinen Kampfschutzanzug loswird und Zivilkleidung bekommt. Er kann sich jetzt an seinen Namen erinnern: Hadol oder Hadolaris, richtig? Der Zeitgradient scheint auch seine Erinnerung zu beeinflussen.

Ganz oben an der Bergfront ist die Zeit aufgrund der Konzeleration am dichtesten: Sie vergeht kaum. Je weiter er ins Tal und dann in die Ebene gelangt, desto mehr Zeit vergeht für ihn subjektiv. Deshalb versucht er auch, so weit wie möglich von der Front wegzukommen, um eben mehr Zeit für sein Leben zu haben. Nicht jeder wird abgelöst, das muss er ausnutzen. An der Südostküste findet er einen Job in einer Firma und steigt dort im Laufe der Jahre auf, die nun vergehen. Er gründet eine Familie und zieht drei Kinder groß, für deren Zukunft er mit seiner Frau Mihanya schon Pläne schmiedet.

Doch nach 20 Jahren holen sie ihn wieder: drei Soldaten, die ihm seinen Einberufungsbefehl zeigen. Er muss sofort mitkommen, ohne seine Familie zu benachrichtigen. Alles verläuft wieder umgekehrt. Die Konzeleration schlägt wieder zu: Im Bunker an der Front sind seit seiner Ablösung lediglich 22 Minuten vergangen, rechnet er nach. Jetzt ist er nur noch Had, dann bloß noch H, als er lossprintet, um seine Stellung zu erreichen.

Mein Eindruck

Die Parallelwelt, in der Hadolarison lebt, hat einige Ähnlichkeit mit den Vereinigten Staaten, doch es gibt einen gravierenden Unterschied: die Zeitgradienten zwischen der Grenze in den Bergen und dem Hinterland. Dadurch vergeht die Zeit unterschiedlich schnell und sehr relativ. Das betrifft sogar den Aufenthalt im Nordosten im Gegensatz zum Südosten.

Merkwürdig kommt es Hadolaris vor, dass an der Grenze der Gradient praktisch gegen unendlich geht, so dass dort fast keine Zeit vergeht. Es ist, als wäre die Grenze ein Spiegel. Und wenn das stimmt, dann wären die Geschosse, die der Feind abfeuert, im Grunde die eigenen. Als er diesen ketzerischen Gedanken äußert, wird ihm gesagt, er solle sich nicht lächerlich machen.

Besonders interessant fand ich, dass zusammen mit der Zeitdehnung auch der Name des Soldaten immer länger wird: von H zu Had zu Hadol zu Hadolaris zu Hadolarisón und so weiter. In umgekehrter Richtung verkürzt sich der Name bis hin zum Einzelbuchstaben H. Hadols Bezeichnung allerdings lautet XN2. Die Entpersönlichung, die hier angedeutet wird, ist ein typisches Merkmal militärischer Strukturen, wie sie etwa in Kubricks „Full Metal Jacket“ erschreckend dargestellt wurden. Der Mensch darf nicht als Individuum existieren, sondern muss als Rädchen im Getriebe funktionieren, und das geht nur, wenn er austauschbar ist: eine Nummer.


3) Roger Zelazny: Der Former (He Who Shapes, 1965)

Bedeutende Forschungen auf dem Gebiet der Psychiatrie haben zur Einführung einer neuen Technik, der Neuro-Partizipations-Therapie, geführt. Mit ihrer Hilfe kann der Therapeut direkt in das Unterbewusstsein des Patienten eindringen, von dort aus den Heilungsprozess beginnen und den Patienten langsam umformen. Ein solcher „Former“ ist Charles Render. Er spielt Gott, indem er realistische Traumwelten in der Psyche seiner Patienten modelliert, die, richtig angewendet, zur allmählichen Gesundung führen sollen. Bis eines Tages …

Dr. Eileen Shallot, eine blinde Psychiaterin, bittet Charles Render, ihr über den Umweg der Geistesverbindung das Sehen zu ermöglichen, ein lang gehegter Wunsch der Blinden. Trotz der Gefahren, welche die Therapie bei willensstarken Personen mit sich bringt – die von Geburt an blinde Eileen verfügt über ein Realitätsempfinden, das stark von der tatsächlichen Realität abweicht – ist Render bereit, die Therapie zu beginnen. Um Eileens geistige Gesundheit zu erhalten, muss er ihre ‚idyllische‘ Weltsicht durch das Aufzeigen realer Dinge korrigieren. Aber sie erweist sich als stärker als er und zieht ihn in ihre Traumwelt hinein, bis es für Render kein Entkommen mehr gibt. Der Psychiater endet im Wahn. Aber in einem schönen.

Mein Eindruck

Ist dies nun eine Drogenstory, die sich auf einen Trip begibt, wie ihn Timothy Leary mit Hilfe von LSD verwirklichen wollte und anpries? Oder geht es doch „nur“ um den inner space, also die Bewusstseinswelt, die ähnlich bizarr ausfallen kann wie eine fremde Welt? Darin folgt Zelazny der britischen New Wave und ihrem wichtigsten Autor J. G. Ballard.

Der Autor zieht C.G. Jungs Psychologie heran, um den Leser durch eine Galerie mythischer Elemente zu führen, die teils aus der Artussage, teils aus der nordischen Götterdämmerung stammen. Es ist ein ganz schön bunter Trip, voll faszinierender Erlebnisse, und manchmal wünschte ich mir, auch so einen Former zu kennen, der mal mein eigenes Unterbewusstsein aufräumen würde. Zelazny hat die Novelle zu einem Roman ausgebaut: „The Dream Master“ erschien 1966.

4) Alfred Bester: Die Mörder Mohammeds (The Men Who Murdered Mohammed, 1967)

Henry Hassel, Professor am Psychotic Center der Unknown University irgendwo im Mittelwesten, ist eifersüchtig: Er hat seine Frau Greta in den Armen eines Fremden entdeckt. Doch statt sie beide über den Haufen zu schießen, fällt ihm als verrücktes Genie etwas viel Besseres ein: eine Reise in die Zeit, um Gretas Vorfahrinnen zu töten. Die Zeitmaschine ist rasch erfunden und Großvater sowie Großmutter getötet. Der Effekt? Gleich null. Greta und der Fremde liegen sich weiterhin in den Armen.

Nach einem Anruf bei der Künstlichen Intelligenz Sam ändert Henry seine Methode: Er setzt auf Masseneffekte. Daher erschießt er als nächsten George Washington im Jahr 1775. Die Wirkung? Absolut null. Ebenso auch bei Napoleon, Mohammed, Caesar und Christoph Kolumbus. Woran kann es nur liegen, fragt er sich frustriert.

Ein Anruf bei der Bibliotheks-KI bringt ihn auf die Spur eines weiteren Zeitreise-Genies: Israel Lennox, Astrophysiker, der 1975 verschwand. Zudem erfährt er, dass auch der Liebhaber seiner Frau ein Zeitspezialist ist, William Murphy. Könnte er ihn ausgetrickst haben? Lennox belehrt Henry eines Besseren: Henry Problem liegt nicht an seiner Methode, sondern an der Natur der Zeit: Sie ist stets individuell. Eine Veränderung betrifft stets nur den Zeitreisenden selbst, nicht aber die anderen Zielpersonen. Und weil jeder „Mord“ den Zeitreisenden weiter von seinen Mitmenschen entfernt, ist Henry Hassel jetzt ebenso wie Israel Lennox ein Geist …

Mein Eindruck

Die Story ist zwar völlig verrückt, aber eminent lesbar, wie so häufig bei Alfred Bester. Neu ist hier das Konzept, dass Zeit völlig individuell sein soll. Jedem Menschen ist wie einer Spaghettinudel im Kochtop seine eigene Zeit zugewiesen (von wem, fragt man sich). Das macht die Einwirkung auf andere Zeit-Besitzer, quasi also auf andere Nudeln im Topf, unmöglich. Noch irrsinniger ist die Vorstellung, dass all die Versuche, auf andere einzuwirken, zum Verschwinden des „Mörders“ führen könnten. Aufgrund welcher Gesetzmäßigkeit? Hat es etwas mit Entropie zu tun? Der Autor erklärt mal wieder nichts, obwohl er mit Formeln um sich wirft, was den Spaß nur halb so groß werden lässt.

5) J. G. Ballard: Der Garten der Zeit (The Garden of Time, 1967)

Graf Axel lebt mit seiner klavierspielenden Frau in einer prächtigen Villa, zu der ein See und ein bemerkenswerter Garten gehören: In diesem Garten wachsen die Zeitblumen. Eine Zeitblume speichert in ihrer kristallinen Struktur Zeit und wenn Graf Axel eine Blüte bricht, so dreht er die Zeit ein wenig zurück, mal eine Stunde, mal nur wenige Minuten, je nach der Größe und Reife der Blume.

Diesmal bricht er wieder eine, denn über die Anhöhe des Horizonts drängt eine Lumpenarmee auf die Villa zu, die alles in ihrem Weg zu zertrampeln und zu zerstören droht. Schwupps, ist die Armee wieder auf den Horizont zurückgeschlagen. Aber das nicht ewig so weitergehen. Leider sind nur noch ein halbes Dutzend Zeitblumen im Garten der Zeit verblieben. Seine Frau bittet ihn, die letzte Blüte für sie übrigzulassen …

Als die Lumpenarmee den Garten erobert und die Villa plündert, findet sie nur noch eine Ruine vor, der Garten ist verlassen und verwildert. Nur mit größter Vorsicht umgehen die namenlosen Plünderer ein Dornendickicht, das zwei Steinstatuen umschließt: einen Mann und eine edel gekleidete Frau, die eine Rose in der Hand hält …

Mein Eindruck

Das Szenario des Grafen und seiner Gräfin in ihrem Garten aus konservierter Zeit sind eine elegische Metapher auf die gesellschaftliche Überholtheit der adeligen Klasse. Sie huldigt Idealen von Schönheit, die dem „Lumpenproletariat“ – ein begriff von Marx & Engels – völlig fremd sind. Dieses sucht lediglich materielle Werte, zerstört Bilder und Musikinstrumente ebenso wie Bücher, um Heizmaterial zu erhalten. Der Gegensatz ist klar: Bei den Adeligen bestimmt das Bewusstsein das Sein, bei den Proleten ist es umgekehrt: Der Materialismus triumphiert. Die hinfortgespülte Klasse existiert nur noch als Statuen, genau wie heutzutage.

Ein SF-Autor also, der der Revolution das Wort redet? Wohl kaum, denn sonst würde er den zerbrechlichen Zeitblumen solche schönen Worte widmen, die an Poesie nichts zu wünschen übriglassen. Er trauert den vergangenen Idealen nach, doch der Garten macht seine eigene Aussage: Sobald die letzte Blume vergangen ist, bricht die aufgeschobene Zeit mit aller Macht über die Adeligen herein und lässt sie zu Stein erstarren. Wie immer bei Ballard ist dieser abrupte Übergang überhaupt nicht kommentiert oder gar einer Erwähnung wert. Der Leser muss ihn sich dazudenken.

6) George R. R. Martin: Abschied von Lya (A Song For Lya, 1973)

Robb und Lyanna sind Talente – er kann Gefühle anderer erspüren, sie deren tiefste Gedanken. Auf Bitten des Planetaren Administrators der erst vor zehn Jahren erschlossenen Welt der Shkeen sollen sie herausfinden, was die menschlichen Siedler in die Arme der Religion der Ureinwohner treibt – und wie man dies verhindern kann. Denn bei dieser Religion geht es darum, sich mit einem Parasiten zu verbunden und nach Ablauf weniger Jahre sich in den Höhlen von Shkeen, einem Riesenparasiten, dem Greeshka, hinzugeben – und absorbiert zu werden.

Nicht auszudenken, wenn sich dieser Kult auf andere Welten der Menschheit ausdehnen würde. Immerhin hat sich Gustaffson, einer der Vorgänger des Administrators, diesem Kult angeschlossen. Und immer mehr Menschen scheinen ihm folgen zu wollen.

Robb findet einige Dinge an dieser Welt bemerkenswert. Die Zivilisation existiert hier bereits 14.000 Jahre, ist also weitaus älter als die menschliche, doch sie befindet sich auf dem Niveau unserer Bronzezeit. Zudem glauben die Shkeen weder an ein Jenseits noch an einen Gott, sondern lediglich an das Glück der Verbundenheit mit dem Greeshka und an die abschließende Vereinigung. Aber was haben sie davon? Und warum sind die „Verbundenen“ so glücklich?

Als sich Robb und Lyanna mit dem Seelenleben der Verbundenen befassen und sogar auf Gustaffson selbst stoßen, müssen sie sich mit einem grundlegenden Problem aller denkenden und fühlenden Lebewesen auseinandersetzen: dass das fortwährende Alleinsein nur durch die Liebe oder den Tod überwunden werden kann. Was aber, wenn Liebe und Tod ein und dasselbe sind?

Mein Eindruck

Dieser detailliert geschilderte Kurzroman ist wunderbar zu lesen, denn der Autor befasst sich sehr eingehend mit dem Gefühlsleben des zentralen Liebespaares und dem Dilemma, in dem es sich plötzlich wiederfindet. Denn Lya hat im Geist der Verbundenen von dem Glück gekostet, das die Vereinigung mit dem Greeshka spendet.

Dieses Glück besteht offenbar nicht nur in der grenzenlosen Liebe der Vereinigung, die über die Liebe zu Robb hinausgeht, sondern auch in der Überwindung des Todes und der irdischen Begrenztheit. Kurzum: Sie ist mit einem Gott vereint, wenn sie den Übergang wagt. Aber dafür muss sie Robb verlassen, falls er ihr nicht folgt. Wie wird er sich entscheiden?

Die zunehmend elegische Stimmung ist charakteristisch für die tiefschürfenden Erzählungen des frühen George R. R. Martin. Sie brachten ihm zahlreiche Auszeichnungen und wirtschaftlichen Erfolg ein – bis er dann Drehbuchautor wurde. Aus dieser Erfahrung wiederum erwuchs ihm die Routine, um das gewaltige Epos von Winterfell zu erschaffen, das in der deutschen Ausgabe etwa zehn Bände umfasst – und offenbar immer noch nicht abgeschlossen ist.

7) Ursula K. Le Guin: Das Tagebuch der Rose (The Diary of the Rose, 1976)

Dr. Rose Sobel ist medizinische Psychoskopin und hat die Aufgabe, das Bewusstsein von Patienten ihrer Vorgesetzten Dr. Nades zu untersuchen, d. h. sowohl die bewusste als auch die unbewusste Ebene. Die neuesten Patienten sind die depressive Bäckerin Ana Jest, 46, und der paranoide Ingenieur Flores Sorde, 36, ein angeblich psychopathischer Gewalttäter.

Ana Jest bietet keinerlei Überraschungen, was man von F. Sorde nicht behaupten kann. Nicht nur ist er ein überaus verständiger, friedlicher und intelligenter Mann, sondern bietet Dr. Sobel auch ein besonderes Erlebnis: Aus seinem Bewusstsein generiert er das perfekte Abbild einer großen roten Rose, wie sie Dr. Sobel noch nie gesehen hat. Was hat das zu bedeuten? Doch das weitere Vordringen verhindert Sordes deutliche Blockade: „ZUTRITT VERBOTEN!“

Sobel beschwert sich über dieses Ausgeschlossenwerden und Sorde muss ihr erklären, wovor er Angst hat: vor dem Eingesperrtsein, vor Gewalt, vor Unfreiheit und vor allem vor dem Vergessen, das die Elektroschocktherapie bringen wird. Sie dementiert, dass es eine ETC geben werde, doch er lächelt nur über ihre Naivität. Sie mag ja eine Diagnose stellen, aber die Entscheidung über die Behandlung treffen andere, so etwa Dr. Nades. Oder die TRTU, was wohl die Geheime Staatspolizei ist. Durch Einblicke in seine Kindheit erkennt sie, wonach er sich sehnt: nach einem Beschützer, der ihm alle Angst nimmt. Seine Idee von Demokratie demonstriert er mit dem letzten Satz von Beethovens neunter Sinfonie: Brüderlichkeit, Freiheit usw. Au weia, denkt, Rose, er ist also doch ein gefährlicher Liberaler.

Dennoch schafft sie es, ihn aus der Abteilung für Gewalttäter in die normale Station für Männer verlegen zu lassen. Dort lernt er Prof. Dr. Arca kennen, den Autor des Buches „Über die Idee der Freiheit im 20. Jahrhundert“, das Sordes gelesen hat. Das war, bevor es verboten und verbrannt wurde. Prof. Arca hat durch die Elektroschocktherapie sein Gedächtnis verloren. Sordes befürchtet stark, dass er genauso werden wird wie Arca. Rose ist verunsichert. Sie versteckt ihr Tagebuch. Denn dieses Tagebuch enthält auch ihre eigenen geheimen Gedanken und Gefühle, und wer weiß schon, was die TRTU davon hielte?

Mein Eindruck

Rose Sobel denkt, sie wäre eine unbeteiligte Beobachterin, wenn sie einem Menschen ins Bewusstsein blickt. Aber das ist, wie wir durch Heisenbergs Unschärferelation wissen, eine Selbsttäuschung. Der Beobachter beeinflusst das zu Beobachtende und umgekehrt. Ganz besonders bei Menschen. So kommt Rose nicht umhin, von Sordes beeinflusst zu werden, und sich verbotene Fragen zu stellen. Fragen, die auch die klugen Ratgeber, die ihre Chefin empfiehlt, nicht beantworten: Warum haben alle so viel Angst?

Dass etwas mit ihrer eigenen Welt nicht in Ordnung sein könnte, geht ihr nur allmählich auf. Dass die TRTU ihren Patienten vielleicht völlig grundlos wegen „Verdrossenheit“ eingewiesen hat und ihn schließlich fertigmachen will, entwickelt sich nur allmählich zur schrecklichen Gewissheit. Ebenso wie die Erkenntnis, dass es keine unpolitische Psychiatrie mehr geben kann. Deshalb will sich Rose zur Kinderklinik versetzen lassen. Ob dort die Patienten weniger Angst haben werden?

Die Erzählung ist typisch für Le Guin: Sie zeigt die politische, ethische und zwischenmenschliche Verantwortung der Mitarbeiterin in der staatlichen Psychiatrie auf. Diese Verantwortung ist auf heutige Verhältnisse zu übertragen, falls es dazu kommt, dass in den USA ein Polizeistaat errichtet wird. Und wenn man den Patriot Act von 2001 mal genau durchliest, dann kann es sehr leicht dazu kommen. Ich liebe solche warnenden Geschichten. Sollen sie mich doch dafür einsperren und „therapieren“ …

8) John Varley: Die Trägheit des Auges (The Persistence of Vision, 1977)

Ende des 20. Jahrhunderts herrscht in den USA mal wieder Wirtschaftskrise, zumal der Raktor von Omaha in die Luft geflogen ist und eine verstrahlte Zone erzeugt hat, den China-Syndrom-Streifen. Unser Glückssucher, der sich von Chicago gen Kalifornien aufgemacht hat, passiert die Flüchtlingslager von Kansas City, die nun als „Geisterstädte“ tituliert werden. In der Gegend von Taos, New Mexico, lernt er zahlreiche experimentelle Kommunen kennen, wo man leicht eine kostenlose Mahlzeit bekommen kann. Von den militanten Frauenkommunen hält er sich klugerweise fern.

Auf dem Weg nach Westen stößt er mitten im Nirgendwo auf eine Mauer. So etwas hat er im Westen höchst selten gesehen, so dass er neugierig wird. Ein Navaho-Cowboy erzählt ihm, hier würden taube und blinde Kinder leben. Eisenbahnschienen führen um das ummauerte Anwesen herum, so dass er ihnen einfach zum Eingang folgen kann. Dieser ist offen und unbewacht, was er ebenfalls bemerkenswert findet. Gleich darauf erspäht er mehrere Wachhunde.

Um ein Haar hätte ihn die kleine Grubenbahn überfahren, die von einem stummen Fahrer gesteuert wird. Dieser entschuldigt sich überschwenglich und vergewissert sich, dass dem Besucher nichts passiert ist. Dieser versichert ihm, dass dem so ist. Der Fahrer schickt ihn zu einem Haus, in dem Licht brennt. Der Besucher bemerkt, wie schnell sich die blinden und tauben Bewohner der Kuppelgebäude bewegen. Sie tun dies aber nur auf Gehwegen, von denen jeder seine eigene Oberflächenbeschaffenheit aufweist. Unser Freund nimmt sich vor, niemals einen solchen Gehweg zu blockieren.

In dem erleuchteten Gebäude gibt es etwas zu essen. Er muss sich jedoch von vielen Bewohnern abtasten lassen. Sie sind alle freundlich zu ihm. Ein etwa 17-jähriges Mädchen, das sich weigert, wie die anderen Kleidung zu tragen, erweist sich als sprech- und sehfähig, was ihm erst einmal einen gelinden Schock versetzt. Sie nennt sich Rosa und wird zu seiner Führerin und engsten Vertrauten, schließlich auch zu seiner Geliebten.

Im Laufe der fünf Monate seines Aufenthaltes erlernt er die internationale Fingergebärdensprache, aber er merkt, dass die anderen noch zwei weitere Sprachen benutzen. Das eine ist die Kurzsprache, die mit Kürzeln arbeitet, die nur hier anerkannt sind. Die andere, viel schwieriger zu erlernende ist die Einfühlungssprache, die sich jedoch von Tag zu Tag ändert.

Als er sie schließlich entdeckt, ahnt er, dass er sie nicht wird völlig erlernen können. Denn dazu müsste er ja selbst blind und taub sein. Und dass die Sprache des Tatens auch den gesamten Körpers umfasst, versteht sich von selbst. Deshalb gehört auch die körperliche Liebe dazu.

Eines Tages erfährt er, welche Stellung er in der Kommune einnimmt. Er stellt aus Gedankenlosigkeit einen gefüllten Wassereimer auf einem der Gehwege ab und widmet sich seiner Aufgabe. Als ein Schmerzensschrei ertönt, dreht er sich um, nur um eine weinende und klagende Frau am Boden liegen zu sehen. Aus ihrem Schienbein, das sie sich am Eimer gestoßen hat, quillt bereits das Blut. Es ist die Frau, die ihn als Erste in der Kommune begrüßt hat. Nun tut es ihm doppelt leid, und er ist untröstlich. Doch Rosa informiert ihn, dass er sich einem Gericht der ganzen Kommune von 116 Mitgliedern stellen muss …

Mein Eindruck

Die vielfach ausgezeichnete Erzählung stellt dar, wie sich allein aus der Kommunikation eine utopische Gemeinschaft entwickeln lässt. Dass natürlich auch ökonomische, legale und soziale Randbedingungen erfüllt sein müssen, versteht sich von selbst, aber dass Außenseiter ihre eigene Art von Überlebensstrategie – in einer von Rezession und Gewalt gezeichneten Welt – entwickeln, schürt die Hoffnung, dass nicht alles am Menschen schlecht und zum Untergang verurteilt ist.

Der Besucher, ein 47-jähriger Bürohengst aus Chicago, findet in der Gemeinschaft der Taubblinden nicht nur sein Menschsein wieder, sondern auch eine Perspektive, wie er in der Außenwelt weiterleben kann. Er arbeitet als Schriftsteller, und dessen Job ist die Kommunikation.

Neben den drei Ebenen der Sprache, die die Taubblinden praktizieren, gibt es noch eine Ebene der Verbundenheit, die er nur durch die Zeichen +++ ausdrücken kann. Auf dieser Ebene findet mehr als Empathie statt, weniger als Telepathie. Aber es ist eine Ebene, erzählt ihm Rosa bei seiner Rückkehr, die es den Taubblinden (zu denen sie und die anderen Kinder nicht zählen) erlaubt hat, zu „verschwinden“. Wohin sind sie gegangen, will er wissen. Niemand wisse es, denn sie verschwanden beim +++en.

Es handelt sich also eindeutig um eine SF-Geschichte, nicht etwa um eine Taubblindenstudie, die in der Gegenwart angesiedelt ist. Für ihre Zeit um 1977/78 war die Geschichte wegweisend. Nicht nur wegen des Gruppensex und die Telepathie, die an das „Groken“ in Heinleins Roman „Fremder in einem fremden Land“ erinnert. Auch Homosexualität wird behandelt – und in der Geschichte praktiziert.

Wichtiger als diese Tabuthemen ist jedoch der durchdachte ökologische Entwurf für die Kommune und die Anklage gegen die Vernachlässigung bzw. Fehlbehandlung der Taubblinden – nicht nur in den USA.

9) James Tiptree alias Alice Sheldon: Geteiltes Leid (Time-Sharing Angel, 1977)

Die 19-jährige Jolyone Schram liebt die Natur und arbeitet in Los Angeles beim Rundfunksender. Dieser Sender ist neu, liegt auf einem hohen Berg und verfügt über die stärkste Sendeleistung der Stadt. Wahrscheinlich deshalb kann es an diesem zu dem ungewöhnlichen Ereignis kommen.

Erst hat Jolyone, die in einer Zahnfüllung einer Sender empfängt, eine schreckliche Vision: Die Erdoberfläche wird unter Massen von Menschen begraben. Als ein SF-Autor im Sender die finstere Zukunft der Menschheit ausmalt, hält Jolyone gerade ein Stromkabel in der Hand. Erschüttert fleht sie zu Gott, er möge all dies aufhalten. Eine unbekannte Stimme antwortet ihr auf ihrem gefüllten Zahn, dass das in Ordnung gehe.

Schon bald machen sich die ersten Anzeichen des Wirkens des Engels bemerkbar. Von jeder Familie, und sei sie noch so groß und verbreitet, bleibt nur das jüngste Kind bei Bewusstsein, alle anderen fallen in Tiefschlaf. Weltweite Panik! Doch nach ein paar Tagen verbreitet sich die Kunde von einem wieder erwachten Kind irgendwo in West-Virginia. Ein Mathegenie berechnet die Arithmetik: Wenn Mrs. McEvoy 26 Kinder hat, dann jedes davon nur etwa 14 Tage im Jahr wach sein (weil zweimal 26 genau 52 Wochen = 1 Jahr ergibt). Wer zwei Kinder hat, der kann sich an sechs Monaten Wachsein der Kinder erfreuen und so weiter. Dieser Effekt hat eine verblüffende Folge: Da nur das Wachsein als Lebenszeit zählt, können die Schläfer bis zu 3000 Jahre alt werden!

Die Welt verändert sich beträchtlich, das Wachstum kommt zu einem knirschenden Halt, Wirtschaften brechen fast zusammen, doch die Ressourcen bleiben erhalten. Die Ich-Erzählerin trifft eines Tages Jolyone im Park, und diese erzählt ihr alles. Endlich darf sich Jolyone auf die Zukunft freuen.

Mein Eindruck

Die Autorin Alice Sheldon hat die Erde schon viele Male untergehen lassen. Hier gewährt sie ihr wenigstens eine Gnadenfrist, eine Art Nothalt. Die Geschichte mit den Schläfern erinnert an die Romane von Nancy Kress, in denen eine Schläfer-Generation dem alten Homo sapiens Konkurrenz macht. Allerdings handelt es sich um Leute, die keinen Schlaf benötigen, also pro Tag acht Stunden mehr zur Verfügung haben. Auch daraus ergeben sich diverse Folgen.

10) Dean R. Lambe: Tefé Lauswurz (Damn Shame, 1979)

Die zwei amerikanischen Studienfreunde Albert und Frederick haben verschiedene Wege in der Medizin eingeschlagen. Al wurde Allgemeinarzt in Wisconsin, Fred ist in Kalifornien in die Krebsforschung gegangen. Nun meldet Fred in einem Brief den Durchbruch: Die Versuchsreihe mit dem Präparat AC337 führt zu sagenhaften Remissionen bei den Krebszellen! Das haut Al noch nicht vom Hocker. Erst als er zwei Patienten mit Krebs im Endstadium bekommt, wendet er sich an Fred. Die nicht ganz legal gelieferte Menge reicht aus, um eine vollständige Heilung zu bewirken.

Al ist hin und weg. Doch dann schreibt er Fred, dass seine Frau Ruth Brustkrebs im Anfangsstadium habe. Er brauche mehr von AC337. Fred schreibt seinen Lieferanten an, doch der muss passen: von dem pflanzlichen Grundstoff werde aus Brasilien nichts mehr geliefert, v. a. wegen der anti-amerikanischen Unruhen. Es gebe aber noch einen Arzt …

Leider ist auch dieser Arzt verstorben, erfährt Fred. Dr. Linhares habe sich umgebracht, als der große Amazones-Staudamm geflutet wurde – und damit auch das winzige Vorkommen des pflanzlichen Wunderstoffs von AC337 …

Mein Eindruck

Die Moral von der Geschicht‘ ist einfach: Die Menschheit opfert ihre Gesundheit dem Gott des Fortschritts. Ein soeben entdecktes Krebsheilmittel wird für immer unter den Fluten des Amazones-Stausees verschwinden. Die bittere Ironie dieser Erkenntnis wird konterkariert von der freundschaftlichen Verbindlichkeit, die sich im Schriftverkehr der beiden Freunde spiegelt. Dort scheint die Welt in Ordnung zu sein. Doch draußen, wo fremde Kräfte walten, ist sie es nicht. Eine Geschichte, die uns zur Warnung dienen sollte. Denn weiterhin werden Wälder vernichtet – und mit ihnen Heilmittel.

11) Michael Swanwick: Der blinde Minotaurus (The Blind Minotaur, 1984)

Der blinde Minotaurus ist ein Unsterblicher auf einer Menschenwelt in ferner Zukunft. Nachdem er seinen Freund, den Harlekin bei einer Gauklertruppe, in der Arena aufgrund einer Hormonmanipulation getötet hat, reißt er sich zur Selbstbestrafung die Augen heraus. Geblendet nimmt ihn seine Tochter Schafgarbe an der Hand. Doch wo ist ihre Mutter?

Er sitzt von nun an als Bettler am Straßenrand. Doch die Herrschaft der Adligen wankt. Vorbei sind die Zeit, da sie von allen als überlegen angesehen wurden, und seltsame Sekten und Rebellen gedeihen im entstehenden Chaos. Unter den Attacken junger Tunichtgute und seltsamen Sekten leidend, richtet sich der blinde Unsterbliche zum Protest auf. Er ruft die Bürger dazu, ihre Freiheit zu verteidigen. Im Hafenviertel erzählt er seiner Tochter und den anderen Bürgern der Stadt, was mit ihm geschah und wie es dazu gekommen konnte.

