Der Roman „Gestern war Heute – Hundert Jahre Gegenwart“ von Ingeborg Drewitz beschreibt das Leben einer kleinbürgerlichen Familie in Berlin vom Geburtsjahr der Hauptfigur Gabriele 1923 bis zum Jahr 1978. Dabei zweigt sich vor allem, was in den Familien an Problemen, Gewohnheiten und vor allem Rollenverhältnissen gleichgeblieben ist und was sich verändert hat. So ist zum Beispiel das unterschiedliche Emanzipationsbestreben der verschiedenen Frauen in dieser Familie ein zentrales Thema des Romans: Die Urgroßmutter und die Großmutter Gabrieles zweifeln ihre Rolle als Hausfrau und Mutter gar nicht an. Aber schon Susanne, die Mutter der Hauptperson, hat eine Chance auf Karriere, weil sie gelernt hat Klavier zu spielen.
Als Gabriele auf die Welt kommt gibt sie diese Zukunftspläne jedoch zu Gunsten der Familie auf. Gabriele ist in dieser Hinsicht eine gegensätzliche Figur. Schon an den ersten Wörtern: „Ich“ und „Heute“ (S. 26) die das Kind spricht kann man ihren Drang nach Selbstverwirklichung erkennen. Sie engagiert sich in der Nazizeit für verfolgte Randgruppen und später gilt ihr Engagement einer Zeitschrift, die sie mit einigen anderen zusammen herausgeben möchte. Als sie dann mit der Begründung „Warum eigentlich nicht“ (S.188) heiratet und auch bald ein Kind bekommt, verwirft sie ihre Emanzipationspläne und schlüpft in genau die Frauenrolle hinein, die sie eigentlich vermeiden wollte.
Doch irgendwann bemerkt sie, dass sie so nicht glücklich werden kann, verlässt ihren Mann Jörg und zieht mit den beiden Kindern zu einer Freundin. Über diese Zeit erfährt man als Leser nur das, was Gabriele in ihren Briefen an Jörg schreibt. Dies hat den Nachteil, das man nur Gabrieles Sicht der Dinge erfährt und eine Gegendarstellung von Jörgs Standpunkt aus ausbleibt. Nach dem Tod der jüngeren Tochter Cornelia, die in der Schule beim Geländerrutschen verunglückt, kehrt Gabriele wieder zu Jörg zurück, weil sie an der Selbstverwirklichung zweifelt, die ihrer Meinung nach durch den Tod immer wieder aufgehoben werden würde.
Bei der letzten Generation in diesem Buch, zeigen sich zwei unterschiedliche Frauenbilder: Die älteste Tochter Renate ist in der 68er-Bewegung engagiert und setzt sich für die „Emanzipation aller“ (S. 369) ein. Sie verlässt dazu die Familie und lebt in einer Wohngemeinschaft mit anderen Jugendlichen zusammen. Doch auch sie kann ihre Ziele nicht erreichen, denn am Ende steht sie unbeachtet auf der Straße und verteilt Flugblätter gegen die Fußball Weltmeisterschaft in Argentinien 1978. Das dritte und letzte Kind Claudia, das erst auf die Welt kommt, als Gabriele wieder bei Jörg lebt, verhält sich vollkommen anders: Sie stellt die Rolle der Frau gar nicht in Frage, heiratet früh und bringt einen Sohn zur Welt.
Deutsche Geschichte
Doch der Roman handelt nicht nur von der Entwicklung der Frauen, sondern beinhaltet auch viele geschichtliche Inhalte, die natürlich immer aus der Perspektive der Personen geschildert werden. Besonders sind Themen wie der Zweite Weltkrieg, der Mauerbau und die 68er-Bewegung in das Romangeschehen mit eingearbeitet. Manche Geschehnisse fallen dafür ganz oder zum Teil weg, weil sie für Gabriele und die Menschen in ihrem Umfeld nicht so wichtig sind.
Schreibweise
Ein Problem in dem Roman stellt jedoch die Schreibweise von Ingeborg Drewitz dar: So erschweren häufige Perspektivenwechsel, unvollständige Sätze und fehlende Zeichenangaben bei wörtlicher Rede das Lesen. Gleichzeitig macht dies das Buch jedoch interessanter, weil es auch beim zweiten Lesen noch nicht langweilig wird.
Wer sich also für die oben beschriebenen Themen interessiert und sich mit einem anspruchsvolleren Schreibstil anfreunden kann, der kann sich das Buch getrost kaufen.
