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Jana Hensel – Zonenkinder

Als die Mauer fiel und sich mein Leben plötzlich drastisch veränderte, da war ich elf Jahre alt. Mittlerweile kommt es häufiger vor, dass ich blinzle und verwundert feststelle, dass meine Kindheit anders abgelaufen ist als die meiner westdeutschen Kommilitonen. Oder ich schaue mir die Fotos von meiner ersten Reise nach Westberlin an (das Begrüßungsgeld abholen natürlich) und erkenne mich selbst darauf nicht wieder. Haben wir im Osten wirklich so ausgesehen? Was waren das für Reisen an die polnische Ostseeküste, als wir in heruntergekommenen Bungalows wohnten und jeden Abend vor dem Schlafengehen die Schnecken und Spinnen ermorden mussten, damit wir uns nicht gar so ekelten? Oder die unzähligen Urkunden und Belobigungen, die irgendwo in meinen Schränken vor sich hingilben und die ich regelmäßig beim Fahnenappell verliehen bekam? All diese kleinen Erinnerungen an eine Kindheit in der DDR, die einem alle paar Jahre durch Zufall wieder in die Hände fallen, die man nostalgisch betrachtet und dann wieder weglegt.

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Hensel, Jana / Raether, Elisabeth – Neue deutsche Mädchen

2002 trat Jana Hensels Erinnerungsbuch [„Zonenkinder“ 4989 seinen Siegeszug durch das deutsche Feuilleton und – vor allem – die Bestellerlisten an. Die Idee, die dem Buch vorangestellt war, hatte durchaus Potenzial: Hensel, die zum Zeitpunkt der Veröffentlichung so lange in der BRD wie in der DDR gelebt hatte (als die Mauer fiel, war sie gerade dreizehn), war angetreten, exemplarisch aufzuzeigen, wie es ist, ein Wendekind zu sein. Nur kann man so einen biographischen Knick offensichtlich nicht exemplarisch aufzeigen, und „Zonenkinder“ scheiterte an genau diesem Anspruch. Das kollektive „Wir“, das Hensel während des gesamten Buches beschwor, war nervtötend, anmaßend und schlussendlich falsch.

Mittlerweile ist Jana Hensel irgendwie angekommen im neuen größeren Deutschland und hat sich auch von dem allgemeingültigen Wir verabschiedet. Zusammen mit ihrer Freundin Elisabeth Raether hat sie sich nun noch einmal zusammengetan, um aktuellen Befindlichkeiten nachzuspüren. Wieder ist die zugrunde liegende Idee originell: Hensel mit ihrer DDR-Biographie und Raether als BRD-Kind wollen herausfinden, was es heißt, heute eine Frau zu sein. Alice Schwarzer, deren Name traditionell immer fällt, wenn es um Feminismus in Deutschland geht, spielt dabei eigentlich nur als Aufhänger eine Rolle. Hensel lässt sich zwar zu ein wenig Schwarzer-Kritik hinreißen, aber mit Leidenschaft scheint sie nicht am Werke. Es scheint vielmehr, als fühlten sich die Autorinnen verpflichtet, die große Mutter des Feminismus in Deutschland wenigstens auf einer Seite namentlich zu erwähnen, um dann nahtlos dazu überzugehen, was sie als wichtig empfinden: Liebe oder deren Abwesenheit, Sex, Geld, Arbeit und die Unverbindlichkeit des Berliner Großstadtlebens.

In einzelnen Essays widmen sich Hensel und Raether also verschiedenen Aspekten des Frauseins. Das liest sich durchaus interessant und flüssig. Geradezu anekdotisch erzählen die beiden von (in der Regel missglückten) Affären, von dem Versuch, in der taffen „Männerwelt“ zu bestehen, von der seltsamen Entwurzelung im zusammenwachsenden Berlin. Die Nabelschau hat einen gewissen Tagebuchcharakter: Das Geschehene wird durchaus kritisch betrachtet und analysiert, und doch bleiben die Erzählungen des Scheiterns rein privat. Die Autorinnen sagen „überhaupt nichts aus, was über die jeweiligen Geschichten hinausginge“, meint beispielsweise der Rezensent der |F.A.Z.| und trifft damit den Nagel auf den Kopf. Hensel und Raether haben ein persönliches Buch geschrieben, ein Buch, in dem sich Frauen ihres Jahrgangs wiederfinden oder auch nicht. Doch über ihre Selbstanalyse hinaus wollen die neuen deutschen Mädchen keine Auskunft darüber geben, wie die Sache mit dem Feminismus denn nun weitergehen sollte. Wenn die Ideen Schwarzers so überkommen sind, womit sollten wir sie ersetzen?