Mein Eindruck

Der Autor Michael Swanwick erzählt häufig Geschichten von Außenseitern. Hier schildert er in Rückblenden die Geschichte eines Unsterblichen, der in eine Art Umsturzbewegung gerät. Aus den Momentaufnahmen muss sich der Leser selbst ein Bild dessen zusammensetzen, was eigentlich passiert. Die Handlung verläuft aufgrund der Rückblenden auf zwei verschiedenen Zeit-Ebenen, und so heißt es aufpassen, auf welcher man sich gerade befindet.

Einer der wichtigsten Aspekte des Minotaurus ist seine sexuelle Potenz. Deshalb beglückt er auch in seinem sehenden Leben zahlreiche Frauen. Das eigentliche Rätsel besteht nun in dieser Hinsicht darin, wie es zur Zeugung seiner Tochter kommen konnte, wenn er doch, wie er sagt, stets „vorsichtig“ war. Könnte die Lady mit der Silbermaske, die ihm zweimal begegnet, die Mutter Schafgarbes sein?

Auch die Sache mit den Hormonen und Pheromonen bildet ein interessantes Element. Und für den Blinden ist das Riechen einer der wichtigsten Sinne geworden. So führt uns die Geschichte in zwei Welten, in die vor und die nach der Blendung der Hauptfigur.

12) David Brin: Thor trifft Captain Amerika (Thor Meets Captain America, 1986)

Man schreibt den Spätherbst des Jahres 1962, und noch immer wütet der Zweite Weltkrieg zwischen den Nazis und den Alliierten. Der Grund: anno ’44, kurz vor der Invasion der Normandie, als der Krieg bereits gewonnen schien, erschienen die Fremdweltler in Gestalt der nordischen Götter, der Asen. Der Gott der Stürme fegte die riesige Armada von der Oberfläche des Ärmelkanals. Thor zerschlug die vorgerückten Armeen der Russen, so dass sich in Israel-Iran das Zentrum des Widerstands bildete.

Doch es gibt seit 1952 einen Helfer auf Seiten der Alliierten, mit dem man nicht gerechnet hat: Loki, der Gott des Trugs. Er war es, der die Amis vor dem Einsatz der H-Bombe warnte, denn der Nukleare Winter würde auch sie vernichten. Nun haben die Amis in einer letzten verzweifelten Aktion ein Dutzend U-Boote ausgesandt, um die Asen in ihrem Zentrum anzugreifen, auf der schwedischen Insel Gotland. Vier sind davon noch übrig, und in einem davon sitzt Loki neben Captain Chris Turing, dem Leiter dieses Himmelfahrtskommandos. Sie haben eine zerlegte H-Bombe bei sich, um die Unsterblichen ins Jenseits zu blasen.

Doch die zusammengewürfelte Truppe des Kommandos wird entdeckt, und die Dinge entwickeln sich völlig anders als geplant. Hat Loki sie etwa verraten?

Mein Eindruck

Dieser Alternativgeschichtsentwurf ist an die Marvel-Comics angelehnt, deren Verfilmungen wir ironischerweise jetzt erst in den Kinos besichtigen dürfen – ein Vierteljahrhundert nach dieser Pastiche. Oder sollte ich sagen „Persiflage“? Denn weder Thor ist der aus den Comics, sondern ein echter Alien, der nicht mal ein Raumschiff brauchte, um zur Erde zu gelangen. Und wer ist der „Captain America“ des Titels? Natürlich Catain Chris Turing – ein Kerl, der von Dänen abstammt statt von echten Amis.

Allerdings ist das Szenario angemessen grimmig. Nazis überall, vor allem Totenkopf-SS, die dem Asen- wie dem Todeskult anhängt, und natürlich nordische Priester – für die Blutopferzeremonie. Aber diese Wichte haben bei den Asen, die sie gerufen haben, nichts mehr zu melden. Sie machen dementsprechend säuerliche Mienen zur Opferzeremonie.

Da die Lage sowieso aussichtslos ist, kommt es für Chris Turing auf einen guten Abgang an. Er überlegt sich, was es sein könnte, das die Asen so mächtig macht. Als er auf den Trichter kommt – dank eines kleinen Hinweises von Loki -, fällt ihm auch das einzige passende Gegenmittel ein, das dagegen hilft: Gelächter …

Entfernt man all diesen mythologischen Überbau, bleibt eine zentrale Szene übrig: Ein jüdischer KZ-Insasse, der den sicheren Tod schon vor Augen hat, lässt die Hose herunter und zeigt seinen Mörder den Hintern und ruft: „Kiss mir im Toches!“ Na, das nenn ich mal Todesverachtung.

13) Kim Stanley Robinson: Der blinde Geometer (The Blind Geometer, 1987)

Carlos Nevsky ist von Geburt an blind und hat sich mit seiner „Behinderung“ ausgezeichnet eingerichtet, ja, er ist sogar Professor für Geometrie an einer Washingtoner Universität geworden. Sein räumliches Vorstellungsvermögen ist ausgezeichnet. In letzter Zeit fällt ihm auf, dass sein Kollege Jeremy Blasingame ihn auffällig aushorcht, wie dieser glaubt. Dann tauchen Carlos‘ Ideen in dessen Veröffentlichungen auf – sicher kein Zufall, oder?

Carlos ist ein begieriger Leser alter Detektivgeschichten, insbesondere über Carrados, den blinden Detektiv. Was also lässt sich aus Jeremys Verhalten deduzieren? Dass er in jemandes Auftrag handelt? Carlos weiß, dass Jeremy mit dem militärischen Geheimdienst im Pentagon zu tun hat. Aber was hat das Pentagon, das sich ja vor allem für Waffen interessiert, mit n-dimensionaler Vervielfältigungsgeometrie am Hut?

Eines Tages gibt ihm Jeremy eine geometrische Zeichnung. Sie stamme von einer Frau, die gerade verhört werde. Alles gedruckte kopiert Carlos mit seinem Spezialkopierdrucker in Braille-Schrift. Die Zeichnung ist nichts besonderes, nur etwas Grundlegendes. Er besteht darauf, die Frau persönlich zu sprechen. Jeremy bringt sie und stellt sie als Mary Unser vor, eine angebliche Astronomin. Ihre Ausdrucksweise ist ungrammatisch. Ist das Absicht? Kann er ihr trauen? In einem unbeobachteten Augenblick, als Jeremy Trinkwasser holt, gibt Mary Carlos Signale per Handdruck. Was will sie ihm sagen?

Allmählich weiß Carlos, dass etwas nicht stimmt, und entdeckt zwei Abhörgeräte in seinem Büro. Er kauft sich selbst eine Wanze, die er in Jeremys Büro platziert. Dieser telefoniert mit einem Mann in Washington, der sich nie identifiziert. Um mehr herauszufinden, macht sich Carlos an Mary heran. Aber auch jetzt muss er sich fragen, ob sie verdrahtet ist. Erst während eines heftigen Gewitters, das alle Abhörgeräte außer Gefecht setzt, kann sie ihm die erstaunliche Wahrheit anvertrauen …

Mein Eindruck

Dieser Blinde ist so ziemlich das Gegenteil von der Blindenkolonie in John Varleys Erzählung „Die Trägheit des Auges“. Sogar dessen Heldin Helen Keller (1880-1968) wird als textbesessene Träumerin kritisiert, die viktorianische Wertvorstellungen nachhing. Dagegen nimmt sich Carlos Nevsky doch ziemlich modern aus. Wenn er auch eine eigene virtuelle Welt in seinem Kopf errichtet hat, so weiß er sich doch in der sogenannten Realität ausgezeichnet zu bewegen, denn auch davon hat er ein geometrisch exaktes Abbild in seinem Gedächtnis gespeichert.

Doch all dies gerät durcheinander, als ihm Jeremy eine Wahrheitsdroge verabreicht, die ihn dazu bringen soll, seine kühnsten Entwürfe offenzulegen. Das passiert zwar nicht, aber Carlos wankt dennoch völlig desorientiert durch Washingtons Straßen. Und dann ist da ja noch Mary, die ihn seelisch schwer aus dem Gleichgewicht bringt. Mir ihr zu schlafen, ist nicht schwer, doch kann er ihr auch sein Leben anvertrauen?

In einem dramatischen Showdown zeigt sie ihm, was sie drauf hat: Zwei Blinde gegen drei bewaffnete Männer – ob das wohl gut geht? (Denn dass auch sie blind sein muss, ahnen wir von Anfang an.)

14) Bruce Sterling & Lewis Shiner: Mozart mit Spiegelbrille (Mozart In Mirrorshades, 1985)

Die Zeitreisenden aus der Zukunft haben die Festung Hohensalzburg als Stützpunkt eingenommen, um von hier die Stadt Salzburg in den Griff zu bekommen. Rice, der Ingenieur, hat eine Ölraffinerie hingestellt, so dass nun Pipelines durch die Gassen bis ins Zeitportal führen – in die Zukunft. Im Gegenzug haben die Zeitreisenden den Einheimischen alle Segnungen amerikanischer Kultur zugutekommen lassen: Bars, Klubs, Elektronik, Drinks, Klamotten, Musik – einfach alles. Das 18. Jahrhundert wird nie mehr sein, wie es mal war. Sogar die Französische Revolution ist fast unblutig verlaufen, und Thomas Jefferson ist der erste Präsident der USA – von Zukunfts Gnaden.

Wolfgang Amadeus Mozart ist der spezielle Schützling Rices und übt schon mal, seine Art von Pop mit den Mitteln der Zukunft herzustellen. Parker wird sein Manager und sagt ihm eine große Zukunft voraus. Mozart schwärmt Rice von Maria Antonia alias Antoinette vor, der Tochter der Kaiserin Maria Theresia, die jetzt, nach der Revolution, wohl in Versailles ein bisschen sein könnte. Prompt macht sich Rice auf den Weg und verliebt sich in das Luxus-Hippie-Girl.

Doch zehn Tage später kommt ein Video-Anruf von Mozart: In Salzburg sei die Kacke am Dampfen, die Raffinerie unter Beschuss, die Trans Temporal Army verteidige die Festung, deren Kommandantin Sullivan unter Kuratel gestellt worden sei. Als sich Rice in panischer Hast auf den Weg von Versailles nach Salzburg macht, trickst ihn Marie Antoinette aus und so fällt er den Masonisten-Freischärlern in die Hände. Wird Rice es jemals zurück in die Zukunft schaffen?

Mein Eindruck

Auch diese Story über einen alternativen Geschichtsverlauf bringt richtig Schwung in die Lektüre. Da trifft das bekannte Inventar des ausgehenden 18. Jahrhunderts auf die modernen USA, abgesehen mal vom Zeitportal, und im fröhlichen Culture Clash entstehen skurrile Szenen. Diese Story nimmt Sophia Coppolas Film über Marie Antoinette schon um Jahre vorweg. Und Mozart wird zum Popstar der Zukunft, so wie er das ja schon zu seiner Zeit war.

Zeitparadoxa – was soll damit sein? Der Zeitverlauf, erfahren wir, hat sowieso zahlreiche Verzweigungen, wie ein Baum Äste. Deswegen mache die Kontamination DIESES 18. Jahrhunderts den vielen anderen 18. Jahrhunderten gar nichts aus. Klar soweit? Und man kann sogar zwischen verschiedenen Zeitzweigen wechseln. Daher auch das Auftauchen der Trans Temporal Army.

Im Grunde jedoch zeigen die Autoren anhand der Kulturinvasion der modernen USA, wie ja vielfach in den Achtzigern zu beobachten, verheerende Auswirkungen auf die lokale Kultur – auch im soziopolitischen Bereich. So entsteht etwa die Widerstandsbewegung der Freimaurer alias Masonistas, gegen die Thomas Jefferson schon wetterte. Und es gibt die Trans-Temporalarmee, die sich als eine Art Sechste Kolonne der Manager aus der Zukunft engagiert – und so Rices Hintern rettet. Insgesamt also ein richtiger Dumas’scher Abenteuerroman, auf wenige Seiten komprimiert.

15) Karen Joy Fowler: Der Preis des Gesichts (Face Value, 1986)

Der Alien-Forscher Taki und seine Frau, die Dichterin Hesper, sind auf die neu entdeckte Welt der Meine gekommen, um diese rätselhaften Wesen zu erforschen. Unter dem Doppelsternsystem ist es heiß und staubig, doch den insektenartigen Menen macht das nichts aus. Die fliegenden Wesen mit den Flügelzeichnungen, die wie Gesichter aussehen, leben in unterirdischen Tunnelsystemen, deren Mittelpunkt Taki noch nicht hat erreichen können. Das frustriert ihn. Die Art und Weise ihrer Kommunikation könnte Telepathie sein.

Ebenso frustriert ist er vom Verhalten seiner Frau. Sie weint der Erde hinterher, besonders ihrer längst verstorbenen Mutter, die sie sehr liebt. Sie schreibt kaum noch Gedichte, und auch lieben will sie sich nicht mehr lassen. Nach einem weiteren zudringlichen Besuch eines Mene-Schwarms verliert sie nicht nur die Beherrschung. Sie verliert buchstäblich den eigenen Verstand. Aus ihrem Mund sprechen nun die Mene: „Wir haben sie. Wir können verhandeln …“

Mein Eindruck

Mit in der SF seltener Feinfühligkeit stellt die amerikanische Autorin den Prozess dar, wie einer sensiblen Frau der Verstand geraubt wird. Das geht überhaupt nicht gewaltsam vor sich, sondern ganz sachte, fast unmerklich für Taki. Bis es auf einmal zu spät ist. Die Kommunikation verläuft in beide Richtungen, sagt er, deshalb müssen die Menschen für die Mene zugänglich sein.

Doch die Identität einer Frau scheint sich von der eines Mannes zu unterscheiden. Eine Frau wie Hesper stört es, wenn die Mene ihre Fotos, Gedichte, ihren Schmuck und ihre Kleider durchwühlen. Nicht so bei Taki, der gleichmütig hinnimmt, wenn Mene seine Bänder mitnehmen und bald wieder in den Staub fallen lassen. Ding für Ding, Stück für Stück nehmen die telepathischen Mene also die Identität Hespers an sich. Dadurch wird die Geschichte zu einer Demonstration über den Geschlechterunterschied, vor allem in psychologischer Hinsicht.

16) Lucius Shepard: R & R (R & R, 1986) = [Life During Wartime]

Diese mehrfach mit Preisen ausgezeichnete Novelle bildet das Mittelstück von Shepards Roman „Das Leben im Krieg“ (Life During Wartime, 1987).

Es geht um kein triviales Thema, sondern quasi um „Apocalypse Now“ in Mittelamerika, im Dschungel Nicaraguas und El Salvadors, als die Reagan-Truppen die kommunistischen Sandinistas bekämpften. David Mingolla ist einer der amerikanischen Soldaten, Durchschnitt, er versucht, die Hölle des Krieges zu überleben. Seinesgleichen versucht mit Drogen vollgepumpt und im Direktkontakt mit ihrer Elektronik ihrer Waffen, gleichen sie eher Kampfmaschinen als Menschen. Die Grenzen zwischen Gut und Böse, zwischen Liebe und Haß und zwischen Mythos und Realität lösen sich auf – alles wird möglich, alles ist relativ.

Was von den Soldaten übrig bleibt, falls sie die sinnlosen Gefechte und Massaker an der Zivilbevölkerung überleben, sind leergebrannte Zombies. Sie werden nie mehr fähig sein, in ein normales bürgerliches Leben zurückzukehren, es sei denn, sie springen rechtzeitig ab und desertieren. Mingolla aber desertiert nicht, sondern schlägt sich durch. Bis er schließlich zu seinem Entsetzen herausfindet, dass der Krieg nur die Fortsetzung einer jahrhundertelangen Blutfehde zweier verfeindeter mittelamerikanischer Familien ist, zwar mit anderen Mitteln, aber immerhin: Die Weltmacht USA als Handlanger von Provinzfürsten mit privaten Rachegelüsten!

Mein Eindruck

Shepards Interesse gilt nicht so sehr den (waffen-) technischen, militärischen oder wirtschaftlich-sozialen Aspekten dieses speziellen Krieges, den er schon 1984 in seiner Story „Salvador“ verarbeitete. Es geht um die Psyche, die sich in diesem Hexenkessel verändert – bis zur Unkenntlichkeit. Hier findet der amerikanische Traum sein Ende: im Dschungel, im Drogenrausch, im Kampf mit einem Jaguar, unter dem Einfluss eines Voodoo-Magiers, kurz: im Herzen der Finsternis.

17) Walter Jon Williams: Dinosaurier (Dinosaurs, 1987)

Der irdische Botschafter Drill landet auf dem Planeten der Shar, um Friedensverhandlungen zu führen. Die Shar, mit denen er sich per Übersetzungsgerät verständigt, sind pelzige, dreibeinige Wesen mit großen Augen, spitzer Schnauze und einer komplexen Sozialstruktur. Ihre Präsidentin Gram begrüßt Drill. Der massige Zweibeiner mit seiner schwarzen Haut und dem langen Penis zwischen den Beinen hört auf seine zwei eingebauten Gehirne, das Metahirn im Beckenbereich und die Erinnerung im Kopf. Die Erinnerung sagt ihm, dass er sich diplomatisch verhalten soll.

Und bald stellt sich in den Verhandlungen heraus, dass die Shar bereits Millionen Opfer auf ihren Welten zu beklagen haben. Der Grund sind die Terraformerschiffe der „Menschen“, die nicht intelligent genug sind, um die Shar als intelligente Rasse zu identifizieren nund zu respektieren. Daher wurden sie als Schädlinge „exterminiert“.

Als die Präsidentin, die mehr Geduld als ihre Minister aufbringt, nachhakt, was denn diese Unterscheidung zwischen intelligent und nicht-intelligent zu bedeuten habe, antwortet ihr Drill in aller Unschuld, dass dies eine Folge der Spezialisierung sei. Nach acht Millionen Jahren habe sich die menschliche Rasse eben zwangsläufig in spezialisierte Unterspezies aufgespalten. Manche davon, wie die Terraformer, benötigen für ihre Tätigkeit nur einfach Instruktionen, andere, wie die Diplomaten, benötigten beispielsweise auch eine komplexe Erinnerung, also die gesammelten Erfahrungen der Menschheit.

All diese Erklärungen reichen nicht, um die Koalition der Präsidentin zusammenzuhalten. Ihre Regierung zerbricht, als Drill – wieder in aller Unschuld – berichtet, woher er die Koordinaten für die Shar-Welt habe. Na, von gefangenen Shar. Und was wurde aus denen? Sie wurden liquidiert, weil man den Garten brauchte, in dem sie untergebracht waren. Dieser erneute Beweis der ahnungslosen Grausamkeit der Menschen führt dazu, dass sich General Vang an die Macht putscht und den Menschen den Krieg erklärt …

Mein Eindruck

„Menschen“ ist in sieben Millionen Jahren ein sehr relativer Begriff geworden: Drill ist ein Abkömmling der Saurier, und zwar ein ganz besonders hässlicher. Dagegen sind die Shar ja richtig putzige Menschlein, mit denen wir uns identifizieren können. Drill jedoch hält sie für primitiv, weil sie noch an seltsame Dinge wie Moral glauben. Als ob dies im Laufe der Evolution irgendeine Rolle spielen würde. Sie sind wie einst die Saurier, zum Aussterben verurteilt. Was schon ziemlich ironisch ist.

Die eigentliche Kritik des Autors, der im Grunde keine Seite einnimmt, ist jedoch das, was den Shar so widerwärtig erscheint: die ahnungslose Grausamkeit der „Menschen“. Da diese keine Vorstellung mehr von Moral und Prinzipien haben, sondern vor allem durch Protein und Sex – Drills Metahirn quengelt regelmäßig danach – befriedigt werden, muss es etwas anderes sein, das das Verhalten der „Menschen“ steuert. Am Ende ihres letzten Zwiegesprächs erkennt Präsidentin Gram mit bitterer Trauer, um was es sich handelt: Instinkt und Reflex. So weit hat sich also die prächtige „Menschheit“ entwickelt!

Die Übersetzungen

Auf Seite 508ff. ist mehrfach von der iranischen Stadt „Tehran“ die Rede. Sie heißt bei uns Teheran. Man kann diese Schreibweise aber stehen lassen, weil es sich um eine alternative Welt handelt.

Auf der Seite 509 ist von dem „Gott der Trugs“ die Rede, aber gemeint ist Loki, also der „Gott des Trugs“!

Auf Seite 770 heißt es: „Die Welten auf beiden Seiten sind der Sicherheitspfand.“ Also, bei uns in der Schule war DAS Pfand immer sächlich, nicht männlich.

Unterm Strich

Diese Best-of-Auswahl wird ihrem Anspruch durchaus gerecht – was ja nicht selbstverständlich ist. Alle Texte sind durchweg top, ganz besonders die herausragenden Novellen von Robinson, Zelazny, Shepard, Martin und Miller. Alle anderen sind meist sehr bekannt und vielfach abgedruckt, ausgenommen die Stories von Fowler, Lambe und Masson, die man nur selten findet.

Zwei Aspekte fallen auf: Alle Erzählungen sind von nicht-technischen Themen charakterisiert, also meist psychologischer, soziologischer oder biologischer Natur. Das heißt, wenn nicht gerade wieder mal ein alternativer Geschichtsverlauf eine Rolle spielt, wie etwa bei Brin oder Williams. Durch dieses Übergewicht unterscheidet sich diese Auswahl von vielen, die man heute in den USA finden würde. Keine einzige Story von Bear, Benford oder Niven ist hier zu finden, Autoren, die für Hard SF stehen, also naturwissenschaftlich orientierte Science-Fiction.

Was betrüblich zu konstatieren ist, ist das Fehlen jeglicher Beiträge von Philip K. Dick und John Brunner, zwei im Heyne SF Programm nicht gerade unterrepräsentierten Autoren. Heyne hat fast das komplette Werk von Brunner veröffentlicht sowie einige der wichtigsten Arbeiten von Dick. Wieso fehlen sie hier? Vielleicht sind sie ja in „Ikarus 2002“ oder „Fernes Licht“ zu finden. Stay tuned.

Taschenbuch: 782 Seiten
Aus dem Englischen übertragen von diversen Übersetzern
ISBN-13: 978-3453179844|
http://www.heyne.de

_Wolfgang Jeschke (als Herausgeber) bei |Buchwurm.info| [Auszug]:_
[„Titan-1“]http://buchwurm.info/book/anzeigen.php?id__book=4724
[„Titan-2“]http://buchwurm.info/book/anzeigen.php?id__book=7346
[„Titan-3“]http://buchwurm.info/book/anzeigen.php?id__book=7347
[„Titan-4“]http://buchwurm.info/book/anzeigen.php?id__book=7086
[„Titan-5“]http://buchwurm.info/book/anzeigen.php?id__book=7087
[„Titan-6“]http://buchwurm.info/book/anzeigen.php?id__book=4327
[„Titan-7“]http://buchwurm.info/book/anzeigen.php?id__book=4486
[„Titan-8“]http://buchwurm.info/book/anzeigen.php?id__book=3747
[„Titan-9“]http://buchwurm.info/book/anzeigen.php?id__book=4274
[„Titan-10“]http://buchwurm.info/book/anzeigen.php?id__book=3687
[„Titan-11“]http://buchwurm.info/book/anzeigen.php?id__book=4509
[„Titan-12“]http://buchwurm.info/book/anzeigen.php?id__book=4538
[„Titan-13“]http://buchwurm.info/book/anzeigen.php?id__book=7350
[„Titan-14“]http://buchwurm.info/book/anzeigen.php?id__book=7348
[„Titan-15“]http://buchwurm.info/book/anzeigen.php?id__book=7351
[„Titan-16“]http://buchwurm.info/book/anzeigen.php?id__book=7349
[„Titan-18“]http://buchwurm.info/book/anzeigen.php?id__book=7353
[„Titan-19“]http://buchwurm.info/book/anzeigen.php?id__book=7352
[„Titan-20“]http://buchwurm.info/book/anzeigen.php?id__book=7354

Manfred Kluge (Hrsg.) – Katapult zu den Sternen. Magazine of Fantasy and Science Fiction 51

_Mit König Artus gegen den Nekromanten!_

Vom traditionsreichen SF-Magazin erscheinen in dieser Auswahl folgende Erzählungen:

1) Die Story von der Dame, der man besser abgeraten hätte, in einem Antigrav-Haus zu wohnen.

2) Die Story von dem Hobby-Prospektor, der seinen Urlaub auf der Venus verbringt und dort sein Glück zu machen hofft.

3) Die Story von den Heimkehrern einer Sternenexpedition, die eine völlig veränderte Erde vorfinden und sich anzupassen haben.

4) Die Story von den Würmern, welche die Erde besuchen, und wie frühere Besucher auch die Menschheit mit ihren Segnungen hätten beglücken können.

5) Die Story von dem Regierungsspezialisten für mysteriöse Fälle, der sich mit dem Fall eines Freundes konfrontiert sieht, der mehr als mysteriös ist.

_Das Magazin_

Das „Magazine of Fantasy and Science Fiction“ besteht seit Herbst 1949, also rund 58 Jahre. Zu seinen Herausgebern gehörten so bekannte Autoren wie Anthony Boucher (1949-58) oder Kristin Kathryn Rusch (ab Juli 1991). Es wurde mehrfach mit den wichtigsten Genrepreisen wie dem HUGO ausgezeichnet. Im Gegensatz zu „Asimov’s Science Fiction“ und „Analog“ legt es in den ausgewählten Kurzgeschichten Wert auf Stil und Idee gleichermaßen, bringt keine Illustrationen und hat auch Mainstream-Autoren wie C. S. Lewis, Kingsley Amis und Gerald Heard angezogen. Statt auf Raumschiffe und Roboter wie die anderen zu setzen, kommen in der Regel nur „normale“ Menschen auf der Erde vor, häufig in humorvoller Darstellung. Das sind aber nur sehr allgemeine Standards, die häufig durchbrochen wurden.

Hier wurden verdichtete Versionen von später berühmten Romanen erstmals veröffentlicht: „Walter M. Millers „Ein Lobgesang auf Leibowitz“ (1955-57), „Starship Troopers von Heinlein (1959), „Der große Süden“ (1952) von Ward Moore und „Rogue Moon / Unternehmen Luna“ von Algus Budrys (1960). Zahlreiche lose verbundene Serien wie etwa Poul Andersons „Zeitpatrouille“ erschienen hier, und die Zahl der hier veröffentlichten, später hoch dekorierten Stories ist Legion. Auch Andreas Eschbachs Debütstory „Die Haarteppichknüpfer“ wurde hier abgedruckt (im Januar 2000), unter dem Titel „The Carpetmaker’s Son“.

Zwischen November 1958 und Februar 1992 erschienen 399 Ausgaben, in denen jeweils Isaac Asimov einen wissenschaftlichen Artikel veröffentlichte. Er wurde von Gregory Benford abgelöst. Zwischen 1975 und 1992 war der führende Buchrezensent Algis Budrys, doch auch andere bekannte Namen wie Alfred Bester oder Damon Knight trugen ihren Kritiken bei. Baird Searles rezensierte Filme. Eine lang laufende Serie von Schnurrpfeifereien, sogenannte „shaggy dog stories“, genannt „Feghoots“, wurde 1958 bis 1964 von Reginald Bretnor geliefert, der als Grendel Briarton schrieb.

Seit Mitte der sechziger Jahre ist die Oktoberausgabe einem speziellen Star gewidmet: Eine neue Story dieses Autors wird von Artikeln über ihn und einer Checkliste seiner Werke begleitet – eine besondere Ehre also. Diese widerfuhr Autoren wie Asimov, Sturgeon, Bradbury, Anderson, Blish, Pohl, Leiber, Silverberg, Ellison und vielen weiteren. Aus dieser Reihe entstand 1974 eine Best-of-Anthologie zum 25-jährigen Jubiläum, aber die Best-of-Reihe bestand bereits seit 1952. Die Jubiläumsausgabe zum Dreißigsten erschien 1981 auch bei Heyne.

In Großbritannien erschien die Lokalausgabe von 1953-54 und 1959-64, in Australien gab es eine Auswahl von 1954 bis 1958. Die deutsche Ausgabe von Auswahlbänden erschien ab 1963, herausgegeben von Charlotte Winheller (Heyne SF Nr. 214), in ununterbrochener Reihenfolge bis zum Jahr 2000, als sich bei Heyne alles änderte und alle Story-Anthologie-Reihen eingestellt wurden.

_Die Erzählungen _

_1) Michael G. Coney: Katapult zu den Sternen (1976)_

Auf dem Planeten Peninsula herrscht Müßiggang wie in Florida. Eine der Freuden besteht jedoch im Schleudersegeln: Ein Mann wird auf ein Schleuderkatapult geschnallt und lässt sich mit 160 Stundenkilometern in die Höhe schnellen, um sodann an einem Gleiter zu segeln. Der entscheidende Punkt bei diesem Start ist jedoch, den Auslösebolzen rechtzeitig zu lösen. Wer das wie der arme St. Clair unterlässt, endet als tote Masse in der See.

Joe Sagar ist unser Mann vor Ort und selbstredend Mitglied im Klub der Schleudersegler. Eines Tages kommt also diese Lady namens Carioca Jones hereingeschneit und will den Klub besuchen. Da ihr ein streitbarer, um nicht zu sagen: umstrittener Ruf vorauseilt – sie agitiert gegen zwangsweise erfolgte Organspenden -, soll ihr der Zutritt verwehrt werden. Der intelligente Seehund an ihrer Seite trägt auch nicht gerade zum Eindruck ihrer Seriosität bei.

Doch sie hat zwei Begleiter bei sich, die die Stimmung ändern: Wayne Traill ist sehr beliebter 3d-Fernsehstar, und mit seiner leutseligen Art im Verein mit seiner beeindruckenden Größe kriegt er die Klubmitglieder dazu, Carioca doch noch Einlass zu gewähren. Es wird ein netter Abend, findet Joe. Und dass kaum jemand Notiz von Waynes unscheinbarer Gattin Irma nimmt, findet er schade.

Die Zeit vergeht, und Carioca versucht Joe wie alle Kerle zu verführen. Sie will ihn mit ihrem Antigrav-Haus beeindrucken, das sie unweit des Strandes von Peninsula gekauft hat. Es hängt an einem Stahlseil, dessen Ende in einem mit intelligenten Haifischen bestückten Pool verankert ist. Gleich daneben stehen noch vier Hochleistungs-Laserstrahler.