Leseprobe:
„Es ist alles so schnell gegangen, Jörgs Anstellung bei Schering, im Altbau, sehr beengt, aber Chemie – da wird was draus! Und seine Frage. Und ihre zögernde Antwort: Warum eigentlich nicht? Warum eigentlich nicht. Sie mögen sich. Sie erzählt ihm von dem Sommertag in Grünau. Ganz nüchtern, ganz offen wollen sie beginnen. Seine Mutter ist gestorben, ein Männerhaushalt, der Vater und der Sohn brauchen eine Frau.
Angst, Angst vor dieser Idylle: Mann und Frau, vielleicht auch ein Kind oder zwei. Angst vor der Immer-Wiederkehr: Mann und Frau und Mann und Frau. Angst vor dem Leben, das Mutter gelebt hat und Großmutter und Urgroßmutter: Draußen die Welt und hinter den vier Wänden – nein keine Geborgenheit.
Bisher hat sie doch immer gehofft, mit jedem Jahr deutlicher zu werden, endlich wieder so unbefangen Ich zu sagen, wie als Kind. ICH.“ (S. 188)
Die Autorin
Ingeborg Drewitz (* 10. Januar 1923 in Berlin als Ingeborg Neubert; † 26. November 1986 in West-Berlin) war eine deutsche Schriftstellerin. (Quelle: Wikipedia.de)
Werke
Dramen
Unio mystica – ein Spiel. 1949
Alle Tore werden bewacht. 1955
Hörspiele
Das Labyrinth. 1962
Der Mann im Eis. 1976 ISBN 3-15-009834-3
Hörspiele. Atelier im Bauernhaus, Fischerhude 1977
Erzählungen
Und hatte keinen Menschen. Eckart-Verlag, Berlin/Witten 1955
Im Zeichen der Wölfe. Sachse & Pohl, Göttingen 1963 (enthält u. a. Der Hund)
Eine fremde Braut. Erzählungen. Claudius-Verlag, München 1968
Der eine, der andere. Stuttgart: Werner Gebühr 1976. Neuausgabe: Goldmann TB 6386, 1981, ISBN 3-442-06386-8
Bahnhof Friedrichstrasse. Hrsg. von Agnes Hüfner. Claassen, Hildesheim 1992, ISBN 3-546-00021-8
Romane
Der Anstoß. Schünemann, Bremen 1958
Das Karussell. Sachse & Pohl, Göttingen 1969
Gestern war heute: Hundert Jahre Gegenwart. Claassen, Düsseldorf 1978 ISBN 3-546-42185-X. Zahlreiche Neuausgaben.
Oktoberlicht oder Ein Tag im Herbst. Nymphenburger, München 1969. Neuausgabe: Fischer TB 5479, Frankf./M. 1983, ISBN 3-596-25749-2
Wer verteidigt Katrin Lambert? Stuttgart: Werner Gebühr 1974. Neuausgabe: Fischer TB 1734, Frankf./M. 1976, ISBN 3-596-21734-2
Das Hochhaus. Stuttgart: Werner Gebühr 1975. Neuausgabe: Goldmann TB 3825, München 1979, ISBN 3-442-03825-1
Eis auf der Elbe. Tagebuchroman. Claassen, Düsseldorf 1982, ISBN 3-546-42188-4. Neuausgabe: Goldmann TB 6740, München 1984, ISBN 3-442-06740-5
Eingeschlossen. Claassen, Düsseldorf 1986. Neuausgabe: Goldmann TB 8947, München 1988, ISBN 3-442-08947-6
Autobiographische Prosa
Mein indisches Tagebuch. Radius-Verlag, Stuttgart 1983. Neuausgabe: Rowohlt, rororo 7993, Reinbek 1986, ISBN 3-499-17993-8
Hinterm Fenster die Stadt. Aus einem Familienalbum. Claassen, Düsseldorf 1985. Neuausgabe: Goldmann TB 9205, München 1988, ISBN 3-442-09205-1
Lebenslehrzeit. Autobiographie 1932-1946. Radius-Verlag, Stuttgart 1985, ISBN 3-87173-706-2
Die ganze Welt umwenden: ein engagiertes Leben. Claassen, Düsseldorf 1987. Neuausgabe: Goldmann TB 9391, München 1989, ISBN 3-442-09331-7
Sachbücher
Die dichterische Darstellung ethischer Probleme im Werke Erwin Guido Kolbenheyers. Univ. Diss., Berlin 1945
Berliner Salons: Gesellschaft und Literatur zwischen Aufklärung und Industriezeitalter. Haude & Spener, Berlin 1965, Schriftenreihe: Berlinische Reminiszenzen Band 7.