Abgesehen von den persönlichen Betrachtungen, finden sich in dem Buch auch zwei Essays zur Mütterngeneration, die sich durchaus interessant lesen. Da geht es auf der einen Seite um Elisabeth Raethers Mutter, die zunächst eine vollkommen durchschnittliche Mittelschichtenkarriere in der BRD macht: Heirat, Kinder, Hausfrau. Doch dann entscheidet sie, dass das nicht alles gewesen sein kann. Sie lässt sich scheiden, beginnt wieder zu arbeiten, wird ihre eigene Herrin. Für Raether ist diese Mütterbiographie ein Zeichen dafür, dass der Feminismus damals begann, die Mittelschicht zu erobern.

Auch Hensel ist ein Scheidungskind, und auch ihre Mutter steht geradezu beispielhaft für den Lebenslauf vieler Frauen in der noch jungen DDR. Sie arbeitet Vollzeit. Sie zieht aus dem Ledigenwohnheim aus, um zu heiraten. Die kleine Jana wird geboren. Durchaus genau schildert Hensel diese Jahre und analysiert die Unterschiede zur heutigen Zeit. Sie stellt das damalige Denken im „Kollektiv“ dem heutigen Götzen des „Individualismus“ gegenüber. Ihre Mutter, sagt sie, war noch eingebunden in ein großes Ganzes, war ein Rädchen in einer riesigen Maschine. Jana Hensel nennt das „Perspektivlosigkeit“, ist aber gleichzeitig ehrlich genug, einen gewissen Neid zuzugeben. Denn es kann auch sinnstiftend und beruhigend sein, sich als Teil einer Gruppe fühlen zu können. Heute will man das natürlich nicht mehr. Jeder ist sich selbst der nächste. Das Denken kreist nur um das eigene Individuum. Die Frage darf gestattet sein, ob man das, was auch zur Zersplitterung der Gesellschaft beiträgt, nun Fortschritt nennen soll.

Die beiden Mütter-Kapitel bieten den meisten Mehrwert in einem Buch, das ansonsten eher zufällig wirkt. Vielleicht war das auch den Autorinnen klar und sie haben die beiden Essays deshalb in der Mitte des schmalen Bandes platziert. In der Elterngeneration bietet sich die Möglichkeit, eine Rückschau zu halten – eine Sache, die die Analyse ungemein erleichtert. Im Rest des Buches finden sich dagegen kaum Erkenntnisse, die irgendeine Art von Allgemeingültigkeit für sich beanspruchen könnten.

Das heißt jedoch nicht, dass die Autorinnen sich jeglicher Wertung enthielten. Ganz im Gegenteil! Raether bevorzugt die Innenansicht. Auf geradezu intime Weise nimmt sie den Leser an die Hand und erkundet mit ihm ihre eigene Seelenlandschaft. Geht eine Affäre in die Brüche, so spürt sie den Gründen nach, und der Leser begleitet sie Stück für Stück, wenn ihr Muster in ihrem Verhalten bewusst werden. Jana Hensel ist da anders. Die Gründe für ihr Scheitern (in einer Beziehung, am Arbeitsplatz) sucht sie nicht in erster Linie in sich selbst, sondern in anderen. Und natürlich wird sie fündig. Mal sind es die bösen tradierten Männerstrukturen in einer Berliner Redaktion, dann die reaktionären Familienvorstellungen anderer Leute. Immer jedoch überanalysiert Hensel ihre Deutungsmuster und überreizt sie dadurch.

Was bleibt von „Neue deutsche Mädchen“? Nicht viel, leider. Hensel und Raether haben ein wirklich lesenswertes, ja sogar kurzweiliges Buch über ihr eigenes Leben geschrieben, das sich kaum auf eine ganze Generation verallgemeinern lässt. Sie verweigern sich jeglicher Theorie und konfrontieren den Leser mit ihren persönlichen Geschichten, um ihn dann mit der eventuellen „Deutung“ allein zu lassen. Wie Jana Hensel im Essay „Über eine ostdeutsche Herkunft“ festgestellt hat, geht es nur um das Individuum. Auch „Neue Deutsche Mädchen“ kreist nur um diesen Götzen, und so stellt sich beim Leser leider Leere ein, wo er wohl Erkenntnis erwartet hatte.

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