Schon bei seiner ersten Einladung merkt Joe, dass hier der Haussegen schief hängt: Wayne betrügt seine Frau Irma offensichtlich mit Carioca, und Irma muss es sich gefallen lassen. Aber wie lange noch, fragt sich Joe. Doch seinen Rückzug aus diesem Antigrav-Haus hat er sich weniger gefährlich vorgestellt.

Wayne Traill folgt einer Einladung des Seglerklubs. Man will ihn überlisten, sich auch mal mit dem Katapult schleudern zu lassen. Hat er den Mumm dazu? Er will gerade einen eleganten Rückzieher machen, als ein Schrei ertönt: Das Stahlseil, an dem das Antigrav-Haus gehangen hat, ist durchtrennt worden – nun saust Carioca Jones hilferufend dem Himmel entgegen!

Da gibt es nur eins für Wayne Traill: Er lässt sich ins halbwegs funktionsfähige Seglerkatapult schnallen und – ab die Post, Carioca hinterher! Wird er den Auslöser rechtzeitig betätigen können, der seit St. Clairs „Unfall“ nicht mehr repariert worden ist?

|Mein Eindruck|

Der Klub der Schleudersegler erinnert an einen viktorianischen Herrenklub. Die Mitglieder haben Respekt vor dem Filmstar, der den Macho verkörpert. Doch dessen Auftreten ist von zweifelhafter Moral. Denn er betrügt seine Frau Irma mit der ebenso glamourösen Carioca. Als Irma das Spielzeug Cariocas, das Antigrav-Haus, in die Luft gehen lässt, will sie dieser Rivalin ebenso wie ihrem aufgeblasenen Mann die Luft rauslassen. Eine klassische Dreiecksgeschichte also.

Der romantisch-dramatische Plot dient nicht nur der Vermittlung einer exotischen Sportart, dem Schleudersegeln, sondern auch den Konsequenzen von Genmanipulation und Organhandel. Gegen Letzteren tritt Carioca, obwohl sie gegen Genmanipulation nichts einzuwenden hat, wie ihr Haustier beweist. Ihre Doppelmoral spiegelt sich in ihrer Affäre mit Wayne wider.

_2) John Varley: In der Schüssel (In the bowl, 1976)_

Kiku ist ein Amateurgeologe vom Mars, der schon einiges Wundersames von den Venussteinen, den Juwelen der Venus-Wüste, gehört hat. Sie sollen eine Menge wert sein, aber auch nur deshalb, weil sie schwer zu bekommen sind. Wie schwer, will Kiku herausfinden.

Zunächst macht er den Fehler, sich ein Ersatzauge aufschwatzen zu lassen – angeblich ein Schnäppchen, aber leider mit einer gewissen Fehlsichtigkeit. Die macht sich auf der Venus zunehmend lästig bemerkbar. Er passiert eine Stadt nach der anderen, bis er endlich die tiefe Wüste erreicht. Nach Last Chance kommt nur noch Prosperity. Hierhin kommen die Pendelbusse nur noch im Wochentakt.

Die einzige Medizinerin weit und breit, die Kiku mit seinem versagenden Billigauge helfen kann, ist Ember. Das Mädchen planscht grade mit seinem zahmen Otter im Dorfbrunnen herum, als Kiku es wegen der nötigen Operation anquatscht. Sie sieht aus wie 18, sagt aber, sie sei schon 13, und das wäre auf der Venus schon fast ein legales Alter. Tatsächlich findet sie sich bereit, ihm das Auge zu reparieren. Als sie aber herausfindet, was er hier draußen im Nirgendwo wirklich vorhat, will sie sofort mit von der Partie sein.

Kommt ja gar nicht in die Tüte, protestiert Kiku sofort, natürlich vergebens. Denn zufällig besitzt Ember auch das einzige funktionierende Fluggefährt weit und breit. Nur mit diesem Schweber könne Kiku über den Grat des Randgebirges in die tiefe Wüste gelangen, wo die wertvollen Venussteine wachsen.

Tja, und so kommt es, dass sich Kiku mit einem listenreichen Mädel und einem zahmen Otter auf den Weg über die Berge macht. Es wird ein Abenteuer, das beide grundlegend verändern soll. Aber das kann auch sein Gutes haben …

|Mein Eindruck|

John Varley sieht in Veränderung immer auch die Chance zu einem Neuanfang. Und dies gilt natürlich auch für Kiku, der ein einsames Leben führt, und für Ember, die endlich von der venusischen Sandkugel runterkommen will. Allerdings braucht es noch etwas Nachhilfe, bevor diese beiden so unterschiedlichen Persönlichkeiten zueinander kommen können.

Dieser Katalysator ist der Venusstein, eine denkwürdige Begegnung in der Wüste, die Kikus Geist verändert – und in Gefahr bringt. Die bodenständige Ember ist nötig, um ihn vor dem Wahnsinn zu bewahren und ihm zu zeigen, was er wirklich braucht: einen lieben Menschen an seiner Seite. Jetzt muss Kiku nur noch herausfinden, ob er Ember lieber als Tochter adoptieren oder doch gleich heiraten soll. Aber auch das wird sich noch zeigen, sobald sie beide erst einmal auf den Mars gelangt sind.

Dem zuversichtlichen Menschen nach Varley-Art ist „nix zu schwör“. Auch in seinen Erzählungen, die in den drei Goldmann-Erzählbänden „Voraussichten“, „Mehr Voraussichten“ und „Noch mehr Voraussichten“ zusammengefasst sind, erweisen sich die Hauptfiguren als Erkunder neuer Zustände und Gegenden. Hier ist es ein gekauftes Organ, das Kiku zur schicksalhaften Begegnung mit Ember – und einem Venusstein – verhilft.

In „Ein Löwe in der Speicherbank“ gerät die Hauptfigur mit einer Sicherheitskopie seines Geistes ins Innere eines Computers und muss sich dort einrichten. In der preisgekrönten Story „In der Halle der Marskönige“ richten sich die Mars-Siedler häuslich in einem Alien-Konstrukt ein – mit entsprechenden Überraschungen. Für solche ist Varley immer gut (gewesen), und das macht seine Storys so vergnüglich, ohne es an Tiefgang fehlen zu lassen.

_3) Brian W. Aldiss: Drei Wege _

Das Forschungsschiff „Bathycosmos“ war zehn Jahre Bordzeit unterwegs, nun kehrt es zur Erde zurück. Doch hier sind wegen der relativistischen Effekte der schnellen Fortbewegung des Schiffes inzwischen 120 Jahre vergangen. Beim letzten Zusammentreffen aller Besatzungsmitglieder hält ihnen die Präsidentin von Korporatien eine erschütternde Ansprache.

Die gute Nachricht zuerst: Inzwischen sei die Große Eiszeit beendet und die meisten Seewege wieder frei. Aber ein neuer Kontinent sei zwischen Neuseeland und dem Ellis-Archipel aufgetaucht. Dieser werde gerade besiedelt. Die schlechte Nachricht: Zwei Atomkriege haben viele Menschenleben gekostet und sämtliche, der Crew bekannten Länder ausradiert oder umgestaltet. Korporatien werde die Rückkehrer aus dem All durch seine Bürokratie schleusen und sie weiterleiten. Wie der Commander feststellen muss, interessiert sich keine Sau für die wissenschaftlichen Erkenntnisse, die sein Schiff gesammelt hat.

Lucas Williamz, A. V. Premchard und Jimmy Dale ahnen noch nicht, was auf sie zukommt. Williamz will zurück ins heimatliche Australien, doch da dieses Land nun im feindlichen Neutralien liegt, müsse er sich erst als Gefangener internieren und dorthin transportieren lassen. Williamz erfährt auf der langen Zugfahrt von den bestinformierten Leuten dieser Weltregion, dass der neue Kontinent namens Seelandia gerade besiedelt werde. Da will er hin.

A. V. Premchard, der Hindu, will nach Indien, logisch. Doch Indien liegt jetzt in der Dritten Welt, von Korporatiern auch abfällig Anarchanien genannt. Folglich muss er ebenfalls Einbußen und Hindernisse hinnehmen. Tatsächlich geht es dort in der Bürokratie immer noch wie im Mittelalter zu, also wie seit Jahrtausenden gewohnt. Die letzten 500 km in sein Dorf Kanchanapara soll er zu Fuß gehen.

Jimmy Dale muss erst wie Williamz eine brutale Phase der Desorientierung durchstehen, bevor er sich wieder auf die Straße traut. Seltsam: Überall sind nur uniformierte oder unscheinbar gekleidete Frauen zu sehen, kein einziger Mann. Als er in einer Bar nach einer Nutte fragt, bekommt er es mit einer kräftigen Lesbe zu tun, die ihn an eine Bulldogge erinnert. Er wehrt sich, so gut er kann, wird aber gleich danach von der – weiblichen – Polizei vermöbelt. Jimmy ist in einer weiblichen Tyrannei gelandet, mit einem weiblichen Hitler an der Spitze.

Williamz wird der Zugang zu Seelandia verwehrt, und zwar, weil seine Urgroßmutter aus Begalen stammte. Dem Rassismus zum Trotz findet er dennoch ins Land seiner Träume: ein Wilder Westen, der nur auf die Eroberung wartet …

|Mein Eindruck|

Die Erzählung zeigt drei Wege der Weiterentwicklung auf, die dem Menschen nach Eiszeit und Atomkrieg bleiben. Williamz errichtet sein eigenes Königreich und sucht sich eine Frau, um eine Dynastie zu gründen. Aber sein Freund A.V. Premchard wählt den kleinen Horizont seines Dorfes, um sein Wissen an die Landbevölkerung weiterzugeben. Er wohnt bei seinem Urenkel in spirituellem Frieden.

Doch Commander Skolokov verkörpert den dritten Weg: Er will in einem neuen Raumschiff der Korporatier, der „Bathycosmos II“, noch weiter hinausfahren, auf eine Reise, die 300 Erdenjahre dauern wird. Williamz lehnt die Teilnahme an dieser Expedition ab: Seine Ziele sind irdischer und praktischer Natur. Also muss Skolokov alleine hinausfahren.

Die drei Wege sind altbekannt, müssen aber immer erneut beschritten werden: den der macht, den des Wissens und den der Spiritualität. Der Autor, der schon 1942 in Hinterindien gegen die japanischen Invasoren kämpfte, kennt sich nicht nur mit Land und Leuten des indischen Subkontinents bestens aus, sondern auch mit deren Mentalität, Religion und Bräuchen. Das verleiht seiner Erzählung einen realistischen Eindruck, aber auch eine bleibende Wirkung.

_4) Bruce McAllister: Victor_

Würmer aus dem intergalaktischen Raum fallen auf die Erde herab, geschützt durch Chitinkokons. Sie wühlen sich bei Nacht in den städtischen Müll. Doch als ein Beleuchter vom Theater seine Lampe auf sie richtet, vermehren sie sich explosionsartig. Die Stadt ist alarmiert, und Professor Stapledon, der Vater von Jane, informiert die Behörden. Die wollen gleich Bomben werfen, doch er sagt Nein. Er ruft Jane und ihren Freund, den Reporter, an, damit sie seine Vogelpfeife suchen. Mit dieser lassen sich Tausende Vögeln auf die Müllkippe locken. Und was machen sie wohl? Sie fressen die Würmer. Gefahr erkannt, Gefahr gebannt.

Doch die Geschichte geht noch weiter. Jane und ihr Freund, der namenlose Ich-Erzähler, heiraten, das Interesse an der Würmerinvasion flaut ab, drei Kinder werden dem Paar geboren, die Jahre vergehen, es folgt die Scheidung und er bindet sich erneut, an eine Frau, die sich wenigstens dafür interessiert, was er denkt. Er denkt an den Weltraum und an Raumschiffe, was sonst.

|Mein Eindruck|

Diese Story erzählt ungefähr das genaue Gegenteil dessen, was Robert A. heinlein in seinem klassischen Invasionsroman „Invasion der Wurmgesichter / Die Marionettenspieler“ als Horrorszenario an die Wand malte: dass uns die Invasoren übernehmen würden, wenn wir ihnen nicht Einhalt gebieten würden. Das war eine versteckte Warnung vor der Roten Gefahr, dann der Gelben Gefahr oder welcher Farbe auch immer der jeweiligen Regierung gerade missfiel.

Dass die Würmer zur Müllbeseitigung herangezogen hätten werden können, auf diese Idee kam niemand. Man sah stets nur die Gefahr, nie die Chance. Wenigstens wurden keine Bomben geworfen, sondern eine ökologische Lösung gewählt. Auch schon ein Fortschritt.

_5) Sterling E. Lanier: Der Geist der Krone (Ghost of a Crown)_

Irgendwo in London in einem literarischen Klub stellt ein junger Mann namens Simmons die Wahrheit in all diesen Gespenstergeschichten und Legenden, von denen Großbritannien voll zu sein scheint, stark in Frage. Tatsächlich schließen sich seiner Meinung einiger Klubmitglieder an, doch dann tritt Brigadegeneral Donald Ffellowes auf und erzählt eine umwerfende Geschichte, die Simmons‘ Meinung – die dieser gar nicht mehr vehement vertreten will – widerlegen soll. Sie geht folgendermaßen …

Ffellowes arbeitet in einer Spezialabteilung des Kriegsministeriums (wie es damals hieß) und wird von einem alten Schulfreund namens James Penruddock um Hilfe gerufen. Er reist nach Cornwall auf das Anwesen des Grafen, das den Namen Avalon House trägt. James holt seinen Freund Donald am Bahnhof ab und erzählt ihm vom Grund seines Hilferufs. Grässliche Geräusche in der Nacht und wiederholtes nächtliches Sturmtosen brächten die Bediensteten sowie ihn und seine Frau Isobel um den Schlaf. Ein Hausmädchen sei bereits schreckerfüllt abgereist. Noch sei niemand zu Schaden gekommen, doch das könne ja wohl nur eine Frage der Zeit sein, oder?

Bei seiner Ankunft hat Donald Gelegenheit, James‘ bleichen, schwarzhaarigen Bruder Lionel kennenzulernen. Wie stets ist Lionel, dem der Ruf eines perversen, aber fähigen Archäologen vorauseilt, arrogant und abweisend. Er logiert mit James‘ Erlaubnis im Sommerhaus und führt Grabungen in einer alten Burgruine durch, die auf einer Felsklippe über die tosende See ragt. Diesmal gibt ihm jedoch James zu aller Erstaunen Kontra, und Lionel schwirrt schmollend ab.

Schon in dieser Nacht findet Donald die Angaben von James bestätigt: unmenschliches Geschrei, tosender Sturmwind – und den intensiven Duft von Apfelblüten in der Luft. Bemerkenswert. Ganz im Gegensatz zum fauligen Geruch, der aus dem Keller emporsteigt. Was mag dahinter stecken? Donald nimmt Lionel unter die Lupe.

Dieser arbeitet mit zwei finsteren Gesellen, die er seine Assistenten nennt, in den Tiefen der Burgruine. Was mag sich dort nur verbergen? Lionel will Donald vertreiben, redet mit seinen Gesellen in einem rauen Dialekt, den Donald später als Bretonisch identifiziert. Als Lionel den Fehler macht, Hand an Donald zu legen, bricht ihm der Agent des Ministeriums fast das Handgelenk. Er erkennt den glühenden Hass des Bruders auf James; es ist der Hass des Enterbten, der das haben will, wovon er glaubt, es stünde ihm zu: das Land seines Bruders.

Der Begriff Bretagne ist der Schlüssel zu einem Teil des Rätsels. Von alters her bestehen enge Beziehungen zwischen den beiden keltischen Ländern Cornwall und Bretagne, und laut den Legenden, die Sir Thomas Malory und andere aufschrieben, zog einst auch König Artus, der Retter Britanniens vor den Sachsen, in die Bretagne, um dort zu kämpfen. Doch Artus hatte einen dunklen Halbbruder, der ihm sein Reich neidete und schließlich versuchte, ihn zu töten.

Soll sich die alte Geschichte tatsächlich auf Avalon House wiederholen? Als Donald in der nächsten Nacht den unmenschlichen Schrei gefolgt von Pferdewiehern hört, geht er zu James, um ihm zum Kampf zu rufen. Nur dass James ihn bereits gestiefelt und gespornt bereits erwartet. „Der Jäger ist gekommen“, sagt James nur, dann holen sie je ein Schwert und stellen sich der Herausforderung. Doch wer hat den Jäger der Nacht, der nun im dichten Nebel angreift, gerufen und zu ihnen geschickt?

Das Geheimnis kann nur ein Besuch in den Tiefen der Burgruine lüften …

|Mein Eindruck|

Es ist eine Überraschung, dass eine so konservativ gestaltete Erzählung in einer Auswahl aus den siebziger Jahren auftaucht. Und sie hat natürlich beileibe nichts mit Naturwissenschaften zu tun, sondern viel mehr mit Schauergeschichten und Fantasy. Die Folie ist eindeutig die Artus-Sage, die ja ihre pikante Spannung daraus bezieht, dass Artus unwissentlich mit seiner Schwester schläft und so seinen Sohn und Halbbruder Mordred zeugt, der zu seiner Nemesis wird.

Während diese Fantasy-Vorlage nun erneut ausgespielt wird, als handle es sich um eine viktorianische Schauergeschichte, nimmt die Handlung im Innern der Burgruine eine unerwartete Wendung, die neu ist. Denn hier unten in den Tiefen des uralten Gemäuers liegt das Grab jenes dunklen spirituellen Herrschers, der vor den Christen die Inseln beherrschte und von ihnen vertrieben wurde. Sein Name wird an keiner Stelle ausgesprochen, deshalb bleibt dies Spekulation. Man könnte ihn Cernunnos nennen, den Herrn der Wälder, oder Herne.

Lionel alias Mordred schickt sich an, ihn mit schwarzer Magie zum Leben zu erwecken. Fauliger Gestank, missgestaltete Kreaturen erfüllen die Höhle des Grabmals, als James und Donald sich mit ihren Waffen Lionel, dem Nekromanten, entgegenstellen …Mehr darf nicht verraten werden.

Aber es ist erstaunlich, dass der Autor des Post-Holocaust-Klassikers „Hieros Reise“, dieses wunderbar altmodische Garn veröffentlicht hat. Er hätte einen Roman daraus machen können. Wer Sherlock Holmes und die Viktorianer liebt, wird sich hier wie zu Hause fühlen. Und obwohl es an Romantik ein wenig fehlt (Isobel kommt nur im Epilog richtig zu Wort), wäre die Geschichte ein klassischer Fall für die Hörspielreihe GRUSELKABINETT.

_Die Übersetzung_

Es gibt ein paar ärgerliche Druckfehler in diesem schmalen Band. Ich liste sie einfach kommentarlos auf.

Seite 36: „Hole“ statt „Holo“.

Seite 43: Statt Phobos, dem Marsmond, schreibt der Übersetzer der Varley-Story ständig „Phöbos“. Beides sind griechische Wörter, doch „phobos“ bedeutet „Furcht“ und „Phöbus / phoibos“ ist der Name des Lichtgottes Apoll.

Seite 72: „Er legte seinen Arm um seinen Freund, A.V. Premchard sagte sanft …“ Das falsch gesetzte Komma verwirrte mich völlig. Denn den folgenden Dialog-Satz spricht nicht Premchard, sondern Williamz. Daher muss das Komma wie folgt stehen: “ …um seinen Freund Premchard, sagte sanft …“.

Seite 145: „das Geräusch von Wasser, daß irgendwo tropfte.“ Statt „daß“ müsste es „das“ heißen.

Auf Seite 146 verhält es sich genau umgekehrt. In dem Satz „dass ich nichts von der Welt wußte, außer das sie die Kontrolle über mein Handeln an sich gerissen hatte …“ müsste das Wörtchen „das“ ein „daß“ sein. Dann stimmt die (alte) Grammatik.

_Unterm Strich_

Alle Erzählungen bis auf eine sind von hoher Qualität. Sie bieten gute Unterhaltung sowie erstaunliche Ideen. Und Ideen sind ja der Hauptgrund, warum man überhaupt SF-Erzählungen liest. Sonst könnte man ja gleich zu einem Roman greifen. In der SF entstehen Romane aber häufig aus mehr oder weniger langen Erzählungen. Während die Story eine oder zwei ungewöhnliche Einfälle präsentiert, ist es die Aufgabe eines Romans, eine Entwicklung zu schildern.

Während die Erzählungen von den zwei Könnern Coney und Varley mein Interesse fesseln konnten, gelang dies McAllisters Story „Victor“ leider nicht. Nach einem Genre-typischen, starken Auftakt verliert sich der Rest in banalem Geschehen wie etwa Heirat, Kindern, Scheidung und neuer Beziehung. Was soll daran Besonderes sein?

Auch die Erzählung von Brian Aldiss folgt keinem vorgegebenen Story- oder Handlungs-Muster, sondern schildert schon eine Entwicklung, wie es ein Roman täte. Deshalb muss der Leser Geduld aufbringen, während die drei Hauptfiguren ihren jeweiligen Weg verfolgen. Und bei Aldiss, das weiß der erfahrene SF-Kenner, muss man sich stets darauf gefasst machen, dass die Figuren unangenehme Überraschungen erleben. Für Aldiss, eine der wichtigsten Autoren der New Wave in den sechziger Jahren, ist das Leben kein Zuckerschlecken. Einer zahlt immer drauf.

Als Trostpflaster zu diesen beiden Erzählungen erlebte ich dann zu meinem Erstaunen eine gruselige Fantasygeschichte, die von einem SF-Klassiker namens Sterling Lanier kommt. (Er war übrigens der Typ, der es Frank Herbert 1965 überhaupt erst ermöglichte, seinen voluminösen Roman „DUNE“ als Hardcover bei einem Verlag zu veröffentlichen – alle anderen hatten schon abgelehnt.)

Laniers Story versetzt uns zurück in ein quasi-viktorianisches England, so dass man jeden Moment erwartet, einen Gespensterdetektiv auftreten zu sehen. Solche Figuren gab es in der Massenliteratur zuhauf, so etwa auch Aylmer Vance. Tatsächlich ist unser Erzähler Donald Ffellowes so ein Kerl, eine Art james Bond des Esoterischen. Zusammen mit einer Story direkt aus den Artus-Legenden wird noch eine richtige Sword-& Sorcery-Handlung draus. Wirklich erstaunlich – und sehr unterhaltsam.

Im Unterschied zu Isaac Asimov’s SF Magazin hatte das „Magazine of Fantasy and Science Fiction“ keine Berührungsängste zur Fantasy und Schauerliteratur. Ein Glück, denn sonst wäre mir dieser feine Beitrag durch die Lappen gegangen.

|Taschenbuch: 158 Seiten
Erstveröffentlichung im Original: 1976/77/78
Aus dem Englischen von diversen Übersetzern
ISBN-13: 978-3453304826|
[www.heyne.de]http://www.heyne.de

_Mafred Kluge bei Buchwurm.info:_
„Die Cinderella-Maschine“
„Jupiters Amboss. Magazine of Fantasy and Science Fiction 49“

Wahren, Friedel (Hrsg.) – Isaac Asimovs Science Fiction Magazin, 38. Folge

Trügerische Utopien und andere Herausforderungen

Dieser Auswahlband aus dem Jahr 1991 enthält Erzählungen von Kim Stanley Robinson, George Alec Effinger, Mike Resnick, Michael Kallenberger, Megan Lindholm (= Robin Hobb), James Patrick Kelly und dem deutschen Autor Peter Frey.

Drei Novellen ragen heraus. Effingers Novelle bildet den Anfang seines Roman „Das Ende der Schwere“, Resnicks Novelle „Manamouki“ wurde mit dem begehrten HUGO Award ausgezeichnet und Kelly glänzt mit der Novelle „Mr. Boy“.

Die Herausgeber

Friedel Wahren war lange Jahre die Mitherausgeberin von Heynes SF- und Fantasyreihe, seit ca. 2001 ist sie bei Piper verantwortlich für die Phantastikreihe, die sowohl SF als auch Fantasy veröffentlicht.

Isaac Asimov, geboren 1920 in Russland, wuchs in New York City auf, studierte Biochemie und machte seinen Doktor. Deshalb nennen seine Fans ihn neckisch den „guten Doktor“. Viel bekannter wurde er jedoch im Bereich der Literatur. Schon früh schloss er sich dem Zirkel der „Futurians“ an, zu denen auch der SF-Autor Frederik Pohl gehörte. Seine erste Story will Asimov, der sehr viel über sich veröffentlicht hat, jedoch 1938 an den bekanntesten SF-Herausgeber verkauft haben: an John W. Campbell. Dessen SF-Magazin „Astounding Stories“, später „Analog“, setzte Maßstäbe in der Qualität und den Honoraren für gute SF-Stories. Unter seiner Ägide schrieb Asimov nicht nur seine bekannten Robotergeschichten, sondern auch seine bekannteste SF-Trilogie: „Foundation“. Neben SF schrieb Asimov, der an die 300 Bücher veröffentlichte, auch jede Menge Sachbücher, wurde Herausgeber eines SF-Magazins und von zahllosen SF-Anthologien.

Die Erzählungen

1) Kim Stanley Robinson: Das Ende der Traumzeit (Before I Wake)

Der Wissenschaftler Fred Abernathy erwacht aus einem wunderschönen Traum, weil sein Kollege Winston ihn anbrüllt, er solle gefälligst aufwachen. Aber er ist doch wach, oder etwa nicht? Winston erklärt, dass die Menschen, wie Fred, Wachen nicht mehr von Träumen unterscheiden können, weil ihre Wach- und Schlafphasen völlig durcheinandergeraten sind. Das Magnetfeld der Erde muss in ein starkes Feld kosmischer Strahlung geraten sein, die dies verursacht.

Flugzeuge sind abgestürzt, Auto- und Schiffsverkehr zusammengebrochen. Abernathy holt seine träumende Schwester Jill aus dem niedergebrannten Zuhause ab und bringt sie ins Labor zu Winston und anderen Mitarbeitern des Instituts. Hier versucht Abernathy, unter ständiger Verabreichung von Schmerz, Aufputschmitteln usw., ein Abschirmgerät zu entwickeln. Es gelingt ihm. Doch dankt man es ihm? Nein: Auf einmal gehen alle auf ihn los: Er sei schuld. Aber an was? Als er stürzt, glaubt er eine Treppe hinabzustürzen, doch dann erwacht er. Wirklich?

Mein Eindruck

Der Autor hat die Schlafforschung von 1990 gründlich studiert, und auch heute forscht man eifrig weiter, was im Schlaf passiert. Er geht aber weiter, indem er fragt, wie Bewusstsein entstand, als das Gefühl, wach zu sein und sich zu fragen: „Wer und was bin ich?“ Wozu dient dann aber das Träumen? Möglicherweise kann in diesem Zustand das menschliche Bewusstsein in die Unendlichkeit hinausreichen und sich so seiner spirituellen Seite bewusst werden.

Der Rest der Handlung lässt sich durchaus vernünftig verfolgen, da dies keine Story von Philip K. Dick oder J. G. Ballard ist. Fred erkennt das Problem, bekämpft es und sucht, wie ein guter Wissenschaftler, die Lösung dafür: die Abschirmung des Kopfes gegen die Magnetstrahlung. Der Träger des Helms würde also aufwachen. Ironischerweise ziehen seine Arbeitskollegen es vor weiterzuträumen …

2) George Alec Effinger: Marîd lässt sich aufrüsten (Marîd Changes His Mind)

Der etwa 30-jährige christliche Algerier Marîd Audran lebt als Privatdetektiv im Budayin, dem Rotlichtbezirk einer nordafrikanischen Stadt im 21. Jahrhundert. In den Strip-Klubs findet er seine Kumpel, seine diversen Freundinenn – und leider auch seine Feinde. Die Halbwertszeit eines Lebens ist hier stark reduziert. Seine derzeitige Freundin ist Yasmin, eine Oben-ohne-Tänzerin, aber auch mit Tamiko und Nikki hat er schon nähere Bekanntschaft geschlossen. Marîd ist ein wenig exotisch und wirkt arrogant, weil er sich standhaft weigert, ein Software-Add-on für die Persönlichkeitsmodifikation zu benutzen. Er hat nicht mal eine Schädelbuchse dafür und zieht stattdessen Tabletten vor. Yasmin kennt solche Skrupel nicht, und deshalb ist sie die populärste Tänzerin bei Frenchy’s.

Die Mordserie

Dass die Moddys und Daddys – die Persönlichkeitsmodule und Software-Add-ons – auch Gefahren bergen, zeigt sich, als ein neuer Kunde Marîds vor seinen Augen vor einer James-Bond-Kopie umgenietet wird. Wie taktlos. Leider bleibt es nicht bei diesem Mordopfer. Auch Tamiko und eine ihrer Freundinnen, die sich als Killeramazonen auftakeln, erleiden einen vorzeitigen Exitus. Und ihre und Marîds Freundin Nikki verschwindet spurlos. Schleunigst begleicht Marîds Nikkis Schulden bei Hassan und Abdullah, doch auch dies bewahrt ihn nicht vor einem bösen Verdacht, als Abdullah ebenfalls die Kehle aufgeschlitzt wird.

Diesen Verdacht hegt jedoch nicht die Polizei unter Kommissar Okking, mit dem Marîd schon öfters zu tun hatte, sondern der Obermacker des Rotlichtviertels, Friedlander Bei. Marîd bekommt eine „Privataudienz“ mit der Option auf sofortige Exekution durch die zwei Gorillas dieses Paten. Doch er kann ein hieb- und stichfestes Alibi für Abdullahs Tod vorweisen und springt dem Tod noch einmal von der Schippe. Er erfährt, dass alle Ermordeten in Diensten Friedlander Beis standen, sei es als Kunden oder als Auftragskiller wie Tamiko. Offensichtlich will jemand die Geschäfte des Beis erheblich stören, und das kann dieser nicht zulassen.

Ein neuer Chef

Und an dieser Stelle kommt nun Marîd ins Spiel. Er sei der Einzige, so der Bei, der es schaffen könnte, schlauer als die Polizei und schneller als der Killer zu sein. Der Bei bittet Marîd daher, für ihn den Schuldigen zu finden. Und wenn er bittet, dann hat Marîd das als Befehl aufzufassen. Die Bezahlung ist fürstlich, doch die Sache hat einen Haken: Marîd muss sich aufrüsten lassen. Das schmeckt ihm überhaupt nicht, aber was bleibt ihm anderes übrig? Umsonst ist nur der Tod, und der kostet das Leben. Die eigenen Ärzte des Beis sollen die OP vornehmen. Na schön, willigt Marîd ein, froh, mit dem Leben davongekommen zu sein. Auch seine Freundin Yasmin überredet ihn, sich „verdrahten“ zu lassen.