Leben und Werk von Adam Kuckhoff. Friedenauer Presse, Berlin 1968
Bettine von Arnim. Romantik – Revolution – Utopie. Biographie. Diederichs, Düsseldorf/Köln 1969, Claassen, Hildesheim 1992, ISBN 3-546-00025-0
Zeitverdichtung: Essays, Kritiken, Portraits; gesammelt aus 2 Jahrzehnten. Europaverlag, Wien/München/Zürich 1980, ISBN 3-203-50745-5
Kurz vor 1984. Radius-Verlag, Stuttgart 1981
Gekürzte Neuausgabe: 1984 – am Ende der Utopien: Literatur und Politik; Essays. Goldmann TB 6699, München 1984, ISBN 3-442-06699-9
Schrittweise Erkundung der Welt. Reise-Eindrücke. Europaverlag, Wien u. a. 1982, ISBN 3-203-50745-5
Unter meiner Zeitlupe. Porträts und Panoramen. Europaverlag, Wien u. a. 1984
Junge Menschen messen ihre Erwartungen aus, und die Messlatten stimmen nicht mehr – die Herausforderung: Tod. Radius-Verlag, Stuttgart 1986, ISBN 3-87173-724-0
Haben eigentlich plötzlich alle Erwachsenen den Verstand verloren? Die Lehrer brummen Miras Klasse eine komplette Woche mit Tests und Klassenarbeiten auf, die Eltern von Miras Freundin Liva sind nur noch am Streiten und Miras Mama hat sich in den Kopf gesetzt, dass sie mit Kind, Kegel und Hausboot nach Bornholm ziehen will.
(Verlagsinfo)
Bei Mira schlägt inzwischen die Pubertät voll zu und zwischen ihr und ihrer Mama knirscht es gewaltig. Gut, dass es Miras Oma gibt, die für beide immer ein offenes Ohr hat. Doch dann passiert das Unvorstellbare: Miras Oma stirbt, und für Mira bricht eine Welt zusammen. Wie kann das sein, wo ihre Oma doch noch voller Tatendrang war und ganz bald mit Mira nach Paris fahren wollte?! So wird aus der geplanten Oma-Mira-Reise eine Mutter-Tochter-Reise – mit traurigen, aber auch vielen unbeschwerten Momenten, durch die Mira und ihre Mama wieder näher zueinander finden. (Verlagsinfo)
1. Geschichte 1: Wirbel um Fohlen Felix (von Vincent Andreas) 2. Hufeisen-Quiz zu Geschichte 1 3. Geschichte 2: Rettung bei Nacht (von Vincent Andreas) 4. Hufeisen-Quiz zu Geschichte 2 5. Pferde-Infos (von Silke Behling) 6. Lösungen
Mein Eindruck:
Auf unsere Leseanfänger warten zwei tolle Geschichten mit „Bibi und Tina“. Begleitet sie bei ihren Abenteuern und taucht ein in die tolle Welt der Buchstaben und Worte …
|Im Jahre 1932 schrieb Aldous Huxley seinen Roman „Brave New World“, eine Anti-Utopie, deren Gesellschaftssystem wesentlich darauf beruht, dass man in der Lage ist, Menschen künstlich zu reproduzieren und sie physisch und psychisch ihrer zukünftigen Funktion im Staat anzupassen. Angesichts des aktuellen Standes der Wissenschaft erscheint Huxleys Utopie in weiten Teilen greifbar. Die Gentechnik entwickelt sich mit großen Schritten vorwärts. Was 1932 noch utopisch war, ist in der Gegenwart bereits greifbar. Da verwundert es nicht, dass der Begriff „schöne neue Welt“ bereits zu einem geflügelten Wort geworden ist. Die Möglichkeiten, die sich durch die Gentechnik ergaben und zukünftig noch ergeben werden, stellen neue Anforderungen hinsichtlich der Grenze zwischen dem Möglichen und dem Nötigen (dem ethisch-moralisch Vertretbaren) an den Menschen.
Der Roman ist im Original leicht verständlich und für eine Lektüre „zwischendurch“ geeignet. Den Detailreichtum einer Science-Fiction darf der Leser nicht erwarten. Die technischen Verfahren der Eugenik z. B. wurden von Huxley nur skizziert. Ich persönlich schätze den Roman wegen seiner fortwährenden Aktualität und seines (moral-)philosophischen und ethischen Diskussionspotenzials.