Verdrahtet

Drei Wochen später – es ist Ramadan – erwacht Marîd mit einem Brummschädel und merkt, dass er im Bett eines recht angenehm aussehenden Krankenhausbettes liegt. Es unterscheidet sich von den Armenzimmern, die er nach einer Blinddarm-OP kennenlernte. Offenbar hat sein neuer Mäzen dafür gesorgt. Der Arzt, Herr Yeniknani, ist sehr besorgt um das Wohl und Wehe von Marîd und erklärt ihm die neuen Implantate. Marîd kann jetzt nicht nur Persönlichkeitsmodule und Software-Add-ons hochladen, um jemand anderes zu sein und zusätzliches Wissen zu erlangen. Nein, er kann noch viel mehr, weil Dr. Lîsani ihm winzige Drähte in tiefe Regionen seines Hirns eingeführt hat, damit Marîd Gefühle wie Hunger, Durst, Schlaf und sexuelle Erregung direkt kontrollieren kann. Allerdings kann er sich nicht selbst einen Orgasmus verschaffen, denn das wäre kontraproduktiv gewesen. Marîd ist beeindruckt.

Sobald er wieder entlassen worden ist, hört er, dass dieser James-Bond-Verschnitt verschwunden ist und dass seine eigene Freundin Nikki tot aufgefunden wurde – in einem Müllsack. Bei ihr findet er ein selbstgebasteltes Moddy, einen Ring und einen Skarabäus, möglicherweise Hinweise auf Herrn Leipolt, einen deutschen Kaufmann, mit dem Nikki zu tun hatte. Als er das Moddy von einer Moddy-Ladenbesitzerin testen lässt, verwandelt sich diese daraufhin in eine reißende Bestie. Marîd ist erschüttert. Aber dieses satanische Moddy kann nicht den oder die Mörder gesteuert haben, denn dafür sind die Morde zu sorgfältig durchgeführt worden. Als er Tamikos Freundin Selima, die dritte ihres Killertrios, hingeschlachtet vorfindet, warnt ihn eine mit Blut geschriebene Botschaft, dass er der Nächste sei.

Mein Eindruck

Auf den ersten Blick entspricht der Roman „Das Ende der Schwere“, den diese Story eröffnet, dem typischen Klischee für einen Cyberpunk-Roman: Modernste Technik steht im krassen Gegensatz zu dem illegalen oder zwielichtigen Milieu, in dem es eingesetzt wird. In der Regel ist der Grund für solchen Technikeinsatz aber der, dass im Untergrund und auf dem schwarzen Markt die moderne Technik – hier Persönlichkeitsmodule – erst voll ausgereizt werden. Das ist bis heute so, wenn man sich zum Beispiel Gadgets, Hacker, Designer-Drogen und das Internet ansieht.

Was den Roman über das Niveau der meisten Cyberpunk-Romane, die zwischen 1983 und 1995 erschienen (also bis zum Start der Shadowrun-Serie, als die Klischees endgültig in Serie gingen), hinausgeht, ist die Hauptfigur. Marîd Audran ist kein jugendliches Greenhorn mehr und hat bereits einige Lebensphasen hinter sich. Er lebt außerhalb der bürgerlichen Lebensgrenzen auf einem Areal, das zwar auf dem Friedhof liegt, aber als Rotlichtbezirk und Vergnügungsviertel genutzt wird. Touristen und Seeleute toben sich hier aus und, wie Audran erfährt, auch zunehmend Politflüchtlinge aus Europa.

Audran hat einen Horizont, den er ständig erweitert, und ein Händchen für Damen und Freunde. Beide sind ihm gleichermaßen treu, denn er weiß, dass er ohne sie nicht in diesem Milieu überleben kann. Er hat sich wie ein Chamäleon der Umgebung angepasst. Obwohl er, wie Friedlander Bei feststellt, Christ ist, befleißigt er sich doch bei jeder sich bietenden Gelegenheit der arabischen Höflichkeits-Floskeln, zitiert den Koran, ruft Allah an und weiß mit arabischen Geschäftsleuten umzugehen, selbst wenn es sich um die größten Halunken handelt. Kurzum: Er ist ein Überlebenskünstler, noch dazu einer mit einem Gewissen und einem (gut versteckten) Herz aus Gold. Sonst würde er nicht nach verschwundenen Freundinnen fahnden.

Das macht ihn aber noch nicht zu einem guten Detektiv. So brüstet er sich zwar mit seiner Fähigkeit, jeden geschlechtsumgewandelten Mann, der nun als Stripperin auftritt, erkennen zu können, doch als er selbst einer hübschen langbeinigen Blondine in der Villa eines Deutschen begegnet, nimmt er sie dummerweise für bare Münze und schläft mit der Hübschen. Am nächsten Morgen klärt ihn „ihre“ Abschiedsnotiz über seinen Irrtum auf: „Sie“ heißt Günther Erich von S. Marîd stöhnt, weil ihm übel wird. Schließlich war er bis jetzt strikt hetero. Und seine Menschenkenntnis hat offenbar schwer nachgelassen. Was, wenn dies auch bei Nikki der Fall wäre?

Die Austauschbarkeit von Körpern und Persönlichkeiten ist mittlerweile völlig geläufiges Standardmotiv in der Science-Fiction. Dazu muss man nur mal Richard Morgans fulminanten SF-Detektivroman „Das Unsterblichkeitsprogramm“ ansehen (siehe meinen Bericht). Diese Motive waren aber anno 1987, also drei Jahre nach der Veröffentlichung von Gibsons epochalem „Neuromancer“ noch an der vordersten Front der SF-Ideen.

3) Michael Kallenberger: Weißes Chaos (White Chaos)

Der Journalist Alan Endridge hat die Aufgabe angenommen, die Biografie des großen Mathematikers Abraham Soleirac zu verfassen. Alan steht der Aufgabe zwiespältig gegenüber. Einerseits hat Soleirac innerhalb der angestaubten Chaostheorie aufregende neue Gleichungen aufgestellt. Andererseits hat er prophezeit, dass sich der Große Rote Fleck des Planeten Jupiter binnen 20 Jahren auflösen werde. Das findet Alan absurd. Und in seinen Interviews mit dem Forscher entzieht sich dieser stets irgendwelcher Festlegung.

Wie auch immer: Alan befindet sich mit seiner Frau Jean, die bei Soleirac Physik studiert, an Bord einer Raumstation, die den Jupiter umkreist. Von hier aus lässt sich Soleirac an einem Stahlseil in einem Tauchboot in den Großen Roten Fleck hinab. Alan fragte den Forscher, was er damit beweisen wolle. Mehr oder weniger den Einfluss des menschlichen Willens auf die Gleichungen, die den Fleck bestimmen. Auch das hält Alan für zweifelhaft.

180 Tage später lässt sich Soleirac im Tauchboot wieder an Bord holen. Offensichtlich hat der geniale Mathematiker den Verstand verloren. Aber seine Exkursion war nicht umsonst: Der Große Rote Fleck in Jupiter-Atmosphäre hat sich nämlich verändert …

Mein Eindruck

Die Geschichte von Soleirac und seinem Biografen Alan schildert auf feinfühlige, kenntnisreiche und psychologisch interessante Weise die Diskrepanz zwischen dem Tun eines Wissenschaftlers und seiner Wahrnehmung in der Öffentlichkeit. Soleirac wird als neuer Einstein und Hawking gefeiert, und Alan hat nicht wenig dazu beigetragen. Doch der Mensch Soleirac selbst ist enigmatisch, vielleicht als Schutzmechanismus. Seit seinem 31. Lebensjahr, so entdeckt Alan, hat Soleirac nichts mehr geleistet.

Davon abgesehen gibt es noch eine weitere Ebene, die sich generell mit der Bedeutung von Theorien zur Erklärung des Universums beschäftigt. Auf dieser Ebene erhält Soleiracs Exkursion zum Großen Roten Fleck einen Sinn: als Kunstwerk. Und als Ausdruck des Aufeinandertreffens von Wille und Gleichung.

4) James Patrick Kelly: Mr. Boy (OT dito)

Die lange Novelle (ca. 80 Seiten) erzählt von ein paar Jungs in einer Zukunft, in der sich jedermann genmanipulieren lassen kann. Der titelgebende Mr. Boy heißt so, weil er, der als Peter Cage vor 25 Jahren geboren wurden, sich hat verjüngen – stunten – lassen. Jetzt hängt er mit anderen 13-Jährigen rum und himmelt eine neue Schülerin an. Seine Mutter hat sich in eine Kopie der Freiheitsstatue verwandeln lassen. In ihrem riesigen Innern isst Mr Boy und hat sein Zimmer. Ein „Genosse“ bzw. Androide erfüllt ihm alle seine kleinen Wünsche.

Der Genosse gibt ihm das Foto einer Leiche: Ein Manager der Firma Infoline wurde von seiner Frau per Kopfschuss getötet. Peter steht auf Leichen, weil sie so „extrem“ sind, ihm also einen Kick verschaffen – und seine Mutter schocken. Allerdings kriegt er genau wegen dieses Fotos mächtig Ärger mit einer Firma namens DataSafe, die es unbedingt zurückhaben möchte.

Die Spur des Fotos zieht sich durch die Story, aber auch die Geschichte von Peters Liebesgeschichte mit Treemonisha. Als er deren Familie kennenlernt, ist das ein Damaskuserlebnis: Die vierköpfige Familie lebt nackt in einem Gewächshaus. Aber das ist noch gar nichts gegen den Augenblick, als er die Wahrheit über seine Mutter erfährt …

Mein Eindruck

Zunächst wirkt der Text, der nun hin und wieder einen Absatz aufweist, als wäre es anstrengend, ihn zu lesen. Aber schon nach wenigen Seiten wird klar, dass es ganz leicht ist, ihm zu folgen. Okay, man muss hinnehmen, dass die Szene mitten im Absatz wechselt, aber das ist in Ordnung, denn auf diese Weise hält die Geschichte ihr Tempo aufrecht, und dieses Tempo ist enorm hoch. In nur 80 Seiten lernen wir eine ganze Jugendkultur kennen und die Entwicklung eines verjüngten Mr. Boy zu einem erwachsenen Mann.

Denn ein Junge kann nicht ewig ein Kind sein, nur um seiner Mutter den Gefallen zu tun, stets von ihr (und ihrem Geld) abhängig zu sein. Nein, ein Junge lernt auch mal ein Mädel kennen, das selbst ebenso wie ihre Familie ganz anders drauf ist als er. Werte verschieben sich, die Realität wird eine andere.

Zur Krise kommt es auf der Geburtstagsparty eines weiteren Schulmädchens, die sogar bis nach Japan übertragen wird. Antike Dinge wie Schallplatten aus Vinyl sowie ein altes Klavier werden hier der Zerstörung zugeführt, auf dass die Vergangenheit vernichtet werde. Ebenso wie das Stunten geht es also um den Umgang mit Alter. Alter ist relativ, und diese Kultur hat das Altern an sich zum Tabu erklärt. Bis Peter den ganzen Betrug dahinter entdeckt …

Diese Kultur ist natürlich die amerikanische und Peters Mutter ist die Verkörperung Amerikas. Daher die Gestalt der Freiheitsstatue. Doch Miss Liberty erweist sich als das genaue Gegenteil von Freiheit, nämlich als die ultimative Kontrolleurin. Auf diesem Umweg kritisiert der Autor seine Kultur, und an dieser hat sich seit 1990 nur wenig verändert. Allenfalls sind die Kontrollen nach der Verabschiedung des Patriot Act 2002 noch strenger geworden.

5) Bruce Sterling: Manamouki (OT dito)

Der kenianische Stamm der Kikuyu hat auf einer künstlichen Welt namens Kirinyaga ein neues Zuhause gefunden und lebt nun nach den alten Traditionen, die in Kenia auf der Erde schon längst durch die westliche Lebensweise abgelöst worden ist. Dies weiß Koriba, der Medizinmann des Dorfes, der auch den einzigen Computer bedient. So erfährt er, dass zwei Neuankömmlinge eintreffen werden. Sie kommen aus Kenia.

Nkobe und seine Frau Wanda entsteigen der Fähre, die sie von der Raumstation heruntergebracht hat. Eigentliche Nkobe ein reicher Mann, überlegt Koriba und fragt sich, warum er auf einer so primitiven Welt leben will, wo es nicht mal fließend Wasser gibt, geschweige denn Wasserklosetts. Es war Wanda, seine hochgewachsene Frau, die ihn dazu überredet hat, stellt sich heraus. Nun, macht Koriba ihr klar, sie muss lernen, wie ein Manamouki zu leben, wie ein weibliches Besitzstück ihres Mannes. Wanda verspricht, es zu versuchen und nimmt sogar einen anderen Namen an, den einer kürzlich Verstorbenen: Mwange.

Aber mit Mwange kommen auch neue Ideen in das Dorf Koribas, und als Erste protestiert die Erste Frau des Häuptlings. Mwanges Kleider seien viel prächtiger als ihre und würdigten sie herab. Sie ist nicht die Letzte, die sich über Mwange beschweren wird, selbst wenn Koriba noch so häufig mit Mwange redet, um sie dazu zu bringen, die Traditionen der Kikuyu zu befolgen. Doch er scheitert letzten Endes an zwei einfachen Gesetzen: Mwange ist unbeschnitten, das ist gegen das Gesetz, und zunächst duldet sie keine zweite Frau in der Hütte Nkobes. Das beschämt die anderen Frauen.

Als Koriba Nkobe und Mwange, die Manamouki, verabschiedet, hat er eingesehen, dass es zwei verschiedene Dinge sind, ein Kikuyu zu sein und einer sein zu wollen. Mwange, die sich wieder Wanda nennt, sagt ihm, dass dies zwar Utopia sein mag, aber dennoch die Stagnation in Reinkultur ist. Koriba seufzt. Und als hätte er es geahnt, beginnen die verrückten Ideen Wandas bereits Wurzeln zu schlagen – die Plagen haben begonnen.

Mein Eindruck

Diese Erzählung aus Resnicks Episodenroman „Kirinyaga“ erhielt 1991 den angesehenen Hugo Gernsback Award von den amerikanischen Lesern. Der Autor macht in anschaulichen Szenen das grundlegende Problem einer Utopie deutlich: Sie muss entweder eine radikale Abkehr vom Vorhergehenden sein, oder ein Rückfall in eine Reinform, die der Stagnation verpflichtet ist, soll sie sich nicht wieder zu jenem ursprünglichen Stadium entwickeln, das die Utopie ja gerade überwinden will.

Wie schon in seinem Roman „Elfenbein“ (siehe meinen Bericht) belegt Resnick, dass er sich mit den Traditionen der drei kenianischen Stämme Massai, Wakamba und Kikuyu bestens auskennt. Jede Szene ist glaubwürdig und leicht verständlich geschildert. Selbst wenn die Probleme der Klienten lachhaft erscheinen, so sind es die Gründe und Folgen keineswegs. Mwange, die Manamouki, wird als verflucht bezeichnet, denn sie ist kinderlos. Schon bald wird sie als Hexe bezeichnet und muss entweder vom Mundumugu, dem Medizinmann, geheilt oder erschlagen werden. Stets geht es um grundlegende Bedingungen des Lebens, also um Leben und Tod.

6) Megan Lindholm: Silberdame und der Mann um die Vierzig (Silver Lady and the Fortyish Man)

Die Silberdame ist Verkäuferin im Kaufhaus Sears. Die 35-jährige Exschriftstellerin verdient gerade mal vier Dollar die Stunde, und keineswegs Vollzeit. Das ist also zu wenig zum Leben und zu viel zum Sterben. Da fällt ihr ein Mann um die Vierzig auf, der einen Seidenschal kauft, den er gar nicht braucht. Aber er kommt wieder, und nennt sie „Silberdame“. Er hinterlässt ihr zwei Ohranhänger in Form einer eleganten Dame in Silber.

Beim dritten Mal lädt er sie ins mexikanische Restaurant ein, nennt sich Merlin, lässt sie aber sitzen, als er auf die Toilette geht. Immerhin: Sie bekommt drei Teebeutel von ihm, und ein Tee davon, „Verlorene Träume“, entführt sie ins Traumreich. Dort tritt sie als Silberdame auf und er erklärt ihr, dass ein Rivale ihn hinweggezaubert habe. Na, wer’s glaubt. Aber als sie am nächsten Tag die Kristallkugel, in der eingesperrt zu sein er behauptet hatte, durch ein Missgeschick zu Boden wirft, steht er gleich wieder neben ihr. Na, wenn das keine Magie ist!

Sie lässt sich zu ihm fahren, wo sie miteinander auf dem Boden schlafen. Schon wieder verschwindet er spurlos – nur um in ihrem Badezimmer aufzukreuzen. Schon wieder Magie? Sie glaubt nicht daran, aber sie geht gleich noch mal mit ihm ins Bett. Wer weiß, wann er wieder verschwindet …

Am nächsten Tag ist ihre Muse, die sie schmählich im Stich gelassen hatte, zurück und fordert sie neben der Schreibmaschine sitzend ungeduldig zum Schreiben auf. Vielleicht wird’s doch noch was mit der Schriftstellerkarriere.

Mein Eindruck

In der wunderbar witzig erzählten Story um die Frau ca. 35 und den Mann um 40 geht es natürlich um Singles, die es nicht in eine Ehe geschafft haben, aber nicht das Glück oder den Mumm haben, eine lukrative Stellung zu ergattern. Ziemlich gnadenlos beurteilt die Autorin die ein wenig traurige Lebenssituation ihrer Titelheldin, die kaum ihre Rechnungen bezahlen kann, nachdem ihre Muse sie im Stich gelassen hat.

Ist Merlin wirklich DER Obermagier, fragen wir uns. Natürlich nicht. Er behauptet, die Magie sei auch nicht mehr das, was sie mal war. Wie wahr – und dann lässt er die Dame sitzen. Aber vielleicht ist ja doch was dran an seinen Flunkereien. Die Autorin hält diesen Aspekt stets in der Schwebe, denn genau darum geht es ja: Vielleicht sieht die Magie heutzutage ganz anders aus als in den Fantasy- und Ritterepen von anno dunnemals.

Am Schluss hat unsere Lady etwas gewonnen, aber sie kann nicht benennen, was es ist. Ein Glaube, ein Lebensmut? Und wenn man schon von Magie spricht, so ist eine Muse auch nichts anderes als ein magisches Wesen. Und dieses existiert unleugbar. Wie der Text beweist.

7) Peter Frey: Abenddämmerung

Jarosch und seine Tochter Miriam wandern in den Wald, wo sie vor dem Ereignis zu wandern pflegten. Doch seitdem hat sich hier einiges geändert. Während die Vegetation so üppig gedeiht wie eh und jetzt, sind die Nacktschnecken auf Bananengröße angewachsen, die Steinpilze sind widerstandsfähig wie Hartgummi und in einer feuchten Kuhle leuchtet es schwefelgelb …

Mein Eindruck

Welches Ereignis das gewesen sein muss, kann man sich unschwer vorstellen: der Atom-GAU von Tschernobyl aus dem Jahr 1986. Die Wolke des radioaktiven Fallouts zog auch über weite Gebiete der Bundesrepublik hinweg. Die Isotopen reicherten sich in Pilzen und anderen Waldgewächsen an, so dass vor deren Verzehr öffentlich gewarnt wurde. Der Autor extrapoliert lediglich diese Folgen ein wenig und zeigt, welche unheimliche Zukunft auf die kleine Miriam warten könnte.

Die Übersetzung

Die Texte sind durchweg korrekt und gut lesbar übersetzt worden, doch wie so oft tauchen hie und da ulkige Druckfehler auf. So lesen wir auf Seite 7 von einer „Stürmbö“ und auf Seite 17 von einer „Dünnung“ (statt „Dünung“). Auf Seite 219 steht der seltsame, kurze Satz. „Er zielt inne.“ Erst wenn man das Z durch ein H ersetzt, erhält der Satz einen Sinn: „Er hielt inne.“

Unterm Strich

Drei bedeutende Novellen stehen in dieser 38. Auswahl teils herausfordernden, teils erheiternden Texten. Diese drei Novellen sind Effingers „Marîd lässt sich aufrüsten“, das später den Auftakt zu seinem Roman „Das Ende der Schwere“ bildete und einen Abgesang auf den Cyberpunk darstellt. Marîd ist zwar „verdrahtet“, doch er ist kein Rebell, sondern Handlanger eines Mafioso. Wo ist der „Neuromancer“, wenn man ihn braucht?

Der zweite zentrale Text ist für mich Resnicks „Die Manamouki“, das später ein wichtiges Kapitel seines noch unübersetzten Episodenromans „Kirinyaga“ (siehe meinen Bericht dazu) bildete. Hier versucht eine Kenianerin Teil der utopischen Gesellschaft auf Kirinyaga zu werden, aber ihr Ansinnen erweist sich als unmöglich umzusetzen – aber aus unerwarteten Gründen.

In der dritten Novelle entdeckt „Mr. Boy“, dass nicht nur seine Jugendlichkeit eine selbstbetrügerische Lüge ist, sondern dass seine Mutter, das fürsorgliche Monster, gute Gründe gehabt hat, ihn in seiner Jugend zu belassen. Mutter, dass ist Amerika und das eigentliche „Alien“, wie schon Lt. Ellen Ripley auf der „Nostromo“ erkennen musste.

Die Texte von Kim Stanley Robinson und Michael Kallenberger sind in ihrer Nichtlinearität und Komplexität Herausforderungen an den Leser, aber dennoch lohnenswert. Die einzige Fantasy-Story könnte Megan Lindholm alias Robin Hobb beigesteuert haben – falls es darin wirklich um Magie geht. Das muss jeder für sich selbst entscheiden.

Der letzte Text, obligatorischerweise von einem deutschsprachigen Autor/Autorin, warnt vor den Folgen der Super-GAUs in Tschernobyl: Der ach so urdeutsche Wald nimmt inzwischen unheimliche Erscheinungsformen an und wirkt wie von einem anderen Planeten. Die Idee ist zwar bieder, aber ökologisch engagiert – und handwerklich einwandfrei, ohne jedes Pathos ausgeführt.

Kurzum: Dieser Auswahlband lohnt sich für jeden Freund von hochwertiger Phantastik, insbesondere aber für Kenner des Genres. Neueinsteiger könnten mit Robinson und Kalllenberger ein wenig Mühe haben, aber besonders die Resnick-Story entschädigt sie dafür vollauf. Lindholm und Frey bieten hingegen leicht verständliche Kost.

Taschenbuch: 301 Seiten
Originaltitel: Asimov’s Science Fiction Magazine (1989-91)
Aus dem Englischen von diversen Übersetzern
ISBN-13: 978-3453053779

Heyne:http://www.heyne.de

Friedel Wahren als Herausgeber bei |Buchwurm.info|:
[„Tolkiens Erbe – Elfen, Trolle, Drachenkinder“]http://buchwurm.info/book/anzeigen.php?id__book=2893

Manfred Kluge (Hrsg.) – Jupiters Amboss. Magazine of Fantasy and Science Fiction 49

_In den Wolken des Jupiter_

Vom traditionsreichen SF-Magazin „Magazine of Fantasy and Science Fiction“ erscheinen in dieser Auswahl folgende Erzählungen:

1) Die Story von den Menschen und Mutanten auf der Station im Jupiter-Orbit, die den Riesenplaneten beobachten, um rätselhafte Signale aus dem All entziffern zu lernen.

2) Die Story von den Besuchern vom Prokyon, die staunend und fassungslos die Lebensgewohnheiten der Menschen studieren.

3) Die Story von dem Gesandten des Bischofs, der sich zu tief in die Berge vorgewagt hatte, in denen noch andere Götter an der Macht sind.

4) Die Story von dem passionierten Angler und der Flunder, bei der er ein paar Wünsche frei hatte.

5) Die Story vom Großvater, der aus lauter Sturheit weiterlebte, obwohl er schon längst gestorben war.

_Das Magazin_

Das „Magazine of Fantasy and Science Fiction“ besteht seit Herbst 1949, also rund 58 Jahre. Zu seinen Herausgebern gehörten so bekannte Autoren wie Anthony Boucher (1949-58) oder Kristin Kathryn Rusch (ab Juli 1991). Es wurde mehrfach mit den wichtigsten Genrepreisen wie dem HUGO ausgezeichnet. Im Gegensatz zu „Asimov’s Science Fiction“ und „Analog“ legt es in den ausgewählten Kurzgeschichten Wert auf Stil und Idee gleichermaßen, bringt keine Illustrationen und hat auch Mainstream-Autoren wie C. S. Lewis, Kingsley Amis und Gerald Heard angezogen. Statt auf Raumschiffe und Roboter wie die anderen zu setzen, kommen in der Regel nur „normale“ Menschen auf der Erde vor, häufig in humorvoller Darstellung. Das sind aber nur sehr allgemeine Standards, die häufig durchbrochen wurden.

Hier wurden verdichtete Versionen von später berühmten Romanen erstmals veröffentlicht: „Walter M. Millers „Ein Lobgesang auf Leibowitz“ (1955-57), „Starship Troopers von Heinlein (1959), „Der große Süden“ (1952) von Ward Moore und „Rogue Moon / Unternehmen Luna“ von Algus Budrys (1960). Zahlreiche lose verbundene Serien wie etwa Poul Andersons „Zeitpatrouille“ erschienen hier, und die Zahl der hier veröffentlichten, später hoch dekorierten Stories ist Legion. Auch Andreas Eschbachs Debütstory „Die Haarteppichknüpfer“ wurde hier abgedruckt (im Januar 2000), unter dem Titel „The Carpetmaker’s Son“.

Zwischen November 1958 und Februar 1992 erschienen 399 Ausgaben, in denen jeweils Isaac Asimov einen wissenschaftlichen Artikel veröffentlichte. Er wurde von Gregory Benford abglöst. Zwischen 1975 und 1992 war der führende Buchrezensent Algis Budrys, doch auch andere bekannte Namen wie Alfred Bester oder Damon Knight trugen ihren Kritiken bei. Baird Searles rezensierte Filme. Eine lang laufende Serie von Schnurrpfeifereien, sogenannte „shaggy dog stories“, genannt „Feghoots“, wurde 1958 bis 1964 von Reginald Bretnor geliefert, der als Grendel Briarton schrieb.

Seit Mitte der sechziger Jahre ist die Oktoberausgabe einem speziellen Star gewidmet: Eine neue Story dieses Autors wird von Artikeln über ihn und einer Checkliste seiner Werke begleitet – eine besondere Ehre also. Diese widerfuhr Autoren wie Asimov, Sturgeon, Bradbury, Anderson, Blish, Pohl, Leiber, Silverberg, Ellison und vielen weiteren. Aus dieser Reihe entstand 1974 eine Best-of-Anthologie zum 25-jährigen Jubiläum, aber die Best-of-Reihe bestand bereits seit 1952. Die Jubiläumsausgabe zum Dreißigsten erschien 1981 auch bei Heyne.

In Großbritannien erschien die Lokalausgabe von 1953-54 und 1959-64, in Australien gab es eine Auswahl von 1954 bis 1958. Die deutsche Ausgabe von Auswahlbänden erschien ab 1963, herausgegeben von Charlotte Winheller (Heyne SF Nr. 214), in ununterbrochener Reihenfolge bis zum Jahr 2000, als sich bei Heyne alles änderte und alle Story-Anthologie-Reihen eingestellt wurden.

_Die Erzählungen _

_1) Gregory Benford & Gordon Eklund: Jupiters Amboss_

Die Menschen haben von Aliens eine rätselhafte Botschaft erhalten: ein komplexes mit den Abmessungen 29×47 (Primzahlen). Ein Himmelskörper weist auf einen großen Gasplaneten hin. Da der nächste greifbare Gasriese der Planet Jupiter ist, schicken die Menschen eine Expedition aus und errichten in der Umlaufbahn des Riesenplaneten eine Station, den Orb. Von hier aus wollen sie unter der Leitung des Weltraum-Veteranen Bradley die Gegend erkunden. Die Resultate sind gleich null. Doch der Buddha-Anhänger Bradley nimmt es mit Gleichmut.

Nicht so hingegen die genmanipulierte Forscherin Mara. Auch sie kommt von der Erde und wuchs dort bei einer langweiligen Pflegefamilie auf, bevor sie nach New York City ausriss und schließlich mit 26 auf den Orb kam. Ihre Respektlosigkeit erregt viel Anstoß, besonders bei engstirnigen Crewmitgliedern wie Rawlins. Der zweite Mutant, den Rawlins im Visier hat, ist Maras Schicksalsgenosse Corey, ein Gehirn, das in einer Metalltruhe eingesperrt ist. Mara hält Corey für eine Frau, aber da irrt sie sich.

Irgendjemand hat es auf Maras Leben abgesehen. Schon zwei Unfälle, die sie auf Sabotage zurückführt, hat sie mit knapper Not überlebt. Bradley beruhigt sie. Er hat andere Sorgen. Die politische Situation auf der Erde ändert sich zu Ungunsten der Manips, der genmanipulierten. Der Weltkongress erkennt allen manips die Bürgerrechte ab und erklärte sie zu unerwünschten Vogelfreien. Die Reaktion bleibt nicht aus, wie Mara vorausahnt: Die Manips der Erde – es sind weniger als 400 – drohen damit, Tokio in die Luft zu jagen, sollte der Beschluss nicht rückgängig gemacht werden. Bradley muss Mara Hausarrest verpassen, doch Rawlins will mehr: die Liquidierung der „Abscheulichkeiten“.

Das will Bradley verhindern, denn in seinen Augen sind Mara und Corey ihre einzige Hoffnung, die Botschaft der Fremden zu entschlüsseln. Corey hat mal mit Delphinen kommuniziert, also in einem ganz anderen Medium: unter Wasser. Und Mara beherrscht die Mathematik. Zusammen hecken sie den Plan aus, Corey auf eine Exkursion in die Jupiter-Atmosphäre zu schicken. Seine Gondel soll an einem Ballon hängen. Mara soll in einem Beiboot folgen und ihn notfalls bergen.

Während die 300 Mann starke Crew an Bord des Orbs dem Wagnis gespannt folgt, entdeckt Corey in seiner Gondel tatsächlich Aliens in den unteren Schichten der turbulenten Jupiter-Atmosphäre: silbrige Kugeln. Sie nutzen Elektromagnetismus, um akustische Signale zu erzeugen und betören den Besucher mit ihrem elektronischen Gesang. Doch dann wird ihre Annäherung unvermittelt zur Gefahr …

|Mein Eindruck|

Dieser Kurzroman gewann 1975 unter dem Titel „If the Stars Are Gods“ den begehrten NEBULA Award der amerikanischen SF-Autoren und -Kritiker, und 1977 erschien der erfolgreiche Roman dazu (dt. als „Der Bernstein-Mensch“). Dass sich der wissenschaftlich orientierte Benford mit dem Planeten Jupiter bestens auskennt, hatte er 1975 mit dem Jugendbuch „The Jupiter Project“ bewiesen (dt. bei Boje, 1978). Dieses Wissen kommt ihm bei „Jupiters Amboss“ sehr zugute.

Der Schauplatz erinnert an Arthur C. Clarkes klassische Novelle „Begegnung mit Medusa“, aber der Handlungsverlauf ist klassischer Benford. Bradley, der Stationsleiter, muss sich gegen bornierte und fanatisierte Mitarbeiter durchsetzen, um überhaupt einen Fortschritt in seiner Forschung, der Mission, zu erzielen. (Dieses Motiv taucht noch mehrmals bei Benford auf.) Aber er muss auch seine Hand über die beiden „Mutanten“ halten, die eben diesen Durchbruch erzielen könnten.

Und hier wird die Story sehr aktuell. Denn die Genmanipulierten sind ja nichts weiter als eine Zumutung, die das Andersartige an den alten Adam stellt. Uralte Ängste werden wach, Ängste vor genetischer Vermischung und Infektion, vor rassischer Unterlegenheit und vor allem religiös Andersartigen, das „des Teufels“ ist (der Antichrist also?). Diese Angst bedroht auch die heutige globalisierte Gesellschaft, in der Rassen- und Religionskonflikte an der Tagesordnung sind.

Doch Mara ist nicht wie Corey. Das Gehirn im Metallgehäuse ist wesentlich nichtmenschlicher als Mara, und Mara entdeckt auf die harte Tour, wie menschlich sie selbst doch ist – trotz aller Abstoßungsreaktionen der menschlichen Rasse gegen Ihresgleichen. Die beiden Autoren entwickeln das Szenario an Bord des Orbs ebenso behutsam wie die Entdeckungen in der Außenwelt. Keine Sensationshascherei macht die Story unglaubwürdig. Das kann jedoch zu Ungeduld bei jüngeren Lesern führen.

_2) Frederik Pohl: Der Mutterwahn (The Mother Trip)_

Die Erzählung spielt vier Versionen des klassischen Alienbesuchs durch. Sie ist also nicht faktisch orientiert, sondern spekulativ. – Also, mal angenommen, ein Mutterschiff vom Prokyon erreicht den erdnahen Raum und sucht Lebensraum. Denn an Bord hat das Mutterwesen – daher der Name „Mutterschiff“ – Mawkri ein ganzes Gelege von mehreren hundert Jungen. Der Job des Männchens Moolkri ist es nun, den potentiellen Lebensraum auf seine Eignung hin auszukundschaften.

In der ersten Version geht alles schief, denn die menschlichen Bewohner dieser Welt sind einfach viel zu paranoid, um Single-Männer allein auf den Straßen zu dulden. Der Planet wird vernichtet. In Version zwei befielt man den menschen, sich zu unterwerfen. Diese reragieren damit, dass sie das Mutterschiff abschießen. So weit so schlecht.

Version drei wirkt am hoffnungsvollsten, denn das Mutterschiff beschließt, erst einmal zu beobachten, was das für Wesen sind. Vielleicht kann man ja mit ihnen Freundschaft schließen und von ihnen lernen. Tatsächlich stößt eine der Beobachtungssonden auf eine 16-köpfige Kommune in den Bergen von Idaho oder Oregon, die ein verlassenes Haus besetzt hat und nun dabei beobachtet werden kann, wie sie nackt in einem See Rituale vollführt. Deren Sinn dem fremden Beobachter natürlich vollständig entgeht. Erste Stimmen werden an Bord laut: „Sie können einfach nicht anders!“ Hat man so was schon gehört? Verständnis für Aliens!

Die vierte Variante sieht vor, dass das Mutterschiff nie abfliegt. Vielmehr ist die Raumfahrt noch gar nicht erfunden. Das ist die deprimierendste Version. Schwamm drüber.

|Mein Eindruck|

Man braucht nur mal die Perspektive umzukehren, und schon werden wir selbst als Aliens sichtbar, die sich in die Lage von Besuchern auf einer fremden Welt versetzt sehen können. Es gibt, wie gesagt, für den Besuchsverlauf drei Varianten, vorausgesetzt, man kann den Planeten überhaupt verlassen. Die drei Varianten sind klassische Verhaltenspsychologie: Furcht und Aggression, Aggression und Vernichtetwerden, oder drittens Beobachten, Hoffen und auf ein anderes Mal warten.

Bei einem Satiriker wie Fred Pohl, einem Urgestein der SF, muss man darauf gefasst sein, dass er die Szenarien nicht ganz ernst meint. Aber er hält uns eindeutig den Spiegel vor, wie es ein Schelm tun darf. Wider Erwarten ist die Story aber nicht sonderlich lustig, sondern schwankt zwischen schwarzem Humor und leichter Ironie.

_3) Ursula K. Le Guin: Das Hügelgrab (The Barrow)_

Der Gesandte des Bischofs von Solariy ist nach Malafrena in die Berge gekommen, um bei herzog Greyga nach dem Rechten zu sehen. Dessen Priester Egius erweist sich zum Entsetzen des Gesandten als Arianer. Ketzerei! Dem entgegnet der Herzog, dass dies noch gar nichts gegen das Heidentum der Barbaren in den Bergen sei, die noch dem Gott Odne huldigen. Man könne noch ihre Hügelgräber am Wegrand sehen, die mit den Opfersteinen für Odne.

Am nächsten Tag hat sich die Stimmung des Herzogs merklich verdüstert, bemerkt der Wanderprediger nun furchtsam. Schon seit zwei schier endlosen Tagen liegt nämlich Galla, des Herzogs 17-jährige Gattin im Kindbett und soll seinen Erben zur Welt bringen. Die Hebammen sind abweisend, genauso kalt und bissig wie die eisige Nacht draußen.

Am Abend hält es der Herzog nicht mehr aus und schnappt sich den Gesandten. Mit drohend erhobenem Schwert zwingt er ihn zu jenem düsteren Hügelgrab an der Straße in die Berge, das Odne geweiht ist. Kaum hat er den Prediger erschlagen, dreht der Wind, die Kälte weicht, und das Kind wird geboren. In den Annalen der Kirche von Solariy aber werden Herzog Freyga und sein Sohn als Kämpfer für den christlichen Glauben gepriesen.

|Mein Eindruck|

Auch diese Erzählung belegt, was für eine fantastisch gute Erzählerin Ursula K. Le Guin ist. (Siehe auch meinen Bericht zu „Die zwölf Striche der Windrose“.) Mit wenigen Szenen erschafft sie eine ganze Kultur und gleich drei Religionsstufen: das sogenannte Heidentum, das orthodoxe Christentum und die ketzerische Variante des Arianismus.

Zudem lässt sie die drei sich auseinanderentwickeln, so dass der heidnische Unterboden des Christentums sichtbar wird: das Blutopfer an die Götter, so dass genau zu Ostern der Winter endet und der Weg für den Frühling frei wird. Die Ironie dabei: Erst muss der Herzog den alten Göttern opfern, bevor er als Kämpfer für den „Weißen Jesus“ hervortreten und gelobt werden kann. Hier kritisiert die Autorin Legendenbildung und Heiligengeschichtsschreibung.

Die Handlung ist in Le Guins Fantasieland Malafrena verlegt, in dem auch ihr gleichnamiger Roman spielt (siehe meinen Bericht). Es liegt irgendwo in Südosteuropa.

_4) Richard Frede: Theorie und Praxis ökonomischer Entwicklung: Der Metallurg und seine Frau_

Horowitz arbeitet als Metallurg in der Nähe von New York und kann sich bloß ein kleines Apartment leisten. Seine Frau Betsy beklagt sich, dass ständig die Klimaanlage ausfalle. Auch ansonsten ist sie stets unzufrieden, vor allem mit seinem geringen Gehalt, von dem sie sich keine Kinder leisten könnten. Sie beneidet die anderen Gattinnen, die in noblen Wohnungen in der Fifth Avenue oder Kalifornien wohnen.

Regelmäßig fährt er mit seinen Kollegen in den Long Island Sund zum Angeln. Diesmal angelt er einen Fisch, der sprechen kann. Der Fisch sagt, er sei ein verzauberter Geschäftsmann und dass er Horowitz einen Gefallen schulde. Kaum hat Horowitz den Fisch vom Haken gelassen und seiner Frau davon erzählt, als sie ihn auffordert, den Gefallen einzufordern. Der Fisch ist einverstanden, ihr ein Apartment in der Innenstadt zu besorgen.

Der Aufstieg von Betsy Horowitz zur Senatorin ist unaufhaltsam, doch als sie auch noch Präsidentin werden will, streikt der Fisch …

|Mein Eindruck|

Unglaublich, dass das traditionsreiche Magazin ein freches Plagiat vom Märchen „Der Fischer un sine Fru“ abdruckt! Offenbar war man 1977 noch nicht mit deutschen Märchen vertraut. Wie auch immer die Folie auch deutlich sein mag, so ist doch die Stoßrichtung deutlich: Der amerikanische Traum vom sozialen Aufstieg, wie ihn die stets unzufriedene Betsy träumt, ist nur hohle Fassade. Horowitz selbst macht’s richtig: Er wünscht sich sein bescheidenes Apartment zurück und lässt sich von der nimmersatten Betsy scheiden, woraufhin er wohl glücklich bis ans Ende seiner Tage lebt.

_5) Robert Bloch: Altersstarsinn (A Case of Stubborns)_

Jethro Tolliver sitzt gerade mit seiner Familie trauernd am Frühstücksstisch, als Opa Tolliver die Treppe herunterkommt und sich an den Tisch setzt. Dabei ist er doch gestern an einem Herzinfarkt gestorben – bei 90 Jahren auch kein Wunder, oder? Während allen der Appetit vergeht, wagt nur Klein Susie, die Wahrheit auszusprechen. Doch Opa Tolliver widerspricht sofort vehement und sturköpfig wie immer. Er stammt aus Missouri und will jetzt auch hier in Tennessee erst einmal einen Beweis dafür haben, dass er angeblich tot ist.

Den Leichenbestatteter Bixbee können sie noch wegschicken, aber Doc Snodgrass muss sich selbst per Inaugenscheinnahme vom lebendigen Zustand jenes Mannes überzeugen, von dem er schon den Totenschein ausgestellt hat. Da, alles schwarz auf weiß! Opa Tolliver tut das alles mit einer anzüglichen Bemerkung auf die häufige Trunkenheit des Mediziners ab.

Auch Reverend Peabody, den Ma geholt hat, ergeht es nicht besser. Er zieht erschüttert mit einer ganzen Flasche besten Tennessee-Whiskys ab. Was sollen sie nur tun, jammert Ma und Jody kann’s nicht mehr mit ansehen. Es ist höchste Zeit, was zu unternehmen, denn Opa beginnt schon zu stinken und wird von Schmeißfliegen umschwirrt. Jody ringt Ma und Dad die Erlaubnis ab, die Waldhexe zu besuchen. Er nimmt sein Sparschwein aus dessen Versteck mit, denn wer etwas von einer Hexe will, der muss ihr auch was geben. Das weiß doch jeder.

Die alte Frau lebt in einer Felshöhle am Grunde der Geisterschlucht. Sie hat sogar eine sprechende Eule, die Jody unheimlich anspricht. Das Gesicht der Hexe ist schwarz wie die Nacht. Nach einer Weile hat Jody ihr sein Anliegen erklärt und ihr sein Erspartes überreicht. Immerhin 87 Cent und eine Wahlkampfplakette von Präsident Coolidge.

Die Hexe überlegt eine Weile, bevor ihr die rettende Idee kommt. Sie gibt Jody das richtige Ding mit und erklärt ihm, wie er es anzuwenden hat. Der Junge rast los, denn die Nacht bricht herein. Was hat er nur bei sich, das Opa Tolliver endlich vom Totsein überzeugen kann?

|Mein Eindruck|

Ha, und ich werde den Teufel tun und es hier hinausposaunen! Auf jeden Fall erzielt dieses Ding den gewünschten Zweck. Im allerletzten Satz las ich dann die Pointe – und es schüttelte mich vor Ekel und Schauder. Gleichzeitig musste ich über meine eigene Reaktion lachen und über das Können des bekannten Autors von „Psycho“ und anderen Klassikern der Schauerliteratur.

Robert Bloch war ein Zeitgenosse von H. P. Lovecraft, der dem jungen Star-Autor seines Zirkels wertvolle Tipps auf den Weg gab (HPL war, neben Tolkien, einer der fleißigsten Briefschreiber des 20. Jahrhunderts.) Bloch erlebte demzufolge noch den Schauplatz seiner Geschichte in Aktion und Technicolor.

Die Tollivers leben in den Südstaaten auf einer Farm, die noch Schweine und Kühe besitzt. Wenigstens gibt es schon Autos, denn Präsident Coolidge hat bereits sein Amt angetreten. Calvin Coolidge war laut Wikipedia von 1923 bis 1929 der 30. Präsident der Vereinigten Staaten, also der Vorgänger von Herbert Hoover (1930-33) und Franklin Delano Roosevelt (1933-45). Deshalb fahren der Arzt und der Leichenbestatter per Motorvehikel vor.

Der Ton der Story lässt sich nicht anders als hemdsärmelig beschreiben. Hier war ein Yankee am Werk, kein gottesfürchtiger Ire oder Italiener (jener Zeit), und das heißt, dass die Fakten respektlos auf den Tisch geknallt werden. Die einsetzende Leichenstarre wird noch als „Rigger Mortis“ verunglimpft, und dass man als ultimatives Mittel zu einer schwarzhäutigen (Achtung: Rassentrennung!) Hexe in den Wald gehen muss, ist auch in nördlichen Bereiten, etwa in Stephen Kings Maine oder in HPLs Rhode Island, nicht ganz unbekannt.

Jedenfalls hat mir diese Geschichte einen gruseligen Spaß beschert. Und wem sich bei der Lektüre die Fußnägel aufrollen, ist selber schuld.

_Die Übersetzung_

Ich fand zwei Unregelmäßigkeiten, was doch recht wenig ist. Auf Seite 124 versteckt sich ein Druckfehler in dem Satz: „Neben der Straße ragte ein Buckel auf, kaum mannshoch, in der Form eines Grabens.“ Nun ist ein Graben per definitionem eine Vertiefung statt einer Erhöhung, kann also nicht mannshoch sein. Richtig sollte es also heißen: „in der Form eines Grabes“ oder „eines Grabhügels“.

Die zweite Unregelmäßigkeit ist ein ganzer Absatz, der so durcheinander konstruiert wurde, dass er kaum einen Sinn ergibt. Der Satz stammt aus der Fred-Pohl-Story.

„Deshalb überrascht es sie ungemein, als alle sechs Nationen, die über ein Arsenal von Atomraketen verfügen, endlich zu einem gemeinsamen Ziel vereinigt, nachdem sie bei einer Beratung mittels ihrer geheimen Direktleitungen einen Zeitpunkt festgesetzt haben, gleichzeitig den Beschuss auf das in der Kreisbahn befindliche Raumschiff Mooklris, Mawkris und des Geleges eröffnen.“

Häh??! Dunkel ist der Sinn. Wohl dem, der ihn findet. Hätte der Übersetzer zwei Sätze draus gemacht, wäre wohl klar geworden, dass sich die Nationen erst einigten und dann die Raketen abfeuerten.

_Unterm Strich_

Eine Novelle wie „Jupiters Amboss“, die zwei Drittel eines Buches einnimmt, ist natürlich dessen Haupt- und Prunkstück. Obwohl ich ihr nur vier von fünf Punkten geben würde, lohnt es sich doch, in dieses Szenario zu versetzen. Noch lieber würde ich den Roman dazu lesen.

Danben verblassen die anderen Storys ziemlich, und nur die Erzählungen von Ursula Le Guin und Robert Bloch wissen daneben zu bestehen. Die Le Guin ist sowieso überragend in fast allem, was sie veröffentlicht hat, und hier entführt sie den Leser in jene Übergangszeit vom Heidentum zum Christentum.

Den Vogel schießt hingegen Robert Blochs makaber-spaßige Schauergeschichte um den Opa ab, der nicht zugeben wollte, dass er schon gestorben war. Nur die List einer Waldhexe kann ihn davon überzeugen, dass es wirklich an der Zeit sei, sich hinzulegen und den geist aufzugeben. Die Pointe ist schlichtweg unbezahlbar.

Taschenbuch: 157 Seiten
Erstveröffentlichung im Original: 1976/77
Aus dem Englischen von diversen Übersetzern
ISBN-13: 978-3453304826
www.heyne.de

John Scalzi – Der wilde Planet

Ein abseits gelegener Planet wird von einem Großkonzern ausgebeutet; als unvermittelt intelligente Ureinwohner auftauchen, versucht die Gesellschaft die Wesen heimlich auszurotten. Einige Menschen stellen sich an die Seite der „Fuzzys“ und beginnen einen Freiheitskampf … – Der Reboot eines klassischen SF-Romans erzählt die Geschichte nicht neu, sondern nach und peppt sie dabei zeitgemäß auf; das Ergebnis ist ein überflüssiges Buch, das sich sehr flüssig liest.
John Scalzi – Der wilde Planet weiterlesen

Wolfgang Jeschke, Robert Silverberg (Hrsg.) – Titan-15

_Gebt dem Poeten eine Marsprinzessin!_

In der vorliegenden ersten Ausgabe des Auswahlbandes Nr. 15 von „Titan“, der deutschen Ausgabe von „Science Fiction Hall of Fame“, sind viele amerikanische Kurzgeschichten gesammelt, von bekannten und weniger bekannten Autoren.

Die Kriterien der deutschen Bände waren nicht Novität um jeden Preis, sondern vielmehr Qualität und bibliophile Rarität, denn TITAN sollte in der Heyne-Reihe „Science Fiction Classics“ erscheinen. Folglich konnten Erzählungen enthalten sein, die schon einmal in Deutschland woanders erschienen waren, aber zumeist nicht mehr greifbar waren. TITAN sollte nach dem Willen des deutschen Herausgebers Wolfgang Jeschke ausschließlich Erzählungen in ungekürzter Fassung und sorgfältiger Neuübersetzung enthalten. Mithin war TITAN von vornherein etwas für Sammler und Kenner, aber auch für alle, die Spaß an einer gut erzählten phantastischen Geschichte haben.

_Die Herausgeber _

1) Wolfgang Jeschke, geboren 1936 in Tetschen, Tschechei, wuchs in Asperg bei Ludwigsburg auf und studierte Anglistik, Germanistik sowie Philosophie in München. Nach Verlagsredaktionsjobs wurde er 1969-1971 Herausgeber der Reihe „Science Fiction für Kenner“ im Lichtenberg Verlag, ab 1973 Mitherausgeber und ab 1977 alleiniger Herausgeber der bis 2001 einflussreichsten deutschen Sciencefiction-Reihe Deutschlands beim Heyne Verlag, München. Von 1977 bis 2001/02 gab er regelmäßig Anthologien – insgesamt über 400 – heraus, darunter die Einzigen mit gesamteuropäischen Autoren.

Seit 1955 veröffentlicht er eigene Arbeiten, die in ganz Europa übersetzt und z.T. für den Rundfunk bearbeitet wurden. Er schrieb mehrere Hörspiele, darunter „Sibyllen im Herkules oder Instant Biester“ (1986). Seine erster Roman ist „Der letzte Tag der Schöpfung“ (1981) befasst sich wie viele seiner Erzählungen mit Zeitreise und der Möglichkeit eines alternativen Geschichtsverlaufs. Sehr empfehlenswert ist auch die Novelle „Osiris Land“ (1982 und 1986). Eine seiner Storysammlungen trägt den Titel „Schlechte Nachrichten aus dem Vatikan“.

2) Robert Silverberg

Robert Silverberg, geboren 1936 in New York City, ist einer der Großmeister unter den SF-Autoren, eine lebende Legende. Er ist seit 50 Jahren als Schriftsteller und Antholgist tätig. Seine erste Erfolgsphase hatte er in den 1950er Jahren, als er 1956 und 1957 nicht weniger als 78 Magazinveröffentlichungen verbuchen konnte. Bis 1988 brachte er es auf mindestens 200 Kurzgeschichten und Novellen, die auch unter den Pseudonymen Calvin M. Knox und Ivar Jorgenson erschienen.

An Romanen konnte er zunächst nur anspruchslose Themen verkaufen, und Silverberg zog sich Anfang der 60er Jahre von der SF zurück, um populärwissenschaftliche Sachbücher zu schreiben: über 63 Titel. Wie ein Blick auf seine „Quasi-offizielle Webseite“ www.majipoor.com enthüllt, schrieb Silverberg in dieser Zeit jede Menge erotische Schundromane.

1967 kehrte er mit eigenen Ideen zur SF zurück. „Thorns“, „Hawksbill Station“, „The Masks of Time“ und „The Man in the Maze“ sowie „Tower of Glass“ zeichnen sich durch psychologisch glaubwürdige Figuren und einen aktuellen Plot aus, der oftmals Symbolcharakter hat. „Zeit der Wandlungen“ (1971) und „Es stirbt in mir“ (1972) sind sehr ambitionierte Romane, die engagierte Kritik üben.

1980 wandte sich Silverberg in seiner dritten Schaffensphase dem planetaren Abenteuer zu: „Lord Valentine’s Castle“ (Krieg der Träume) war der Auftakt zu einer weitgespannten Saga, in der der Autor noch Anfang des 21. Jahrhunderts Romane schrieb, z. B. „Lord Prestimion“.

Am liebsten sind mir jedoch seine epischen Romane, die er über Gilgamesch (Gilgamesh the King & Gilgamesh in the Outback) und die Zigeuner („Star of Gypsies“) schrieb, auch „Tom O’Bedlam“ war witzig. „Über den Wassern“ war nicht ganz der Hit. „Die Jahre der Aliens“ wird von Silverbergs Kollegen als einer seiner besten SF-Romane angesehen. Manche seiner Romane wie etwa „Kingdoms of the Wall“ sind noch gar nicht auf Deutsch erschienen.

Als Anthologist hat sich Silverberg mit „Legends“ (1998) und „Legends 2“ einen Namen gemacht, der in der Fantasy einen guten Klang hat. Hochkarätige Fantasyautoren und -autorinnen schrieben exklusiv für ihn eine Story oder Novelle, und das Ergebnis kann sich durchaus sehen lassen. Der deutsche Titel von „Legends“ lautet „Der 7. Schrein“.

_Die Erzählungen_

_1) Judith Merril: „Nur eine Mutter“ („That Only a Mother“, 1948)_

Das Jahr 1953 ist ein Kriegsjahr, und Maggies Mann Hank tut als Soldat in irgendeinem Bunker Dienst. Daher bringt sie ihr Baby ohne ihn zur Welt. Kurz nur hat sie sich Sorgen wegen der Radioaktivität der Gegend gemacht, die sie und Hank vor ein paar Monaten durchfuhren, aber es wird schon schiefgehen. Und Henrietta, ihre Tochter, ist wirklich perfekt.

Dass Henrietta mit zehn Monaten schon vollständige Sätze wie eine Vierjährige bilden kann, findet Maggie entzückend, denn so ist sie nicht mehr so allein. Und die Kleine singt wie ein Engel. Endlich, nach 18 Monaten Abwesenheit, kommt auch Hank nach Hause, fast schon ein Fremder. Die sprechende Tochter versetzt auch ihn in gute Laune, doch schaut er sich ihren Körper etwas genauer an …

|Mein Eindruck|

Die kurze Erzählung lässt den Leser geschockt zurück. Nicht nur, weil das Baby weder Arme noch Beine hat, sondern auch weil seine Mutter dies für völlig normal hält – oder in einer Art wahnsinniger Verdrängung ausgeblendet hat. Sowohl die Mutation als auch der Wahnsinn sind eine Folge des Atomkriegs – und diese Story ist eine der eindringlichsten und meistabgedruckten zu diesem Thema, insbesondere deshalb, weil sie als eine wenigen die weibliche Perspektive berücksichtigt.

_2) Cordwainer Smith: „Checker sind passé“ („Scanners Live in Vain“, 1948)_

In ferner Zukunft beherrschen die Lords der sogenannten „Instrumentalität“ die Erde. Die Menschen leben zumeist in geschützten Städten, mit Ausnahme der „Heillosen“, die in der Wildnis den Bestien ausgesetzt sind. Die hochentwickelte Technologie der Lords hat Raumschiffe erschaffen, die die verschiedenen Erden miteinander verbinden. Doch um die Raumschiffe gefahrlos betreiben zu können, mussten zwei neue Gattungen der Spezies Mensch geschaffen werden: die nichtintelligenten Habermänner und die intelligenten Checker.

Ein Phänomen, das „Die große Pein des Weltraums“ genannt wird, lässt Normalsterbliche während des Raumflugs sterben: Ihr Körper verkraftet die Pein nicht, die entweder radioaktive Strahlung oder Kälte oder beides sein könnte. Mit Hilfe des Habermann-Apparats werden Menschen, die sich dazu bereiterklärt haben, ihrer Organe und Haut entkleidet und diese durch künstliche Apparate und Stoffe ersetzt. Das Ergebnis dieser Umwandlung sind zunächst die Habermänner; sie steuern die Schiffe durch die große Pein, denn ihre Nerven sind tot: Sie hören, sehen, tasten usw. nur durch Apparate.

Die Checker (oder, laut der Suhrkamp-Übersetzung, Seher) sind eine Weiterentwicklung der Habermänner, denn sie verfügen erstens über die Fähigkeit, einander und Menschen von den Lippen ablesen zu können und sich in ihrer geheimen Bruderschaft mit Zeichen zu verständigen. Es gibt nicht mehr als sechs Dutzend von ihren. Außerdem steht ihnen die Methode des Cranchierens zur Verfügung, um ihre Beschränkungen zu überwinden und menschliche Gefühle zu empfinden: Sie können selbst sprechen. Leider hält dieser Sonderzustand nie länger als ein paar Stunden oder Tage an.

Martel ist Sehr Nr. 34 und als einziger der Checker verheiratet; es ist ihm gelungen, Luci in einem gecranchten Zustand der andauernden Überlastung zu freien und zur Frau zu gewinnen. Luci liebt ihn wirklich, obwohl sie oftmals monatelang auf seine Rückkehr von einem Raumflug ins Auf-und-Hinaus warten muss. Seine engsten Freunde sind Taschang und Parizianski.

Martel hat gerade gecrancht, als ihn ein Notruf der höchsten Dringlichkeit vom Obersten Seher Vomact erreicht: Er soll in gecranchtem Zustand an einem Geheimtreffen der Checker teilnehmen. Rund 40 erstaunte Checker erfahren von Vomact, dass es einem gewissen Adam Stone, einem Menschen, gelungen sei, die „Große Pein“ auf einem Raumflug zu überwinden. Das bedeute, dass fortan Habermänner und Checker passé seien. Sofort wird der Tod dieses Mannes gefordert. Vomact lässt darüber abstimmen.

Martel ist darüber nicht nur empört, sondern auch besorgt. Was die Checker vorhaben, sei Mord, ruft er – doch keiner hört ihn. Doch was noch schlimmer sei: Die Eigenmächtigkeit der Checker greift in das rechtliche Territorium der Lords der Instrumentalität ein, und das werden diese nicht hinnehmen. Die Folge des Mordes könnte die Auflösung des Ordens der Checker sein – und sogar ihre komplette Eliminierung, als wären sie nichts weiter als dumme Habermänner!

Nur Tschang stimmt nicht für den Tod, während Martel durch Vomact für disqualifiziert erklärt wird – er sei ja gecrancht und somit unzurechnungsfähig und dienstunfähig. Parizianski wird zum Henker bestimmt und losgeschickt. Sobald man Martel wieder losgelassen hat und er mit Tschang hat sprechen können (der jede Hilfe verweigert), eilt Martel in die befestigte Stadt, um Adam Stones Leben zu retten. Wird er noch rechtzeitig am zentralen Raumhafen eintreffen, um das Verbrechen zu verhindern, das über das Schicksal von Welten entscheidet?

|Mein Eindruck|

Das Universum der Instrumentalität, das Cordwainer Smith erschuf, hat nicht Seinesgleichen, und deshalb erfordert es erst einmal ein wenig Mühe, sich hineinzufinden. Wir sind heute allerdings daran gewöhnt, in Begriffen wie Robotern, Androiden oder Replikanten zu denken, weil Philip K. Dick und Isaac Asimov diese Bereiche erschlossen haben. Deshalb ist eine Umstellung nötig, um uns „Habermänner“ als Roboter und „Checker“ als Androiden vorzustellen. Selbst wenn dies sehr ungenaue Übereinstimmungen sind, können sie doch als Einstieg in die Vorstellungswelt dienen.

Eine ganze Weile war mir allerdings der Unterschied zwischen Habermännern und Checkern nicht klar, bis nach etlichen Seiten eben diese Unterschiede aufgelistet wurde – natürlich nicht fein säuberlich als Checkliste, sondern mitten im Erzähltext. Und ich hoffe, ich habe alles richtig verstanden. Auch der Begriff der „Großen Pein“ ist schwammig und nur durch Vermutung zu erschließen. Merkwürdig, dass eine so fortschrittliche Technik wie die des überlichtschnellen Raumflugs (sonst würden die Flüge Jahrzehnte oder Jahrhunderte dauern!) nicht in der Lage ist, solchen Phänomenen auf den Grund zu gehen.

Mitten in der Versammlung der Checker hatte ich den Eindruck, dass es eigentlich keine Handlung im üblichen Sinne gibt. Doch das stellte sich zum Glück als Irrtum heraus, denn der unabdingbare Konflikt, der eine Handlung antreibt, entsteht im Verlauf dieser Versammlung, bis sich am Schluss Martel zum Verrat entschließt. Das Finale ist geprägt von Erkenntnis und Konfrontation, wie es sich gehört. Dadurch gerät die ungewöhnliche SF-Story – der Autor bot sie den führenden Magazinen seiner Zeit vergeblich an – doch noch in ein zufriedenstellendes Fahrwasser.

Hinweis: „Checker sind passé“ ist Teil 2 des Story-Zyklus „Sternenträumer“, der bei Suhrkamp als Taschenbuch komplett vorliegt. Bei Suhrkamp heißt die Geschichte „Seher leben vergeblich“ und ist sehr stilvoll und fehlerfrei übersetzt. Davon kann in der Heyne-Fassung keine Rede sein. Deshalb empfehle ich dringend die Suhrkamp-Version.

_3) Fritz Leiber: „Maskenball“ („Coming Attraction“, 1950)_

Ein Engländer ist auf Mission in einem postnuklearen New York, das seit der Atombombenexplosion nur noch „Inferno“ genannt wird. Trotzdem leben noch Menschen dort. (Damals hielt man Radioaktivität für nicht so zerstörerisch.) Unser Mann hat die Geistesgegenwart, eine junge Frau vor den Autorowdys der Stadt retten zu können. Sie bittet ihn zu einem Stelldichein. Dort stellt sich heraus, dass sie einen Pass will, um das Land zu verlassen. Ihr Freund jedoch, ein Ringer, weiß dies zu vereiteln. Enttäuscht verlässt der Brite die Stätte dieser Offenbarung und denkt an die Rückkehr in die Heimat. Obwohl es dort auch nicht viel besser zugeht.

|Mein Eindruck|

In einer kurzen Erzählung gelingt es dem Autor, eine ganze Welt erstehen zu lassen. Das nukleare Wettrüsten hat nicht nur zu Raketenbasen der Amis und Sowjets auf dem Mond geführt, sondern auch zu vereinzelten Atomexplosionen auf der Erde, so etwa in New York. Banden treiben ihr Unwesen, und junge Frauen ringen zum Vergnügen der Zuschauer mit schwachen Männern. Amerikanische Frauen (nicht britische) tragen neuerdings Masken, nicht etwa wie im Islam, sondern um sich vor männlicher Zudringlichkeit zu schützen. Was sie aber nicht daran hindert, ihre anderen Reize zur Schau zu stellen. Rowdys machen sich einen Sport daran, mit Angelhaken bewehrte Autos s dicht an Frauen heranzusteuern, bis die Haken den Rock des Opfers herabreißen – eine seltsame Trophäenjagd.

Literarisch nimmt die Story die Stadt-Abenteuer von Harlan Ellison, Jack Womack und des Cyberpunk vorweg. Was noch zu diesem Low-life fehlt, ist die High-Tech.

_4) Tom Godwin: „Die unerbittlichen Gesetze“ („The cold Equations“, 1954)_

Dies ist eine der bekanntesten und umstrittensten Storys in der klassischen SF überhaupt. Eine blinde Passagierin muss über Bord gestoßen werden, weil das winzige Raumschiff, dessen Frachtgewicht und Brennstoffvorrat exakt bemessen sind, sonst nicht an seinem Ziel ankommen würde. Durch ihr Zusatzgewicht würde das Schiff mehr Treibstoff als bemessen verbrauchen. Nicht nur würde dadurch das Schiff mangels Bremskraft auf den Planeten stürzen, sondern auch die Forschungsgruppe, die auf die Fracht angewiesen ist, wäre zum Untergang verdammt: Das rettende Serum würde sie nicht erreichen.

Der Pilot hat die Entscheidung zu fällen, wenn er opfert: Das Schiff, das Serum und die Forscher – oder Marilyn Lee Cross. Ist es das Leben des Mädchens wert, dass so viele Menschen sterben müssen? Die Antwort der phsysikalischen Gesetze lautet nein. Aber er kann etwas für sie und den Bruder, den sie auf dem Planeten besuchen wollte, tun: Sie können per Funk voneinander Abschied nehmen. Es ist ein sehr bewegender Funkkontakt. Danach ist sie gefasst, sieht ihrem Schicksal ins Auge und geht freiwillig in die Luftschleuse …

|Mein Eindruck|

Weil dieser Ausgang der Story viele Leser und Autoren auf die Palme brachte, schrieb ein Autor – mir ist sein Name entfallen – eine alternative Story, in der die Sache gut ausgeht. Warum zum Beispiel hat das NES-Rettungsboot nicht genug Treibstoff an Bord, um zu seinem Kreuzer, dass es ausgesetzt hat, zurückkehren zu können? Warum kann das NES-Boot nicht die Atmosphäre des Planeten nutzen, um abzubremsen? Oder warum macht der Pilot nicht wenigstens ein Foto von Marilyn Lee Cross und entnimmt ihr Erbgut, damit man sie wieder klonen kann? Daran dachte wohl im Jahr 1954 noch niemand.

_5) Roger Zelazny: „Dem Prediger die Rose“ („A Rose for Ecclesiastes“, 1963)_

Eine Expedition ist auf dem Mars gelandet, auf dem eine uralte menschliche Zivilisation entdeckt worden ist. Sie verfügt über eigene Sprache und eigene Dichtung. Das ist der Grund, warum der bekannte Dichter und Semantiker Gallinger, der Ich-Erzähler, hierher gekommen ist. Er will die Hochsprache erlernen und die heilige Dichtung dieses Volkes studieren, in der Hoffnung, ihr Geheimnis zu lüften: Warum gibt es nur noch so wenige Marsianer?

In der alten Festung Tirellian steht ein uralter Tempel, doch bislang durften Menschen nur dessen Vorhalle betreten. Die älteste Mutter der Marsianer gewährt ihm Zutritt zur nächsten Halle, und ihm gehen die Augen über: Kunstschätze, Mosaiken, Schriften! In seinem Eifer erlernt er die Hochsprache binnen drei Wochen und beginnt, die heiligen Schriften zu lesen. So erfährt er von den Göttern der Marsianer, von Malann, Tamur und von Locar. Vor allem von Locar, dem der Tanz so heilig ist, dass es 2224 Variationen davon gibt.

Die Älteste lässt Gallinger bei einer Vorführung zusehen. Eine junge Frau, wie ihm scheint, Braxa, setzt mit ihrem Körper die Bewegungen des Marswindes um, doch sie ist kein Derwisch, erinnert ihn höchstens an indische Tempeltänzerinnen. Aber ihr Tanz ist kein Ritual, sondern purer Ausdruck. Gallinger ist verzaubert. Und hat sich in Braxa unversehens verliebt, sodass er ein Gedicht über sie schreibt.

Eines Nachts kommt sie zu ihm, damit er ihr sein Gedicht vorliest. Daraus wird mehr, denn er zitiert das Lied Salomos, und die beiden schlafen miteinander. Viele Nächte lang – bis Braxa plötzlich nicht mehr zurückkehrt. Gallinger macht sich auf die Suche nach der Verschwundenen, denn er ist besorgt. Braxa hat ihm offenbart, woran die Marsianer leiden: Die Männer sind durch „eine Pest, die nicht tötet“, und die der Regen (!) Locars brachte, unfruchtbar geworden. Doch wie steht es mit den Frauen? Ist Braxa von ihm schwanger, dann muss er sein Kind am Leben erhalten.

Seine Suche passt in das Muster einer uralten Prophezeiung der Marsianer, doch um sie zu erfüllen, darf er sie nicht kennen. Als er Braxa endlich gefunden hat, beschließt er, das Schicksal der Marsianer zu ändern, denn sonst ist sein Kind verloren – und seine Liebe …

|Mein Eindruck|

Der frühe Zelazny aus der Mitte der sechziger Jahre beeindruckt immer wieder durch assoziativen Stil mit zahlreichen Anspielungen. Aber das ist nicht bloßes Bildungsgeprotze und Wortgeklingel, sondern eine zweite Bedeutungsebene unter der vordergründigen Handlungsebene. Warum sonst sollte Gallinger, immerhin ein belesener Dichter, sich als Hamlet fühlen und den Expeditionsleiter Emory als „Claudius“, also als verbrecherischen Stiefvater titulieren?

Auch Anspielungen auf Darstellungen von Hölle und Paradies bei Dante, Vergil und Milton tauchen nicht von ungefähr auf, sondern weil es um die Interpretation der marsianischen Situation geht: Ist der Mars eine Hölle, und wenn ja, wodurch? Und welche Rolle können die Erdlinge dabei spielen? Sind sie Retter oder das Verhängnis für den Roten Planeten?

Aber die Geschichte ist auch eine tragische Lovestory, die süß beginnt und bitter zu werden droht. Damit es nicht zum Äußersten kommt und Gallinger nicht seine Marsprinzessin verliert, muss er etwas ganz Außerordentliches leisten: Er muss die Marsgötter verhöhnen und dem Wüstenplaneten etwas Unerhörtes schenken: eine rote Rose – denn auf dem Mars hat es nie Blumen gegeben.

Ein Faktor fehlt noch: der Prediger. Gallinger war in jungen Jahren auf dem Priesterseminar, denn er sollte die Fußstapfen seines priesterlichen Vaters treten. Stattdessen wurde er zwar Poet, doch er kennt die Bibel immer noch in- und auswendig, so auch das Buch des Predigers Salomo („Ecclesiastes“ in Englisch). Der erklärte alles Sein und Tun des Menschen für eitel Blendwerk und völlig vergebens. Gallinger nun predigt dem Marsvolk das Gegenteil, denn wie sonst kämen die Erdlinge zum Mars und könnten ihm Blumen schenken, Symbole von Leben und Schönheit? Braxa darf nicht sterben – und die Marsianer auch nicht! Wie wird die Entscheidung der ältesten Mütter ausfallen?

|Schwächen|

Natürlich ist dieser Rote Planet nicht der Mars, den wir durchs Fernrohr sehen können. Sonst könnten die Menschen hier gar nicht atmen, es wäre viel zu kalt und die Weltraumstrahlung würde sie krankmachen. Es ist vielmehr der Mars, den wir aus der Literatur kennen, aus den Marsabenteuern von TARZAN-Erfinder Edgar Rice Burroughs und den Storys von Stanley G. Weinbaum oder Robert A. Heinlein. Sogar die obligatorische Marsprinzessin ist vorhanden: Braxa, die Tänzerin des Locar. Seltsam ist allerdings ist, dass der Autor überhaupt nicht auf die große Mars-Schlucht Valles Marineris eingeht und den Riesenvulkan Mons Olympus nicht erwähnt, sondern nur einen kleinen Vetter des 25-Kilometer-Berges.

Das alles tut der Aussage der Geschichte aber offenbar keinen Abbruch, sondern hätten die SF-Freunde sie nicht zur sechstbesten SF-Story aller Jahre vor 1965 gewählt. Und das will angesichts der Klassiker von Asimov, Heinlein, Sturgeon und van Vogt was heißen. Denn ganz nebenbei liefert die Story eine Erklärung für die entvölkerte und wüstenartige Oberfläche des Mars: eine kosmische Katastrophe, die „Pest, die nicht tötet“ …

_Die Übersetzung_

Es ist ja bekannt, dass Taschenbuchübersetzungen auch schon im Jahr 1980 schlecht bezahlt worden sein müssen, aber deswegen kann der Käufer dennoch eine einwandfreie Übersetzung erwarten. Auf Seite 121 wurde aus „Menschen“ die Kurzform „Menchen“, und eine Seite weiter erwartet uns das Wörtchen „Hamben“. Da es nicht erklärt wird und es kein deutschen Wort „Hambe“ gibt, liegt der Verdacht nahe, dass es sich um eine Fehlschreibung handelt. Ersetzt man das H durch ein J, ergibt sich der literarische Fachbegriff „Jamben“, die Merhzahl von „Jambus“, einem Versmaß. Dies passt viel besser zu einem Dichter wie Gallinger.

Bei einem Vergleich der Heyne-Übersetzung von „Checker sind passé“ mit der Suhrkamp-Übersetzung „Seher leben vergeblich“ ergibt sich, dass Suhrkamps Rudolf Hermstein sowohl stilistisch als auch im Wortlaut das Original „Scanners live in vain“ sehr viel genauer und kunstvoller übertragen hat. Hier wird auch das Pathos des Geheimordens der Seher deutlich, dem die Individualerfahrung Martel gegenübergestellt wird. Der Konflikt wird deshalb auch sprachlich sinnfällig gemacht und leuchtet dem Leser ein.

Ich habe zudem festgestellt, dass das Lesen der winzig gedruckten Heyne-Sätze dazu verleitet, über die Sätze zu huschen. Das ist dem Verstehen des Textes sehr abträglich, denn hier zählt wirklich jedes Wort. Dem Freund der SF-Literatur sei also die Suhrkamp-Fassung wärmstens empfohlen, die sich in dem Erzählband „Sternenträumer“ findet.

_Unterm Strich_

Wieder bietet der Band eine Auswahl von Top-Stories. Judith Merrils Story von 1948 ist eine Reaktion auf die Atombombe von Hiroshima, „Checker sind passé“ ausd dem gleichen Jahr ist eine Vision der Ablösung des Menschen durch Roboter und Androiden. Fritz Leiber stellt sich ein radikal verändertes New York City vor, während Tom Godwin wie Cordwainer Smith an der Menschlichkeit der Raumfahrt-Utopien zweifelt.

Diesem Skeptizismus stellt Roger Zelazny ganz klar eine poetisch-hoffnungsvolle Vision in „Dem Prediger die Rose“ entgegen, die für raumfahrende Menschen erstens eine Marsprinzessin bereithält und zweitens das Heil für eine fremde Welt entgegen. Ersetzt man „Mars“ durch „Ausland“, so ergibt sich ein Bild von der Utopie des amerikanischen Friedenskorps, das allen Ländern der Dritten Welt im Auftrag JFKs die helfende, heilende Hand reichen wollte. Der Vietnamkrieg, der just im Jahr 1965 mit den ersten US-Gefechten begann (siehe „Wir waren Helden“ mit Mel Gibson), machte dieser Utopie den Garaus.

Insgesamt sind diese Erzählungen also Texte, die jeder Freund der SF-Literatur als den klassischen Kanon kennen sollte. Speziell die Novelle „Dem Prediger die Rose“ habe ich in keiner anderen Anthologie wiedergefunden – sie liegt nur hier auf Deutsch vor.

Fazit: vier von fünf Sternen wg. Punktabzug für die Übersetzung.

Taschenbuch: 159 Seiten
Originaltitel: Science Fiction Hall of Fame, Bd. 1, 1970; Heyne, 1980, München, Nr. 06/3787
Aus dem US-Englischen von Heinz Nagel|
www.heyne.de

Wolfgang Jeschke, Frederik Pohl (Hrsg.) – Titan-2

Klassische SF-Storys: Die Apotheose von Poopy-Panda

In der vorliegenden ersten Ausgabe des Auswahlbandes Nr. 2 von „Titan“, der deutschen Ausgabe von „Star Science Fiction 3+4“, sind viele amerikanische Kurzgeschichten gesammelt, von bekannten und weniger bekannten Autoren. Diese Auswahlbände gab ursprünglich Frederik Pohl heraus. Er machte den Autoren 1953 zur Bedingung, dass es sich um Erstveröffentlichungen handeln musste. Das heißt, dass diese Storys keine Wiederverwertung darstellten, sondern Originale.

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Licia Troisi – Das Siegel des Todes (Die Schattenkämpferin 2)

Die Schattenkämpferin-Trilogie:

Band 1: „Das Erbe der Drachen“
Band 2: „Das Siegel des Todes“
Band 3: „Der Fluch der Assassinen“

Story:

Nach ihrer Flucht aus dem Verlies der Gilde reisen der Magier Lonerin und die von einem bösartigen Fluch gezeichnete Dubhe über die Grenzen der Aufgetauchten Welt, um den verschollenen und schon für tot erklärten Magier Sennar aufzuspüren. Der Gatte der legendären Drachenkämpferin Nihal soll einerseits dabei unterstützen, die finsteren Pläne des tyrannischen Königs Dohor zu durchkreuzen, andererseits aber auch das Siegel brechen, welches Dubhe von Zeit zu Zeit in eine Bestie verwandelt und sie in einen unkontrollierten Blutrausch treibt. Doch die Reise des ungleichen Duos ist nicht nur von den natürlichen Hindernissen der fremden Welt beeinträchtigt; auch die Ausgesandten der Assassinen sind stets im Nacken der Flüchtigen und wollen Dubhe, ihr Wissen und ihr Geheimnis vor dem Rat schützen. Unter der Führung der kompromisslosen Rekla reist ein ausgewählter Trupp der Meuchelmörder hinter Lonerin und Dubhe – und bringt das Duo immer näher an den Rand des Todes.

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Karl Schroeder – Segel der Zeit (Das Buch von Virga 3)

Virga – eine künstliche Welt im Wega-System, eine Sphäre, geschaffen mit Hilfe unvorstellbarer Technik mit dem Ziel, innerhalb der eigenen Grenzen eben solche Technik zu unterbinden – zum Schutz der eigenen Freiheit vor der „Künstlichen Natur“. Die alles vereinnahmt, umpolt, beschleunigt und gleichschaltet. Den Menschen bevormundet. Das Leben verneint.

Karl Schroeder, junger amerikanischer Autor, der in Deutschland mit seinem phantastischen Ideenreichtum um Virga bekannt wird, setzte im ersten Roman der Reihe „Planet der Sonnen“ eine rasante Entwicklung in Gang, die unbedingt nach weiteren Romanen aus diesem Kosmos verlangte. „Segel der Zeit“ ist nun der dritte Band, in dem der Fokus auf den patriotischen und menschlichen Admiral Chaison Fanning gerichtet ist. Fanning, im ersten Band durch heldenhaften Einsatz Retter seiner Nation Slipstream, wurde von der gegnerischen Partei, der Falkenformation, gefangen genommen und eingekerkert. Dies ist die Geschichte seiner Befreiung, seiner abenteuerlichen Reise mit der geheimnisvollen Heimatschutzagentin durch Feindesland und schließlich seiner Rückkehr nach Slipstream, wo er als Staatsverräter gebrandmarkt gefangen gesetzt wird und erst eine unheimliche Bedrohung für ganz Virga den Auslöser seiner erneuten Befreiung gibt. Dabei werden die Hintergründe der Weltensphäre Virga häppchenweise aufgedeckt und die Gefahr, die von der ausgesperrten Künstlichen Natur ausgeht, anschaulich formuliert.

Die Flucht Fannings hat mehrere erzählerische Gründe. So werden zum einen weitere abenteuerliche Aspekte der künstlichen, auf mittelalterlichem Niveau gestrandeten Zivilisation dargestellt und lassen den Leser teilhaben an Schroeders faszinierendem Ideenreichtum. Es werden politische Auseinandersetzungen thematisiert, in die allzeit Völker involviert werden, die oftmals weder Interesse noch Nutzen daran haben und trotzdem in vielfältiger Weise mit ihrem Leben bezahlen. Virgas Abwehrsysteme und ihre zerbrechliche Sicherheit werden eingeführt und werfen ihre Schatten voraus. Und nebenbei wird Fannings Charakter und Motivation erprobt, gefestigt und weiter entwickelt. Zu guter Letzt läuft natürlich alles auf ein Happy End heraus, zumindest was das Wiedersehen der beiden so unterschiedlichen Fannings (Venera und Chaison) betrifft. An wichtigen Charakteren aus dem ersten Band bleiben hiernach also nur noch Aubry Malhallan und Hayden Griffin. Erste fällt wohl aus, da sie ihr Ende bereits in der ersten Sonne fand, doch Hayden Griffin ist mittlerweile (aus Andeutungen gewonnene Erkenntnis) auf einem guten Weg, seiner Nation Aerie zu neuer Unabhängigkeit zu verhelfen. Hier ist das letzte Wort hoffentlich noch nicht geschrieben.

Das Auftreten der Künstlichen Natur ist relativ kurz und stroboskopisch, sodass sich das undeutliche Bild der Zusammenhänge durch eigene Fantasie des Lesers zusammensetzen muss; umso intensiver ist das Gefühl, das diese Vorstellung hervor ruft. Schroeder schafft hier ordentliches Potenzial zu mehr, denn obwohl er Venera den Schlüssel zu Candesce zerstören lässt, wird es sicherlich noch andere Wege für die Künstliche Natur oder für weitere dumme Menschen wie die Splittergruppe des Heimatschutzes geben. Veneras Tat ist überhaupt erst durch ihre Entwicklung im zweiten Band „Säule der Welten“ glaubwürdig, denn der ursprünglichen Venera hätte die Macht dieses Schlüssels mehr bedeutet als die damit verbundene Gefahr für die Sphäre.

Inzwischen macht die Ausführung und die Auflösung dieses Romans eine Fortsetzung unwahrscheinlich, denn es ist ein Höhepunkt und ein Abschluss erreicht, der an Intensität und Informationsflut genug für den Leser hinterlässt und durch weitere Ausformulierungen wohl nicht besser zu vollenden ist – es sei denn, Schroeder hätte noch bahnbrechende andere Optionen in der Hinterhand. Natürlich ließe sich in diesem Kosmos noch einiges an spannenden Abenteuern erzählen, doch würde das der Geschichte Virgas dienen? Es müsste zu ihrer Auflösung oder Integration durch und in die Künstliche Natur führen, oder der Status quo müsste Bestand behalten – denn anders herum, eine Eroberungswelle der unveränderten Menschen aus Virgas Schutzbereich in die Sphäre der KN, lässt sich nicht logisch entwickeln.

Ich wünsche Schroeder noch viele geniale Einfälle für seine Geschichten, aber mit Virga hat er sich bereits ein Denkmal gesetzt. Es ist auch immer etwas Wehmut im Spiel, wenn so eine gute Geschichte zu Ende geht.

Taschenbuch: 432 Seiten
ISBN-13: 978-3453528055
Originaltitel:
Pirate Sun – The book of Virga 3
Deutsch von Irene Holicki

Der Autor vergibt: (5/5) Ihr vergebt: SchrecklichNa jaGeht soGutSuper (No Ratings Yet)

Kim Harrison – Blutdämon (Rachel Morgan 09)

Rachel Morgan:

Band 1: „Blutspur“
Band 2: „Blutspiel“
Band 3: „Blutjagd“
Band 4: „Blutpakt“
Band 5: „Blutlied“
Band 6: „Blutnacht“
Band 7: „Blutkind“
Band 8: „Bluteid“
Band 9: Blutdämon

Rachel Morgan und kein Ende in Sicht. Mit „Blutdämon“ veröffentlicht Kim Harrison bereits den neunten Band ihrer Serie um die chaotische Erdhexe und auch dieses Mal hat die Autorin nicht mit Seiten gegeizt. Über 700 hat die Geschichte, die Rachel einmal quer durch Amerika führt.

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Meydan, Lena – Clan der Vampire

Lena Meydan – das klingt wie eines dieser Fantasy-Pseudonyme, unter denen amerikanische Autorinnen ihre Vampirromanzen unters lesende Volk bringen. Und tatsächlich ist Lena Meydan – entgegen der Tatsache, dass es eine Webseite mit Kurzbio und Steckbrief gibt – ein Pseudonym, hinter dem sich die drei russischen Schriftsteller Alexey Pehov, Elena Bitschkowa und Natalja Turtschaninowa verbergen. Eigentlich ein unnötiger Schachzug, genießt russische Fantasy hierzulande doch spätestens seit der Wächter-Trilogie einen durchaus guten Ruf. Außerdem heißt es über Lena Meydans Roman „Clan der Vampire“, er sei für den internationalen Markt umgeschrieben worden. Man dachte wohl, sich auf dem internationalen Parkett dem momentan gängigen niedrigen Niveau wenigstens annähern zu müssen. Glücklicherweise ist das nicht gelungen. Denn auch wenn der englische Titel „Twilight Forever Rising“ das Buch mit Gewalt in die Meyer-Ecke drängen will und auch der deutsche Klappentext versucht, das Gewicht auf die Liebesgeschichte zu legen, so handelt es sich bei „Clan der Vampire“ doch keineswegs um eine rührselige Vampirschmonzette. Wer also aufgrund des Marketings die Finger von diesem Roman lässt, verpasst unter Umständen ein gutes Buch.

Tatsächlich hat „Clan der Vampire“ (der russische Originaltitel ist „Kindret“) dafür einiges mit dem Rollenspiel „Vampire – The Masquerade“ zu tun. Diese geistige Verwandtschaft tragen die drei Autoren als Banner offensichtlich auf dem Buchdeckel: „Kindred“ (bzw. deutsch „Clan der Vampire“ – dafür ein Bonuspunkt für die korrekte deutsche Übersetzung) war eine kurzlebige Serie, die auf dem Rollenspiel fußte. Dass Vampire sich in Clans, also bestimmte Familien, unterteilen, die verschiedene Eigenschaften besitzen und sich in menschliche Politik und Wirtschaft einmischen, ist der gedankliche Grundpfeiler des Romans. Protagonist ist Darrel Dachanawar, ein Telepath, der für seinen Clan andere Vampire, aber gern auch menschliche Geschäftspartner aushorcht. Während die Moskauer Vampire – oder Blutsbrüder, wie sie sich selbst nennen – menschliche Emotionen und Handlungsmuster kaum noch nachvollziehen können, hält sich Darrel gern in der Welt der Menschen auf. Dabei begegnet ihm Lorraine, mit der ihn bald eine zarte Romanze verbindet. Doch eine Verbindung zwischen einem Menschenmädchen und einem Vampir kann nicht lange gut gehen. Schon gar nicht, wenn die Balance der verschiedenen Familien ohnehin gestört ist und jeder mit geschickt eingefädelten Intrigen versucht, die Oberhand zu gewinnen.

Doch „Clan der Vampire“ handelt nicht nur von Darrel. Seine Geschichte ist zwar der rote Faden, der sich durch den Roman zieht. Doch daneben erfährt der Leser noch ganz viel über andere Vampirfamilien und deren Oberhäupter. Die Erzählperspektive wechselt häufig. Mal folgt man Miklosch Balsa, dem Oberhaupt der Tschornis, mal Paula, einer Feriartos. Zusammen ergeben all diese Geschichten dann ein großes Mosaik. Das heißt aber auch, dass sich die Handlung nur langsam entschlüsselt. Als Leser muss man Geduld mitbringen. Nicht nur braucht es eine Weile, bis man all die verschiedenen Familien und ihre wichtigsten Figuren auseinanderhalten kann, auch spielen sich viele Handlungsstränge parallel ab und ergeben erst am Ende des Buches Sinn. Wer diese Geduld aufbringt wird allerdings belohnt: „Clan der Vampire“ ist – trotz der abgekupferten Grundidee – ein originelles und vor allem spannendes Buch. Und gerade die zahlreichen Erzählperspektiven stellen sicher, dass jeder Leser einen Charakter findet, der ihn persönlich anspricht.

So gibt es zwar durchaus eine Liebesgeschichte zwischen Darrel und Lorraine, doch diese ist eben nur ein kleines Mosaiksteinchen im großen Ganzen – „Clan der Vampire“ ist keineswegs ein Liebesroman. Mancher Leser interessiert sich vielleicht eher für Miklosch, das schmale, blonde Oberhaupt der Tschornis, der gern komponiert und einen Hygienetick hat, aber gleichzeitig unglaublich brutal sein kann und sich eine ganze Armee von Söldnern hält. Oder vielleicht doch lieber Christoph, der französische Ritter, der in einer Wohnung lebt, die er alle drei Monate komplett umräumt und der Leichen wiederwecken kann. Jede Figur wird mit der gleichen Liebe zum Detail dargestellt – niemand ist einfach nur gut oder böse, einfach nur schwarz oder weiß. Und es ist genau diese differenzierte Darstellung, die „Clan der Vampire“ so lesenswert macht.

Was ein wenig zu kurz kommt – gerade für einen deutschen Leser – ist das Setting. „Clan der Vampire“ spielt in einem fast kontemporären Moskau (die russische Originalausgabe gibt über jedem Kapitel einen Tag im Jahr 2004 an, in der deutschen Ausgabe wurde diese genaue zeitliche Verortung weggelassen). Leider jedoch spielt Moskau als Ort der Handlung kaum eine Rolle und wäre, wenn nicht einige bekannte Gebäude oder Straßen erwähnt würden, sogar vollkommen austauschbar. Stattdessen entführen die Autoren in Clubs und Restaurants, die so hipp und beliebig sind, dass sie sich auch in jeder anderen Großstadt dieser Welt befinden könnten. Das ist ein bisschen schade, würde ein gut beschriebener Handlungsort doch ungemein zur Atmosphäre des Romans beitragen. Vampire in einem finsteren Moskau? Wer kann da widerstehen?

Natürlich muss auch dazu gesagt werden, dass dieser Roman der Auftakt zu einer Tetralogie ist. Deshalb endet „Clan der Vampire“ mit einem ordentlichen Cliffhanger. Das Autorentrio hat sich viel Zeit genommen, eine Romanwelt aufzubauen und zu gestalten. Wie im Schachspiel werden die verschiedenen Figuren platziert und zueinander in verschiedenen Beziehungen gestellt. Im Verlauf des Romans gibt es erste Schachzüge, doch wird sich erst in den Fortsetzungen zeigen, in welche Richtung das Spiel sich entwickelt. Die Familien stehen am Beginn eines Kriegs um die Vorherrschaft. Wer daraus als Sieger hervorgeht, wird sicher erst der vierte Band zeigen. Hoffen wir, dass der deutschsprachige Markt nicht zu lange auf die Fortsetzungen warten muss. Es passiert heutzutage schließlich nicht mehr allzu häufig, dass originelle, düstere und unterhaltsame Vampirliteratur veröffentlicht wird. Ein echter Pageturner!

|Taschenbuch: 560 Seiten
Originaltitel: Kindret, Krownye bratja
ISBN-13: 978-3453266902|
[www.randomhouse.de/heyne]http://www.randomhouse.de/heyne

Curt Siodmak – Donovans Gehirn

Ich ist ein anderer: spannender Bewusstseinskrimi

Als der Banker Donovan in der Nähe von Dr. Patrick Corys medizinischem Forschungslabor abstürzt, ist sein Körper unrettbar zerstört. Doch der Gehirnspezialist kann das unverletzte Gehirn bergen und am Leben erhalten. Es beginnt im Labor weiterzuwachsen und neuartige Fähigkeiten zu entwickeln, bis es seiner Umwelt seinen Willen aufzwingt und sie bedroht …

_Der Autor_

Curt Siodmak, 1902 in Dresden geborener Bruder von Hollywoodregisseur Robert Siodmak, schrieb neben zahlreichen Novellen und Filmdrehbüchern („F.P.1 antwortet nicht“, 1931) einige SF-Romane, die mittlerweile als Klassiker des Genres gelten. Neben „Das dritte Ohr“ (1971) sind vor allem das verfilmte „Donovans Gehirn“ (1941/42) sowie „Hausers Gedächtnis“ (Buch 1968) berühmt geworden, die sich ebenfalls mit Psi-Phänomenen beschäftigen. Alle drei Bücher sind bei Heyne erschienen.

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Algis Budrys – Projekt Luna

Auf dem Mond tötet ein außerirdisches Artefakt seine Erforscher. Es kann nur von einem Mann bezwungen werden, der als Kopie nach jedem grausigen Ende erneut in das Objekt zurückkehrt … – Das Rätsel auf dem Mond ist Vorwand für das Ausloten der Frage nach der Identität des Menschen. Aus heutiger Sicht wirkt „Projekt Luna“ didaktisch, doch faktisch ist der Roman ein wichtiger Vorreiter für die „New-Wave“-SF der 1960er Jahre: sperrig aber interessant und von nachhaltiger Wirkung, zumal dem Verfasser im letzten Drittel gleich mehrfach immer noch schockierende Twists gelingen.
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Sanderson, Brandon – Weg der Könige, Der (Die Sturmlicht-Choniken 1, Teil 1)

Die Sturmlicht-Chroniken:

Band 1: „Der Weg der Könige“
Band 1 (Teil 2): „Der Pfad der Winde“ (08.08.2011)
Band 2: – angekündigt für Ende 2012 / Anfang 2013 –
Band 3: – angekündigt für „ein Jahr nach Band 2“ –

Kaladin ist der Sohn eines Chirurgen und wurde von seinem Vater dazu ausgebildet, ebenfalls Chirurg zu werden. Inzwischen ist er allerdings ein Sklave, der täglich ums Überleben kämpfen muss. Sein Wunsch, anderen Menschen zu helfen, scheint jedoch unverwüstlich zu sein …

Shallan ist eine junge Adlige, deren Familie in ziemlichen Schwierigkeiten steckt. Deshalb will sie unbedingt von Prinzessin Jasnah als Mündel angenommen werden. Diese Position würde sie in die Lage versetzen, einen kniffligen Plan in die Tat umzusetzen. Doch je besser Shallan ihre Mentorin kennen lernt, desto größer werden ihre Skrupel …

Szeth ist eine Waffe. Und diejenigen, die über den Einsatz dieser Waffe entscheiden, haben ihm einen extrem unangenehmen Auftrag erteilt: Töte den König von Alethkar!

Dalinar, der Bruder des Königs, war einst ein viel bewunderter, starker Krieger. In letzter Zeit aber hat er regelmäßig Anfälle und Visionen, die er nicht deuten kann. Dalinar ist überzeugt davon, dass diese Visionen wichtig sind, doch im Heer machen bereits Gerüchte über Schwäche und Wahnsinn die Runde …

„Der Weg der Könige“ ist ein richtig dicker Schinken, und das liegt nicht unbedingt an der Tiefe der Charakterzeichnung. Tatsächlich erfährt man über die Charaktere nicht allzu viel. Kaladin war schon als Junge hin- und hergerissen zwischen Heilen und Kämpfen, denn obwohl er Letzteres gar nicht gelernt hat, beherrscht er es ziemlich perfekt. Seine Überzeugung, auch durch Kämpfen andere Menschen retten zu können, wird allerdings schon bald über den Haufen geworfen. Wer – oder besser, was genau – Kaladin tatsächlich ist, erfährt der Leser jedoch nicht. – Schallan liebt vor allem die Naturwissenschaften, und wäre ihre Familie nicht in Gefahr, würde sie das Studium bei Prinzessin Jasnah in vollen Zügen genießen. Wie genau es aber gekommen ist, dass ausgerechnet sie die Familie retten muss, obwohl sie doch noch eine Menge Brüder hat, ist bisher nicht klar geworden. – Von Szeth erfährt man nur, dass ihm das Töten nicht gefällt. Was dazu geführt hat, dass er eine solche Aufgabe auferlegt bekam, ist nirgendwo erwähnt. – Und auch Dalinar ist zumindest bisher noch auf den inneren Kampf beschränkt, der sich in ihm abspielt, seine Unsicherheit im Hinblick auf seine Visionen und seine Bemühungen, das Reich zusammenzuhalten.

Ich fand es ein wenig schade, dass die Figuren so stark auf einige wenige Punkte ihrer Persönlichkeit beschränkt waren. Bei Dalinar störte es mich noch am wenigsten, Shallan dagegen wirkt schon ein wenig flach, und auch Kaladin darf sich durchaus noch entwickeln.

Ähnliches gilt für den Entwurf der Welt. Es ist eine kahle, abweisende Welt. Regelmäßig toben tödliche Stürme über das Land hinweg, was dazu geführt hat, dass selbst die Vegetation mit Stein gepanzert ist oder sich beim geringsten Anzeichen von Gefahr versteckt. Der Großteil der Handlung spielt auf einer Ebene, die in zahllose Stücke unterschiedlicher Größe zerbrochen ist. Die Spalten zwischen den Stücken sind schroff, tief und werden bei jedem Sturm von tödlichen Wassermassen geflutet. Ein wenig wohnlicher wirkt die Stadt, in der Schallan sich aufhält, allerdings beschränkt die Beschreibung sich hier großteils auf die Bibliothek, in der Shallan ihren Studien nachgeht.
Auch die Darstellung der Magie ist lückenhaft. Sie beruht bisher hauptsächlich auf Sturmlicht, einer Art Energie. Diese Energie wird gewonnen, indem Edelsteine dem Sturm ausgesetzt und dabei sozusagen aufgeladen werden. Diese Energie kann aber nicht nur für Magie, sondern auch für Maschinen benutzt werden. Edelsteine sind deshalb von immenser Bedeutung und werden auch als Zahlungsmittel benutzt. Szeth allerdings scheint die Energie direkt in sich aufzunehmen, wie er das schafft, ist unklar.

Dabei wäre genug Raum gewesen, um diesbezüglich etwas mehr ins Detail zu gehen. Zumindest hätte man die Handlung zugunsten dieser Details problemlos ein wenig kürzen können, denn stellenweise zieht sie sich schon ziemlich. Vor allem der Teil in den Kriegslagern hätte Straffung vertragen. Nicht, dass es uninteressant gewesen wäre, wie Kaladin sein persönliches Tief überwindet und erneut den Kampf ums Überleben auf für seine Leidensgenossen aufnimmt, oder wie die Situation für Dalinar immer schwieriger wird. Was stört, ist die Tatsache, dass sonst nichts geschieht. Ich hätte nicht gedacht, dass ich so was mal sagen würde, aber hier wurde schon ein wenig zu viel Augenmerk auf die Entwicklung von Personen gelegt, vor allem, weil sich diese Entwicklung nur auf einen einzigen Punkt bezog.

Vielleicht hätte Brandon Sanderson diesen Eindruck ein wenig abmildern können, wenn er seine Handlungsstränge etwas mehr gemischt hätte. Statt dessen hat er sich stets über längere Zeit auf höchstens zwei dieser Stränge konzentriert und die anderen währenddessen komplett ruhen lassen. Im Falle von Szetz ist es sogar so, dass er fast nur in den Zwischenspielen vorkommt und kaum als eigener Handlungsstrang bezeichnet werden kann.

Insgesamt blieb ein durchwachsener Eindruck zurück. Es braucht Zeit, bis man sich eingelesen hat, da der Autor von Anfang an ziemlich gnadenlos mit spezifischen Begriffen um sich wirft, deren Bedeutung der Leser sich erst erschließen muss. Die Ideen im Zusammenhang mit der Magie, der Kultur und der Historie der Welt klingen aber sehr vielversprechend, die Figuren sind sympathisch und nachvollziehbar. Ein Plot ist bisher allerdings kaum auszumachen, da die Handlung trotz diverser Kämpfe gegen Feinde und Ungeheuer großteils auf der Stelle tritt. Da es sich um einen Mehrteiler handelt, ist davon auszugehen, dass Figuren, Magie und Historie noch weiter ausgebaut werden, schließlich gibt es eine ganze Menge Fragen zu beantworten, und darauf bin ich ziemlich neugierig. Ich hoffe allerdings, dass sich die Handlung im nächsten Band etwas zügiger entwickelt, als sie es bisher getan hat.

Brandon Sanderson gehört zu denjenigen, die bereits als Kinder phantastische Geschichten schrieben. Sein Debütroman „Elantris“ erschien 2005, seither war er ungemein fleißig. Neben den Sturmlicht-Chroniken schreibt er an seinem Jugendbuchzyklus Alcatraz, der inzwischen bis Band vier gediehen ist sowie an den beiden Serien Warbraker und Dragonsteel. Außerdem hat er das Angebot angenommen, nach Robert Jordans Tod dessen Zyklus Das Rad der Zeit zu Ende zu bringen. Auch dafür sind drei Bände veranschlagt, von denen zwei bereits erschienen sind. In der deutschen Übersetzung wurden die Bände geteilt, zusätzlich zu den beiden, im letzten Jahr erschienen Büchern wurden für Oktober zwei weitere angekündigt. Gleiches gilt auch für die Sturmlicht-Chroniken, denn im englischen Original existiert bisher nur ein Band, trotzdem kommt im August eine Fortsetzung unter dem Titel „Der Pfad der Winde“ in die deutschen Buchläden.

Hardcover: 896 Seiten
Originaltitel: The Way of Kings – The Stormlight Archive 1 (Teil 1)
Aus dem Amerikanischen von Michael Siefener
 Mit zehn Schwarzweiß-Abbildungen
 ISBN: 978-3-453-26717-6
http://www.randomhouse.de/heyne
 http://www.brandonsanderson.com

Der Autor vergibt: (4.0/5) Ihr vergebt: SchrecklichNa jaGeht soGutSuper (3 Stimmen, Durchschnitt: 4,33 von 5)

Grahame-Smith, Seth – Abraham Lincoln – Vampirjäger

„Never judge a book by its cover“, heißt es in einem englischen Sprichwort. Eigentlich soll das bedeuten, dass auch eine unansehnliche Verpackung einen wertvollen Inhalt verbergen kann. Doch dass das Sprichwort auch in die umgekehrte Richtung funktioniert, beweist Seth Grahame-Smith in seinem Roman „Abraham Lincoln – Vampirjäger“. Denn hier sieht die Verpackung ungemein viel versprechend aus. Es ist jedoch der Inhalt, der nicht restlos überzeugen kann.

Seth Grahame-Smith, das ist der mit „Stolz und Vorurteil und Zombies“. Die Idee, einen Klassiker mit Horrorelementen zu versetzen hat sich wohl als gewinnbringend herausgestellt und so widmet er sich in „Abraham Lincoln – Vampirjäger“ ein weiteres Mal diesem literarischen Genre. Das erscheint zunächst so abwegig wie faszinierend und hält man das Buch zum ersten Mal in den Händen, möchte man sich auch sofort in die Lektüre stürzen, denn Autor und Verlag haben sich viel Mühe gegeben, der ganzen Sache einen pseudorealistischen Anstrich zu geben. Da wäre zunächst das Cover, auf dem ein Ganzkörperpotrait Lincolns zu sehen ist. Sicher, die reichlich auffällig verteilten Blutspritzer lassen erahnen, worum es gehen wird – doch die Axt, die Lincoln geradezu subtil hinter dem Rücken versteckt, die ist wohl dem Augenzwinkern des Autors zu verdanken. Auch ein erstes Blättern zeigt Erfreuliches, denn der Roman ist nicht nur eine Textwüste. Er gibt sich den Anstrich einer seriösen Biographie und so finden sich auch zahlreiche Abbildungen darin, die ebenso wie der Text Vampirisches in Lincolns Leben einfließen lassen. Zu guter Letzt wären da noch die Werbeseiten am Ende des Buches, die auf Neuerscheinungen wie „Ich bin Legendär“ (Obama jagt allerlei monströses Ungetier) und „Die neuen Leichen des jungen W.“ (Edgar will das Politbüro der SED abknallen) hinweisen. Einfach herrlich!

Doch was ist nun mit dem Roman selbst? Der dümpelt leider durchgehend im Mittelmäßigen und will nie so recht an Fahrt gewinnen, obwohl die Grundidee ja eigentlich genügend Stoff für ein abstruses und unterhaltsames Handlungsgeschehen liefern sollte. Es geht los im Hier und Heute, als ein mysteriöser Fremder (dessen Identität sich erst im Laufe des Romans enthüllt) dem Autor die geheimen Tagebücher von keinem geringerem als Abraham Lincoln anvertraut mit der Bitte, sie öffentlich zu machen. Die Tagebücher enthalten Erstaunliches! Nicht nur rekapitulieren sie Lincolns Leben mit allen hinlänglich bekannten Fakten. Vielmehr fördern sie zutage, dass Lincoln der wohl größte Vampirjäger seiner Zeit war. Nicht nur das, auch der Bürgerkrieg war eigentlich ein Krieg gegen die vampirische Invasion auf amerikanischem Boden!

Der junge Abe wächst in ärmlichen Verhältnissen auf. Vampire treten erst in sein Leben, als seine Mutter überraschend stirbt – ein Vampir hatte sie mit seinem Blut vergiftet. Fortan schwört er Rache. Er übt sich im Kampf und lernt alles, was über Vampire in Erfahrung zu bringen ist. Doch wirklich erfolgreich ist er erst, als ein (netter) Vampir ihn aufspürt, ihm einige Tricks und Kniffe beibringt und ihn dann über Jahre mit den Namen und Adressen derer versorgt, die Abe ins Jenseits befördern soll. Das könnte ewig so weitergehen, doch bald wird enthüllt, dass die Vampire sich vor allem in den Südstaaten ansiedeln. Durch die Sklaverei steht ihnen ein schier unerschöpflicher Menschenstrom zur Verfügung, ohne dass jemandem auffallen würde, wenn ein paar Sklaven ausgesaugt werden. Und so machen die Vampire und die Sklavenhalter gemeinsame Sache – für beide Seiten ein vorteilhaftes Geschäft. Abe erkennt also, dass die Sklaverei unbedingt unterbunden werden muss, um den „Bluthahn“ der Vampire abzudrehen.

Dieser Gedanke bestimmt ihn fortan und ist der vordringendste Grund für sein Handeln. Letztendlich ist es eben auch dieses Wissen, das den Bürgerkrieg bestimmt. Denn die Vampire (vor langer Zeit aus Europa vertrieben) wollen die USA, eine junge Nation, unterjochen und nach ihrem Gutdünken umgestalten. Das gilt es unbedingt zu unterbinden.

Grahame-Smith liefert ein Paradebeispiel dafür ab, wie eine eigentlich gute Idee im Wust des Durchschnittlichen verkümmert. Nie schafft er es, beim Leser wirkliche Sympathie für Abe hervorzurufen. Sämtliche Charaktere bleiben fremd und beliebig und selbst Abe, dessen Tagebucheinträge oft zitiert werden, bekommt man als Leser nie wirklich zu fassen. Diese Distanz zwischen Roman und Leser schmälert das Lesevergnügen ungemein, denn nie berührt wirklich, was auf den Seiten passiert. Da passiert durchaus einiges – und auch tragisches -, doch macht es Grahame-Smith dem Leser unglaublich schwer, mit den Figuren zu fühlen.

Dies ist zu einem Großteil der absolut nichtssagenden Prosa geschuldet. Literarisch ist „Abraham Lincoln – Vampirjäger“ eine Nullnummer, ein ziemlich uninspiriert heruntergeschriebener Schinken, der offensichtlich nur vorgefertigte Handlungspunkte abarbeiten will, ohne sich großartig für Zwischentöne zu interessieren. Dabei kann sich Grahame-Smith nie richtig für eine Fahrtrichtung entscheiden. Über große Strecken versucht er sich als distanzierter (und objektiver) Biograph, eine Taktik, in der wohl die Ursache für die oben beschrieben Autor-Leser-Distanz zu suchen ist. Dann wieder, als würde der Autor aus einer Trance erwachen, schlüpft er plötzlich in den Kopf eines Charakters und schwenkt um zum personalen Erzähler. Diese Passagen stechen dann jedoch unschön gefühlig aus der restlichen Wüstenlandschaft heraus, wobei nie klar wird, was der Autor nun damit bezwecken wollte oder ob er überhaupt bemerkt hat, dass er die Erzählperspektive gewechselt hat.

Anderen Charakteristika der Biographie ergeht es ähnlich. Grahame-Smith zitiert viel – sehr viel! – aus den fiktiven Tagebüchern Lincolns. Eine typische Seite seines Romans ziert mindestens ein Tagebuchzitat. Manchmal sind es mehr, manchmal sie die Zitate einfach nur länger. Grundsätzlich jedoch liegt der Verdacht nahe, dass sich Zitate und Erzählung im Roman die Waage halten. Da Grahame-Smith als Schriftsteller jedoch keine Leuchte ist, klingen Zitate und Erzählung absolut gleich und so hat man als Leser irgendwann Schwierigkeiten überhaupt noch festzustellen, auf welcher Erzählebene man sich nun eigentlich befindet. Auch hier ist ungeklärt, was das eigentlich soll. In der Rahmenhandlung wird schließlich erläutert, dass das Buch auf der Quelle der fiktiven Tagebücher fußt, kein Grund also, sie alle Nase lang zu zitieren. Das zerstückelt den Lesefluss äußerst unschön, bringt ansonsten aber keinen Mehrwert, da die Zitate die Handlung eben nicht erläutern (wie das sonst bei Zitaten der Fall ist), sondern einfach die Handlung fortführen. Dazu kommen noch die absolut unnötigen Fußnoten, die der „Biographie“ einen wissenschaftlichen Anstrich geben sollen und prompt weiß man nicht mehr, wo man zuerst hinschauen soll: Text? Zitat? Oder doch lieber die Fußnote, die unnötigerweise erklärt, was eine Kartätsche ist.

Der Roman liest sich trotzdem flott weg. Allerdings wird man den Eindruck nicht los, dass es sich bei „Abraham Lincoln – Vampirjäger“ um eine grandiose Idee handelt, die ziemlich dilletantisch ausgeführt wurde. Mal sehen, ob Tim Burton dem Stoff mehr abgewinnen kann. Es heißt, er habe die Filmrechte erworben.

|Taschenbuch: 496 Seiten
Originaltitel: Abraham Lincoln – Vampire Hunter
ISBN-13: 978-3453528321|
[www.heyne.de]http://www.heyne.de

_Seth Grahame-Smith bei |Buchwurm.info|:_
[„Das große Porno-Buch“]http://buchwurm.info/book/anzeigen.php?id__book=3650

Stephen Baxter – Die letzte Arche

Als die Erde in einer globalen Dauerflut ertrinkt, soll ein gigantisches Raumschiff gebaut und ein ferner Planet besiedelt werden … – Was Autor Baxter mit „Flut“ episch begann, setzt er hier ebenso ausführlich fort: Episodisch rafft er die Geschichte von Jahrzehnten und tritt dennoch immer wieder auf der Stelle. Die quasi-dokumentarische Handlung ist gut recherchiert, ereignisreich und spannend, ächzt aber auch unter Klischees und ist weitschweifig: trotzdem sehr nahrhaftes Lesefutter.
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Lynch, Scott – Die Lügen des Locke Lamora (Gentleman Bastards 1)

Locke Lamora:

Band 1: „Die Lügen des Locke Lamora“
Band 2: „Sturm über roten Wassern“
Band 3: „Die Republik der Diebe“ (11.10.2011)
Band 4: „The Thorn of Emberlain“ (noch ohne dt. Titel)
Band 5: „The Ministry of Necessity“ (noch ohne dt. Titel)
Band 6: „The Mage and the Master Spy“ (noch ohne dt. Titel)
Band 7: „Inherit the Night“ (noch ohne dt. Titel)

Locke Lamora ist eine Waise, was auf viele Kinder in der Stadt Camorr zutrifft. Was Locke von seinen Altersgenossen in derselben Situation unterscheidet, ist seine Eigeninitiative. Und so kommt es, dass Locke als eines von fünf Kindern eine ganz und gar ungewöhnliche Ausbildung genießt …

Scott Lynch lässt seine Geschichte langsam angehen. Er erzählt abwechselnd von der Gegenwart und der Vergangenheit und zeichnet so zunächst den Werdegang seines Protagonisten nach:

Der junge Locke Lamora ist schmächtig, mager und nicht besonders ansehnlich. Aber er hat Köpfchen, und er weiß es. Das führt dazu, dass er oft und weit über die Stränge schlägt. Seine Ideen verraten mindestens so viel Witz wie Dreistigkeit und neigen meist dazu, nicht vollständig durchdacht zu sein, was ihm regelmäßig Ärger einhandelt.
Der erwachsene Locke ist immer noch mager, schmächtig, unansehnlich und übermütig. Als Kämpfer ist er miserabel, als Schauspieler dafür brillant. Allerdings betrügt er nicht aus Habgier oder Ehrgeiz, sondern aus purer Lust am Spiel. Und seine Bande ist keine zufällige Ansammlung von Kriminellen, sondern eine verschworene Gemeinschaft von engen Freunden.

Als wahrhaft tiefschürfend kann man die Charakterzeichnung nicht bezeichnen. Von Lockes Gedanken erfährt man kaum etwas, seine Vergangenheit blitzt nur ausschnittweise auf. Trotzdem ist Scott Lynch eine Figur gelungen, die über reine Nachvollziehbarkeit hinausgeht. Sie entwickelt sich zusammen mit dem Plot, weg von geradezu unbeschwertem Übermut hin zu Trauer und verbissenem Zorn, und das sehr glaubwürdig und lebensecht.

Wie die Charakterzeichnung so kommt auch der Plot nur allmählich in die Gänge. Es dauert über hundert Seiten, bis endlich deutlich wird, was Locke mit seiner Scharade in der Gasse neben dem Tempel der Glück verheißenden Wasser bezweckt, und dieses Gaunerstück ist nur ein kleiner Bestandteil des gesamten Buches. Zum Teil liegt die Trägheit darin begründet, dass hier Adlige über den Tisch gezogen werden. Es dauert einfach eine Weile, bis all der Höflichkeiten genüge getan wurde, die unter zivilisierten Leuten üblich sind. Darunter leiden zeitweise auch die Ereignisse Rabennest.

Zum Teil lag es aber auch daran, dass Scott Lynch seiner Welt einiges an Aufmerksamkeit widmet. So wurde die Entwicklung von Lockes neuestem Coup zusätzlich durch eingestreute Beschreibungen adliger Freizeitkultur unterbrochen, durch Volksbelustigung, das Rezept eines besonders harten Drinks und Ähnlichem. Das bremst den Anfang doch ziemlich aus. Andererseits entstand so ein sehr bildhaftes, plastisches, lebhaftes Bild der Stadt, in der Locke lebt. Den Namen Camorr darf man wohl als Anspielung verstehen, auch wenn die Darstellung von Inseln und Kanälen eher an Venedig erinnert als an Neapel. Türme und Brücken aus Elderglas rücken das Ganze wieder etwas mehr in den Bereich der Fantasy, letztlich spielt Magie aber eine eher untergeordnete Rolle. Hier geht es um Gauner, nicht um Zauberer. Insgesamt ist die Bühne des Dramas also keine neue Erfindung, aber sie ist zumindest stimmungsvoll und passend in die Geschichte integriert.

Und die Geschichte hat es – nach Überwindung des etwas zähen Anfangs – durchaus in sich. Tatsächlich tritt der Betrug, der zu Beginn so ausführlich beschrieben wird, bald in den Hintergrund, während eine Bedrohung, die zunächst nur am Rande erwähnt wurde, immer mehr an Bedeutung gewinnt und schließlich die gesamte Handlung bestimmt. Und das ist nicht das einzige, was Lockes Leben plötzlich zunehmend verkompliziert. Denn Locke ist ins Visier einer ganzen Reihe von unangenehmen Leuten geraten.

Mit der Zeit werden die Ereignisse nicht nur immer komplizierter, sie schlagen auch immer wieder Haken. Mehrmals ist es dem Autor gelungen, mich völlig zu überraschen. Dazu trug natürlich Lockes Einfallsreichtum eine Menge bei, vor allem, weil er die meiste Zeit auf Improvisation beruhte. Und während der eine Gegner uns wissen lässt, was er zu unternehmen gedenkt, und dadurch für steigende Spannung sorgt, lässt der andere uns völlig über seine Pläne im Dunkeln bis zu dem Moment, in dem er sie umsetzt, und verpasst uns so immer wieder mal eine kalte Dusche.

Immer größer, immer unberechenbarer werden die Schwierigkeiten, mit denen Locke und seine Bande sich konfrontiert sehen, und jedes Mal, wenn Locke sich mit Müh und Not und Hilfe seiner Freunde aus einer ausweglosen Situation gerettet hat, sieht die Lage noch schlimmer aus. Die Probleme ufern regelrecht aus, die Spannungskurve zieht sich zu.

Also um ehrlich zu sein: Obwohl es ein paar Szenen gab, die für meinen Geschmack eigentlich zu brutal waren, wie die Folter im Schwimmenden Grab, fand ich das Buch klasse. Für den Anfang braucht man ein starkes Interesse für Details von Kultur und Gesellschaft oder einfach nur ein wenig Geduld. Aber dann wird man mit einer spannenden, abwechslungsreichen und wenig vorhersehbaren Handlung belohnt. Locke Lamora ist ein sehr sympathischer Held, der am Anfang zwar durch das kräftige Herauskehren seiner Stärken wie ein unfehlbarer Übermensch wirkt, aber nur zu bald so auf die Nase fällt, dass dieser Eindruck schnell schwindet. Was ich aber vor allem gut fand, war, dass die Handlung als solche abgeschlossen ist, ohne lose Enden oder offene Fragen zu hinterlassen. Ich war ziemlich zufrieden, als ich das Buch zuklappte, und trotzdem neugierig auf die Fortsetzung, die nun frei ist, eine völlig neue Geschichte aufzubauen.

Scott Lynchs beruflichen Werdegang, bevor er seinen ersten Roman veröffentlichte, könnte man salopp mit über-Wasser-halten umschreiben, als Tellerwäscher, Kellner und dergleichen. Inzwischen sind die Abenteuer von Locke Lamora bis Band drei gediehen, der im Februar auf Englisch erschien und im Oktober unter dem Titel „Die Republik der Diebe“ auf Deutsch erscheinen wird.

Taschenbuch 845 Seiten
Originaltitel: The Lies of Locke Lamora
Ins Deutsche übertragen von Ingrid Herrmann-Nytko
ISBN-13: 978-3453530911

http://www.scottlynch.us/
http://www.lockelamora.co.uk/
http://www.heyne.de

Der Autor vergibt: (5.0/5) Ihr vergebt: SchrecklichNa jaGeht soGutSuper (No Ratings Yet)

Jeschke, Wolfgang / Pohl, Frederik – Titan-4

_SF-Storys: Der falsche Messias und andere Maskeraden_

In der vorliegenden ersten Ausgabe des Auswahlbandes Nr. 4 von „Titan“, der deutschen Ausgabe von „Star Science Fiction 2,3, 4 und 5“, sind viele amerikanische Kurzgeschichten gesammelt, von bekannten und weniger bekannten Autoren. Diese Auswahlbände gab ursprünglich Frederik Pohl heraus. Er machte den Autoren 1953 zur Bedingung, dass es sich um Erstveröffentlichungen handeln musste. Das heißt, dass diese Storys keine Wiederverwertung darstellten, sondern Originale.

Die Kriterien der deutschen Bände waren nicht Novität um jeden Preis, sondern vielmehr Qualität und bibliophile Rarität, denn TITAN sollte in der Heyne-Reihe „Science Fiction Classics“ erscheinen. Folglich konnten Erzählungen enthalten sein, die schon einmal in Deutschland woanders erschienen waren, aber zumeist nicht mehr greifbar waren. TITAN sollte nach dem Willen des deutschen Herausgebers Wolfgang Jeschke ausschließlich Erzählungen in ungekürzter Fassung und sorgfältiger Neuübersetzung enthalten. Mithin war TITAN von vornherein etwas für Sammler und Kenner, aber auch für alle, die Spaß an einer gut erzählten phantastischen Geschichte haben.

_Die Herausgeber _

1) _Wolfgang Jeschke_, geboren 1936 in Tetschen, Tschechei, wuchs in Asperg bei Ludwigsburg auf und studierte Anglistik, Germanistik sowie Philosophie in München. Nach Verlagsredaktionsjobs wurde er 1969-1971 Herausgeber der Reihe „Science Fiction für Kenner“ im Kichtenberg Verlag, ab 1973 Mitherausgeber und ab 1977 alleiniger Herausgeber der bis 2001 einflussreichsten deutschen Sciencefiction-Reihe Deutschlands beim Heyne Verlag, München. Von 1977 bis 2001/02 gab er regelmäßig Anthologien – insgesamt über 400 – heraus, darunter die einzigen mit gesamteuropäischen Autoren.

Seit 1955 veröffentlicht er eigene Arbeiten, die in ganz Europa übersetzt und z.T. für den Rundfunk bearbeitet wurden. Er schrieb mehrere Hörspiele, darunter „Sibyllen im Herkules oder Instant Biester“ (1986). Seine erster Roman ist „Der letzte Tag der Schöpfung“ (1981) befasst sich wie viele seiner Erzählungen mit Zeitreise und der Möglichkeit eines alternativen Geschichtsverlaufs. Sehr empfehlenswert ist auch die Novelle „Osiris Land“ (1982 und 1986). Eine seiner Storysammlungen trägt den Titel „Schlechte Nachrichten aus dem Vatikan“.

2) Der Werbefachmann, Autor, Literaturagent und Herausgeber _Frederik Pohl_, geboren 1919 in New York City, ist ein SF-Mann der ersten Stunde. Noch vor dem Zweiten Weltkrieg gehörte er der New Yorker „Futurian Science Literary Society“ an, bei der er er seine späteren Kollegen Isaac Asimov und Cyril M. Kornbluth kennenlernte. Von 1940-41 war er Magazinherausgeber, wandte sich dann aber dem Schreiben zu.

Als er sich mit Kornbluth zusammentat, entstanden seine bekanntesten Romane, von denen der beste zweifellos „The Space Merchants“ (1952 in „Galaxy“, 1953 in Buchform) ist. Er erschien bei uns unter dem Titel „Eine Handvoll Venus und ehrbare Kaufleute“ (1971). Darin kritisiert er auf bissige, satirische Weise die Ausbeutung des Weltraums. Ebenso erfolgreich ist seine Gateway-Trilogie, die zwischen 1977 und 1984 erschien und von denen der erste Band drei wichtige Preise einheimste.

_Die Erzählungen_

_1) Algis Budrys: |Die integrierten Menschen| (|Congruent People|)_

Dexter Bergenholm geht wie jeden Tag, von seiner Frau Miriam verabschiedet, aus dem Haus Richtung Büro. Doch diesmal bemerkt sein Unterbewusstsein am Kiosk mit den Tageszeitungen etwas Merkwürdiges: Ein Mann gibt dem Verkäufer eine Zeitung und bekommt dafür ein Geldstück. Als sein Bewusstsein endlich geruht, davon Notiz zu nehmen, schrillen die Alarmglocken: Müsste es nicht normalerweise umgekehrt sein?!

Bergenholm kauft die dem Verkäufer gegebene Zeitung und vergleicht sie mit der üblichen Ausgabe der „New York Times“. Es gibt einige gravierende Unterschiede. Doch war ist auf der abweichenden Ausgabe von „Stufe eins“ die Rede? Und wieso ist der Wetterbericht bis auf die Minute genau?

Als er dem Mann folgt, sieht er ihn in einen Lieferwagen steigen, der aber innen wi ein Bus ausgestattet ist. Am nächsten Morgen wiederholt sich der Vorgang, doch diesmal folgt Bergenholm dem Mann in den getarnten Buss. Der Mann begrüßt ihn mit seinem Namen, Bergenholm, stellt sich als Indoktrinator vor und lädt ihn zu einem Gespräch ein.

Wie sich zeigt, gehört der Mann zu einer Gruppe von Leuten, die sich dem gewohnten Einerlei der Wirklichkeit, eben der Stufe eins, entzogen haben und sozusagen mitten unter uns eine parallele Gesellschaft aufgebaut haben, damit sie besser und freier leben können. Doch der Mann stellt Bergenholm vor eine Alternative: Bergenholm soll ohne seine Frau auf die Stufe zwei gelangen, und das ist natürlich ein Problem. Aber nicht lange, wie sich herausstellt …

|Mein Eindruck|

Der Stil von Algis Budrys ist stets ein wenig unterkühlt, entbehrt aber nicht des Witzes. Für die Fünfziger Jahre typisch war die von Senator McCarthy geschürte Angst vor einer kommunistischen Unterwanderung. Leben die Spione (wie die verurteilten Rosenbergs) wirklich unerkannt unter uns, Leute wie du und ich, fragten sich die braven Bürger damals. Und brav war jeder, der sich den Regeln konform verhielt. Die „Regeln“ wurden allerdings von anderen aufgestellt, von Schiedsrichtern des Geschmacks ebenso wie von den diversen Gesetzgebern und Moralwächtern. Nicht ohne Grund erlebte die Zensur eine Blütezeit, die erst 1968 endete.

Bergenholm ist so ein braver Bürger. Seine Frau passt auf, dass an ihm alles regelkonform aussieht. Doch er ist anders, sonst würde er nicht bemerken, wie ein Zeitungskauf nicht regelkonform abläuft. Und er würde auch nicht in den getarnten Bus steigen, um den Verdächtigen zu beschatten. Am Schluss löst sich die potenziell gefahrvolle Aktion jedoch in reines Wohlgefallen auf, pointiert mit einem Witz. Doch im Leser bleibt, wie beabsichtigt, der Verdacht: Was wäre, wenn es wirklich eine Parallelgesellschaft gäbe, die uns von der „Stufe eins“ um Längen voraus wäre?

_2) Hal Clement: |Der kritische Faktor| (|Critical Factor|)_

Halbflüssige Wesen, die im Untergrund unserer Erde leben, haben gerade ein kleines Problem: Eroberer aus dem Norden bedrohen ihr Territorium. Ein Späher namens Pentong kehrt aus der Antarktis zurück und berührt den Ältesten, um zu berichten, was er dort gefunden hat: Eine Schicht über dem Gestein, die durch heißes Magma in Ozean verwandelt wird – im Klartext: Eis.

Was Pentong vorschlägt, ist revolutionär: Man könnte durch Eisschmelzen doch den Ozean so weit ausbreiten, dass der für die Untererdbewohner giftige Sauerstoff nicht mehr an das Erdreich gelangen könnte. Mithin würde sich ihr Lebensraum vergrößern.

Eigentlich eine geniale Idee. Doch Derel der Denker bezweifelt ihre theoretische Grundlage ebenso wie die praktische Ausführung. Er stellt ein paar Experimente mit dem Verhalten von Flüssigkeiten in Hohlräumen an und stößt auf eine neue unheimliche Kraft, die ihn fast das Leben kostet: Schwerkraft!

|Mein Eindruck|

Die rein naturwissenschaftlich orientierte Story erzählt, wie so viele von Clements Storys, von Alien mit fremden Naturgesetzen und fremdartigem Denken. Doch das hindert sie nicht daran, allgemeingültige Gesetze zu entdecken, die auch uns vertraut sind – Schwerkraft beispielsweise.

Die Tatsache, dass die Anderen das uns Vertraute erst entdecken, führt uns wiederum die Besonderheit des Phänomens vor Augen. Schwerkraft, so lernen, ist nichts, das wir für selbstverständlich und allgegenwärtig halten sollten. Denn stets gilt der Grundsatz: Alles ist relativ.

_3) Jerome Bixby: |Schöner leben| (|It’s a Good Life|, 1953)_

Peaksville lag vor vier Jahren in Ohio, doch wo es jetzt liegt, ist seinen Bewohnern unbekannt. Denn kurz hinter den letzten Häusern beginnt das Nichts. Nur hinter dem Haus der Fremonts liegen ein Maisfeld, eine Weide und ein schattiger Baum. Doch wer die Fremonts besucht, so wie jetzt Bill Soames mit seinen Kolonialwaren, der bangt um sein Leben. Zumindest aber um seine geistige Gesundheit. Denn bei den Fremonts lebt Anthony. Er dringt in Gedanken ein und kann Leute verschwinden lassen. Man sollte ihn besser nicht verärgern, haben alle gelernt. Und niemals darf ein Kind sich zur Farm verirren. Ein verschwundenes Kind ist Lektion genug.

Bill Soames ist froh, wieder unbeschadet von dannen radeln zu können. Doch abends kommt es zu einem Eklat. Dan Hollis‘ Geburtstag feiern die Dorfbewohner im Wohnzimmer der Fremonts, und einer spielt Klavier. Doch als Dan sich spätabends darüber ärgert, dass er seine ihm geschenkte Schallplatte nicht abspielen darf und zu singen anfängt, erscheint Anthony, und Totenstille tritt ein. Er nennt Dan einen „bösen Mann“, tut etwas Furchtbares mit ihm und lässt ihn verschwinden.

Wieder eine Lektion gelernt. Während alle die Frau von Dan Hollis zum Verstummen bringen und festhalten, verschwindet Anthony nach zwei Stunden wieder. Wer hätte gedacht, dass ein Dreijähriger so ein Tyrann sein kann …

|Mein Eindruck|

Eine Teufelsgeschichte! Diesmal mit einem der in den fünfziger Jahren so beliebten Mutanten. (Es wird keine Ursache für die Mutation angegeben, auch kein Atomkrieg.) Geschildert wird eine wahre Hölle, über die ein Einziger mit der Macht über Leben und Tod herrscht. Leider ist das Kind völlig unzurechnungsfähig.

Aber darum geht es eigentlich nicht. Wie der Titel schon andeutet, richtet der Autor sein Augenmerk nur en passant auf Anthonys Launen und konzentriert sich vielmehr auf die Bedingungen für das friedliche Überleben in dieser Hölle. Erstaunlicherweise sind zwar einige unzufrieden mit den Bedingungen, doch sie dürfen es niemals laut sagen. Stets müssen sie sagen, alles sei gut, prächtig oder schön, um nur den Tyrannen nicht zu verärgern (wie Dan Hollis). Außerdem versuchen sie nichts zu denken, denn der Tyrann ist ja bekanntlich ein Gedankenleser, der sogar geistige Strafmaßnahmen verhängen kann, wie bei seiner Tante Amy.

Die Geschichte ist leicht als Metapher für jedes repressive System zu deuten, sei es nun ein faschistisches, ein stalinistisches, feudalistisches oder ein kapitalistisches. Die Gedanken- und Verhaltenskontrolle ist bereits verinnerlicht, sodass es nur selten zu Verstößen gegen die Konformität kommt. Flucht wäre ja auch sinnlos, denn draußen wartet nur das Nichts. Der Autor hat eine Versuchsanordnung geschildert. Man kann den einen oder anderen Faktor ersetzen, beispielsweise Anthony durch einen Mann der Kirche, aber das Ergebnis bleibt immer das gleiche: Es ist eine Hölle.

_4) Isaac Asimov: |Ein so herrlicher Tag| (|It’s Such a Beautiful Day|)_

Der neuartige Materietransmitter ist endlich auch für den Personentransport geeignet und wird als T-Tür eingebaut. Das kalifornische Wohngebiet A-3 ist in dieser Hinsicht Vorreiter: Alle seine Gebäude inklusive der Schule verfügen über T-Türen, und die gewöhnlichen, manuell bedienbaren Türen (mit einfachem T) werden als „Notausgang“ bezeichnet.

Als Mrs. Hanshaw von der Lehrerin Miss Norris also einen Beschwerdeanruf wegen Richard Hanshaw, ihrem Sohn, bekommt, ist sie also höchst erstaunt: Ihr Dickie soll eine volle Stunde zu spät zum Unterricht erschienen sein?! Es muss sich wohl um einen schlechten Scherz handeln, den sie sich selbstredend verbittet.

Doch als Richard auch nicht zur vorgesehenen Rückkehrzeit um 15:00 Uhr per T-Tür erscheint, beginnt sich Mrs. Hanshaw Sorgen zu machen und zu grübeln. Heute Morgen war die T-Tür defekt, und Richard ging zu den Nachbarn, um deren T-Tür zu benutzen. Das hat aer aber offenbar nicht getan. Was ist bloß in den Jungen gefahren? Inzwischen war der Reparateur da und hat eine Pentode ausgewechselt, die den Feldgenerator steuert.

Richard kehrt zurück – durch den Notausgang! Und wie er nur aussieht! Von oben bis unten verdreckt und bestimmt voll schrecklicher Krankheitskeime. Ab, Marsch ins Bad mit ihm! Eins ist klar: Wie Miss Norris vorschlug, ist Richard wohl ein Fall für die Psychosonde. Aber man darf selbstverständlich kein Aufsehen erregen und muss auf Diskretion achten. Man könnte sonst zum Gespött der Nachbarschaft werden. Also geht Mrs. Hanshaw zum Hirnklempner, einem Psychotherapeuten namens Sloane.

Wohl wegen seines geringen Alters von knapp 40 Jahren lehnt Sloane es strikt ab, Richard einer Psychosondierung zu unterrichten. „Ein traumatisches Erlebnis für einen jungen Menschen“, warnt er. Vielmehr nimmt er Richard mit auf einen Spaziergang – nach draußen! Mrs Hanshaw ist fassungslos.

Richard zeigt Sloane die unbekannten Wunder des Draußen: grünes Gras, blauer Himmel, ein Bach, Insekten und bunte Vögel. Hier hat sich also der Junge die Zeit vertrieben. Und wenn er es recht bedenkt, findet Sloane es recht bedenklich, wenn ein Mensch in einer T-Tür erst in seine atomaren Bestandteile zerlegt und dann auf der Gegenseite wird zusammengesetzt wird …

|Mein Eindruck|

Die Idee des Materietransmitters ist schon ziemlich alt, beinahe unmöglich zu realisieren, wurde aber ungezählte male in der Sciencefiction eingesetzt. Bei John Brunner ersetzen Transmitter die Raumfahrt (vgl. „Die Sonnenbrücke“ und „Verbotene Kodierungen“). Doch während bei Brunner ein Kniff der Dimensionsmathematik den Durchtritt erlaubt, greift Asimov das Problem als Materie-Auflösung und -Zusammensetzung auf.

Wie er richtig sagt, ist das Verfahren schweineteuer, energieintensiv und obendrein gefährlich. Wie leicht könnte beim Berechnen der Zusammensetzung ein Hard- oder Softwarefehler auftreten? So einfach geht das „Beamen“ also nicht. Doch die Technik ist gar nicht der Schwerpunkt der Geschichte: Es geht um die veränderte Psyche.

Mrs Hanshaw kennt das Draußen gar nicht mehr als Lebensraum: Es kommt ihr so gefährlich vor wie uns der Weltraum. Ganz im Gegensatz zu Sohnemann Richard: Er entdeckt die vielfältigen Freuden, die das Draußen für den langsamen Betrachter bereithält. Daher: Zurück zur Natur!

_5) Henry Kuttner: |Tyrell der Erlöser| (|A Cross of Centuries|)_

Im Jahre 5000 ist Tyrell bekannt als der Reine Gesalbte, der Messias des Friedens, der Güte und der Liebe Gottes. Doch er lebt bereits 2000 Jahre und muss sich alle hundert Jahre einer Auffrischung seines Gedächtnisses unterziehen. Dies erfolgt mit Hilfe einer Maschine, die im Bergkloster von Abt Mons (= Berg) verborgen ist.

Auch diesmal kommt Tyrall zusammen mit seiner 300 Jahre alten, aber wie eine Zwölfjährige aussehende Jüngerin Nerina ins Bergkloster. Vor dem Teich der Wiedergeburt legt er seine wenigen Kleider und seine Schuhe ab und badet darin. Nur Nerina scheint zu bemerken, wie sehr sein Gedächtnis nachgelassen hat.

Am nächsten Morgen erzählt der runderneuerte Tyrell seiner erstaunten Anhängerin detailreich von der alten Zeit, die er damals zu überwinden geholfen habe. Der Anti-Christ sei umgegangen und habe die Tier-Menschen aufgestachelt, auf Tausenden von Welten habe Brudermord geherrscht. In der Tat ist Tyrell das einzige Wesen aus jener Zeit, das immer noch am Leben ist, um sich daran zu erinnern.

Am zweiten Morgen findet man die erwürgte Leiche eines Mönchs. Das Entsetzen unter den Brüdern ist ebenso groß wie bei Tyrell und Nerina. Wie kann es einen Akt der Gewalt nach acht Jahrhunderten Frieden geben? Doch als nerina in der folgenden Nacht einen Schrei hört und auf den Gang vor der Klosterzelle eilt, entdeckt sie zu ihrer Bestürzung Tyrell mit einem blutigen Messer in der Hand.

Wie kann es sein, dass er getötet hat, fragt sie sich und berät sich mit Abt Mons. Schier sprachlos vor Schrecken stammelt Mons etwas davon, wie die Maschine funktioniert. Es muss zu einem Fehler gekommen sein. Oder die Mönche habe ihre Arbeitsweise nicht richtig verstanden. Doch am Ende ahnt Nerina, worin ihre Pflicht besteht, um Tyrell zu erlösen. Sie nimmt das immer noch blutige Messer …

|Mein Eindruck|

Einmal ist die Religion die Zielscheibe von Autoren der fünfziger Jahre (siehe auch die zwei Auswählbände von H.J. Alpers bei Bastei-Lübbe). Der Profi-Autor Henry Kuttner, Gatte der Autorin Catherine L. Moore, schreibt in seiner Story das Leben des Messias einfach in die Zukunft vor. Er stellt nicht die Funktion eines solchen Gesalbten in Frage, wohl aber die Wahrheit, die mit dieser Figur verknüpft wird.

Anders als von den Mönchen angenommen, wird Tyrells Gedächtnis nicht jedesmal gelöscht, wenn er die Maschine benutzt, sondern nur in die Tiefe des Bewusstseins verdrängt. Mittlerweile sind es – nach 2000 Jahren – 20 Schichten. Es ist etwas schiefgegangen: Statt Neues zu speichern, hat sich das uralte Unterbewusstsein gemeldet: Mit tödlichen Folgen.

Tyrell gesteht es nur Nerina: Er war selbst jener Anti-Christ, der vor fast tausend Jahren die Menschen abschlachtete, damit sie ihn zu fürchten lernten. Nur so führte er den allgemeinen Frieden herbei, nicht mit der Sanftmut von Lämmern, sondern mit der Pranke des Löwen.

Der Autor stellt also die Botschaft Christi infrage und behauptet im Gegenteil, dass nur Stärke und sogar Vernichtung den Frieden herbeiführen könne. Das ist eine sehr kontrovers zu diskutierende Aussage. Und am Schluss eine messianische FRAU vorzustellen, dürfte die Gemüter im Vatikan ebenfalls nicht gerade beruhigt haben.

_6) Damon Knight: |Einer muss der Dumme sein| (|Idiot Stick|)_

Das Raumschiff der galaktischen Föderation landet in New Jersey. Die Aliens, lautet spindeldürre Kerle, verteilen Kapseln, die dem Empfänger ein intensives Glücksgefühl vermitteln. Kein Wunder, dass die Aliens nicht nur mit Wohlwollen, sondern mit einem Ansturm von Glücksbedürftigen empfangen werden.

Die Fremden wollen eine friedliche Niederlassung zu Studienzwecken bauen. Natürlich sind Zehntausende bereit, das Gelände dafür zu ebnen und das Gebäude zu errichten. Der Lohn besteht ja in den begehrten Glückskapseln. Jeder kriegt einen Stecken, der auf wundersame Weise den Boden einebnet und asphaltiert. Baker und Cooley sind sich einig, dass dies ein „Dummenschwengel“ sei – und sie, als Arbeiter, die Dummen. Die Dinger lassen sich nicht einfach nachbauen.

Wochen später, entdeckt ein Reporter vom Star-Ledger in New Jersey den Sprecher der Fremden betrunken in einer Bar. Der Sprecher lallt etwas von Mitleid. Mitleid mit wem? Mit den armseligen Menschen und ihrem nichtswürdigen Planeten. Solches Gerede macht den Reporter erst stutzig, dann wütend. Dan rückt der Sprecher, der voll auf Aspirin abfährt, mit der Sprache heraus: Das Gebäude werde ein Bohrloch verdecken, in welches man einen Sprengsatz einführen werde, der im Erdinnersten zünden solle. Puff, und Terra wird eine Staubwolke. Welchselbige man zur Abwehr einer möglichen Invasion benötige. Von wem ist leider nicht zu erfahren.

Wenige Tage später erobert ein wütender Mob das fremde Raumschiff und erschlägt alle Aliens – mit dem Dummenschwengel. Es kommt eben darauf an, an welchem Ende davon man sich jeweils befindet, meint Baker.

|Mein Eindruck|

Würde so eine Invasion funktionieren, fragen sich Baker und Cooley. Ohne Weiteres, meinen sie – und das meine ich auch. Es findet sich immer ein Idiot, der für ein bisschen momentanes Glücksgefühl sein Erstgeburtsrecht für ein Linsengericht verkaufen würde (vgl. dazu die Bibelgeschichte von Jakob und Esau, den Söhnen Isaaks, des Sohnes Abrahams).

Eine blutige Wendung nimmt die Story am Schluss: Für die Modifikation des fremden Allzweck-Stocks mussten in zehntausend Versuchen zehntausend Menschen ihr Leben lassen. Ist das also der Preis des Überlebens? Wenn das so ist, so die Aussage, dann ist der Preis keineswegs zu hoch. Dieses Prinzip sollte man aber tunlichst nicht auf Atombomben anwenden …

_7) Robert Silverberg: |Kolonist Wingert in der Klemme| (|Company Store|)_

Kolonist Roy Wingert ballert wild um sich, um die Kreaturen zu vernichten, die es auf ihn abgesehen haben. Er ist sauer, denn die terranische Kolonisationsbehörde hatte behauptet, dieser Kontinent wäre frei von solchem Kroppzeug. Da hört er eine Stimme hinter sich: „Darf ich Ihnen einen Taschenfeldgenerator anbieten, mit dem sie ein Sperrfeld errichten können?“ Aber immer doch! Das Feld hält die Viecher fern.

In der Verschnaufpause stellt sich der Besucher: ein Verkaufsroboter aus der Kleinen Magellanschen Wolke. Klingt harmlos, aber als der Blechkumpel verrät, er habe diese aggressiven Viecher extra zu diesem Verkaufszweck hierhergeschafft, bringt ihm das nicht gerade Pluspunkte ein. Wingert findet, der Robot müsste noch einiges über Verkaufsmethoden lernen. Er sagt ihm, er soll sich verziehen.

Wingert aktiviert den hier deponierten Materietransmitter und nimmt Verbindung mit der Erde auf, um Rasierklingen zu bestellen. Er kriegt eine Transportrechnung über 50 Dollar bei einem Warenwert von 1 Dollar. Moment mal! Doch seine Beschwerde wird abgeschmettert: Steht alles im Vertrag – Luxusgüter werden extra berechnet. Die Rückgabe kostet natürlich ebenso viel. Und bei der Konkurrenz dürfe er natürlich keinesfalls kaufen. Steht auch im Vertrag. Darauf steht eine Konventionalstrafe. Wingert rechnet aus, dass der Vertrag dafür sorgt, dass er bis zu seinem Lebensende in der Schuld der Company stehen wird. So sieht also moderne Sklaverei aus.

Der Roboter, der ihm das Enthaarungsgel angeboten hat, besteht jedoch seinerseits ebenfalls auf dem Kauf. Würde er seine Quote nicht erfüllen, würde man ihn demontieren. Mit gezücktem Desintegrator besteht der Robot darauf, dass Wingert den Feldgenerator bezahlt und mehr kauft. Das bringt den Kolonisten auf eine brillante Idee. Er stellt Kontakt mit der Erde her …

|Mein Eindruck|

Die Erfindung der Schuldknechtschaft liegt schon ein paar Jährchen zurück. Mehrere Jahrtausende, um genau zu sein. Und wie dem „Menschenhandel“-Buch von E. Benjamin Skinner zu entnehmen ist (ISBN 978-3-7857-2342-5; siehe meinen Bericht), ist diese Form der Sklaverei in vielen Gegenden der Welt noch so verbreitet, dass noch Millionen Menschen darunter leiden müssen.

Kolonist Wingert blickt jedoch auf Erfahrung mit Verkaufstypen wie dem Roboter zurück und kann dessen Drohung kühl hinnehmen, gibt sie ihm doch ein handfestes Argument gegenüber der Terra-Kolonisationsgesellschaft in die Hand: Was sich jetzt angesichts der Drohung als „lebensnotwendig“ (und nicht etwa ein Luxusartikel) ist, ist schlicht und ergreifend Geld. Und wenn die Company keines schickt, stellt das einen Vertragsbruch dar.

Es kommt, wie es kommen muss. Nach dem Vertragsbruch zerreißt Wingert das wertlose Papier und erklärt sich per Siedlerrecht zum Besitzer dieses Planeten. Eine ganze neue Verhandlungsposition für Wingert. Man sieht also, dass die Story einen gewissen Yankee-Witz verrät, einen Sinn für die praktischen Erfordernisse des Überlebens. Zum Beispiel Kaltschnäuzigkeit.

_Unterm Strich_

Während sich die meisten Beiträge dieser Storyauswahl mit den zeitbedingten Phänomenen beschäftigen, ragt Henry Kuttners Erzählung über den falsch programmierten Messias haushoch darüber hinaus. Profis wie Silverberg und Asimov mögen handwerklich top sein, doch Kuttner ist ihnen inhaltlich, wie auch stilistisch weit überlegen. Es ist nicht auszuschließen, dass seine Frau C.L. Moore daran mitgeschrieben hat. Die beiden benutzten auch viele Pseudonyme, um gemeinsame Arbeiten zu verkaufen.

Asimov greift die absehbaren Folgen der Verstädterung auf, Silverberg die Schuldknechtschaft in vielen Ländern, Budrys hingegen ist noch unter dem Eindruck der Kommunisten-Infiltration – so als könne ein Volk unterwandert werden. Hinter der öffentlichen Fassade existiert eine andere Welt. Ebenso auch in Bixbys kritischer Story über den dreijährigen Mutanten Anthony. Offensichtlich griffen mehrere Autoren die bürgerliche Fassade an. Doch nur Kuttner traute sich, das religiöse Fundament anzutasten.

Für den deutschen SF-Leser des Jahres 1976 waren diese Originalbeiträge – allesamt Erstveröffentlichungen von 1953 – willkommenes Lesefutter, um sich einen Überblick über die Entwicklung des Genres in den fünfziger Jahren zu verschaffen. Der Erfolg des TITAN-Formats mit seinen etwa zwei Dutzend Bänden gab Herausgeber Jeschke Recht. Auch die sorgfältige Übersetzung trägt noch heute zum positiven Eindruck bei. Ich fand nur einen einzigen Druckfehler.

|Taschenbuch: 143 Seiten
Im Original: Star Science Fiction 3+4, 1953, 1954, 1958 und 1959/1977
Aus dem US-Englischen von Walter Brumm und Horst Pukallus
ISBN-13: 978-3453304260|
[www.heyne.de]http://www.heyne.de

Mark Lawrence – Prinz der Dunkelheit (The Broken Empire 1)

The Broken Empire:
Band 1: „Prinz der Dunkelheit“
Band 2: „King of Thornes“ (noch ohne dt. Titel)

Jorg war einst ein Prinz. Bis zu dem Tag, an dem er erkennen musste, dass sein Vater für den Mord an Mutter und Bruder keine Rache nehmen würde. Jetzt ist Jorg ein Straßenräuber übelster Sorte, geplagt von Alpträumen aus Schuldgefühlen und Hass. Und er ist auf dem Weg zu seines Vaters Burg, um ihn herauszufordern …

Die Mitglieder von Jorgs Räuberbande sind größtenteils Nebenfiguren. Selbst über die beiden, die einigermaßen wichtig sind, gibt es im Grunde nichts zu sagen, zumal der eine das Ende des Buches nicht erlebt.

Bleibt die Hauptfigur, Jorg. Der Junge ist vor allen Dingen stur, er neigt dazu, stets das Gegenteil von dem zu tun, was man ihm sagt. Außerdem ist er für sein Alter ungewöhnlich brutal und skrupellos, gleichzeitig ist er aber immer noch ein Kind, das sich mit Selbstvorwürfen quält und sich nach Anerkennung durch seinen Vater sehnt.

Jorg erzählt seine Geschichte selbst, nicht nur, was passiert, sondern auch, was er denkt und fühlt. Er bleibt dabei in der Regel ziemlich nüchtern, weitschweifige Beschreibungen fehlen. Nur wenige Details werden knapp und präzise ausgedrückt. Dennoch gelingt es dem Autor auf diese Weise hervorragend, nicht nur Jorgs Persönlichkeit selbst lebendig und plastisch darzustellen, sondern auch die Beziehungen zu den Personen um ihn herum.

Genauere Beschreibungen der Welt fehlen ebenfalls. Was den Ort des Geschehens interessant macht, sind die Andeutungen, die immer wieder eingestreut sind und dem Leser ziemlich vertraut vorkommen. Gleichzeitig gibt es Magie, Vampire und Geister. Eine recht ungewohnte Mischung.

Die Handlung ist zweigeteilt. Parallel wird erzählt, wie es kam, dass Jorg die heimatliche Burg verlassen hat, und wie er wieder zurückkehrt, wobei die Rückblenden die Motive und Erklärungen für den Hauptstrang liefern. Der zeitliche Ablauf ist dabei geschickt aufeinander abgestimmt. Und auch die einzelnen Aspekte der Haupthandlung – Jorgs Charakterentwicklung, sein gespanntes Verhältnis zum Vater, die Entwicklung des eigentlichen Plots – sind gekonnt ausbalanciert.

Ich kann nicht sagen, dass es Spaß gemacht hat, dieses Buch zu lesen. Auch würde ich es nicht unbedingt als spannend bezeichnen. Der Begriff, der am ehesten darauf passt, ist fesselnd. Der Autor hat es verstanden, seine Geschichte so zu gestalten, dass sie in jeder Hinsicht Interesse weckt. Die Erwähnung von aus flüssigem Stein gegossenen Mauern und Büchern mit Seiten aus „Plastick“ verleihen dem Entwurf der Welt nicht nur eine gewisse Würze, sie machen den Leser auch neugierig darauf, was in der Vergangenheit dort geschehen sein mag. Der Plot entwickelt sich in einem eleganten Bogen, der weit genug ist, um nicht eckig zu wirken, aber dennoch verhindert, dass der Leser bereits zu Beginn des Buches das Ende sehen kann. Vor allem aber fasziniert die Figur des Jorg, denn je weiter die Geschichte fortschreitet, desto deutlicher steht die Frage im Raum, wer dieser Junge eigentlich wirklich ist.

Auch sprachlich fand ich das Buch sehr gelungen. Die eher nüchterne Erzählweise verhinderte blutgetränkte Ekelexzesse, wie sie in der Fantasy leider nur zu häufig vorkommen, brachte aber trotzdem die Brutalität der Räuber immer noch deutlich genug zum Ausdruck, ebenso wie Jorgs Zerissenheit oder Katherines Interesse an dem jungen Prinzen. Tatsächlich erzeugte das Fehlen nahezu jeglicher Ausschmückung hier seine ganz eigene Stimmung und wirkte im Hinblick auf die Hauptperson und die Ich-Form der Erzählung weit authentischer als episch ausgeschmückte Prosa.

Mit anderen Worten, ein gelungener Einstieg in einen vielversprechenden Zyklus. Einziger Wermutstropfen: Der Originaltitel „Prince of Thorns“ wurde – aus welchem Grund auch immer – mit „Prinz der Dunkelheit“ übersetzt. Wahrscheinlich, weil alles, was mit Dunkelheit zu tun hat, gerade modern ist!

Mark Lawrence arbeitet hauptberuflich als Wissenschaftler an der Entwicklung künstlicher Intelligenz. „Prinz der Dunkelheit“ ist sein erster Roman, außerdem hat er einige Kurzgeschichten und Gedichte geschrieben. Er lebt mit seiner Familie in England.

Taschenbuch: 380 Seiten
Originaltitel: Prince of Thornes
Ins Deutsche übertragen von Andreas Brandhorst
ISBN 978-3453528253

www.princeofthorns.com/index.html
http://www.heyne.de

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