Die deutsche Übersetzung kann ich nicht empfehlen, da man den Handlungsort verlegte und die Namen der Protagonisten verändert hat, was meiner Meinung nach einen unangemessener Eingriff in die Rechte des Autors darstellt.
Der Weg zur „Schönen neuen Welt“
Bereits in den Werken der 20er Jahre entwickelt Huxley Ideen, die in seinem 1932 erstmals veröffentlichtem Roman „Brave New World“ (dt. „Schöne neue Welt“) wieder auftreten und neu verknüpft werden.
In „Crome Yellow“ (1921) zum Beispiel findet man bereits die Idee zur Trennung von Eros und Fortpflanzung in der Vision eines Zukunftsstaates. Es taucht ebenfalls die Anlage einer streng hierarchisch aufgebauten Gesellschaftsordnung auf, in der die Elite mit Hilfe von Suggestion und Konditionierung ihre Gesellschaftsmitglieder lenkt. In seinen „Proper Studies“ (1926/27) zeichnet er bereits die Planungsskizze der Gesellschaft der „Brave New World“ als eine mit Hilfe der Eugenik konstruierte, pyramidenförmige Gesellschaft.
In „Point Counterpoint“ (1928) findet man das Thema der aus Büchern gewonnenen, vergeistigten und idealisierten Liebe, wie sie John Savage und zum Teil auch Bernhard Marx in der |brave new world| empfinden werden. Außerdem sieht man in diesem Roman deutlich die Weiterentwicklung der Vision aus „Crome Yellow“ in Gestalt einer vergnügungssüchtigen, in sexueller Promiskuität lebenden jungen Witwe, in der damit bereits wesentliche Charakterzüge der Frauen in der schönen neuen Welt vorgezeichnet sind.
Ein Jahr vor der Veröffentlichung des Romans „Brave New World“, wird der Essayband „Music at Night“ (1931) herausgegeben, in dem sich die thematischen Stränge noch einmal verdichten; zum Beispiel: systematische Eugenik und Verringerung der Weltbevölkerung, leisure-syndrom (Langeweile aufgrund von zu viel Freizeit) in industrialisierten Gesellschaften, Beschäftigung mit Kultur als Zeitverschwendung und fundamentale Bedrohung des industriell gewollten Massenkonsumverhaltens, Kastensystem und dementsprechende Bildung (bzw. Nichtbildung) sowie synthetische Drogen.
Huxley entwickelte also bereits Jahre vor „Brave New World“ Ideenstränge, die er immer wieder aufgriff und weiterentwickelte, bis sie schließlich in diesem Roman neu zusammengestellt wurden. Waren Huxleys Werke bis zu diesem Zeitpunkt immer Ideenromane oder Essays, schrieb er mit „Brave New World“ seine erste (negative) Utopie.
Inhalt
Als |novell of ideas| konzipiert, stellt Huxley dem Leser in „Brave New World“ eine Welt vor, in der wissenschaftliche Ideen, Methoden und Praktiken im Vordergrund der Gesellschaft stehen.
Der Plot ist im Jahre 632 nach Ford (dem „Erfinder“ der Fließbandproduktion) angesiedelt. Wie in George Orwells „1984“ und Samjatins „Wir“, mit denen Huxleys Werk sich immer wieder vergleichen lassen muss, so haben wir es auch in „Brave New World“ mit einem totalitären System zu tun, in dem zehn Controller (dt. Weltaufsichtsrat) über das zweifelhafte, angenormte Glück der Bewohner eines Weltstaates wachen.
Wesentlich für den Roman ist eine Gegenüberstellung von der auf Glück genormten Gesellschaft der schönen neuen Welt und ihrer Außenseiter.
Helmholtz Watson ist seiner Kaste geistig überlegen und versucht eigene Wege zu gehen. Sein Freund Bernhard Marx – wie er ein Alpha-Plus – ist Außenseiter aufgrund eines Fabrikationsfehlers, durch den er nicht dem Idealbild der Kaste entspricht.
Marx trifft während eines Urlaubs mit Lenina Crown, zu der er unerlaubte Liebesgefühle entwickelt hat, in einem Reservat auf John Savage, der dort bereits eine Außenseiterfunktion einnimmt und sich auch als Außenseiter mit der, von ihm nach einem Shakespeare-Zitat benannten, brave new world auseinandersetzen muss. Vor allem Watson und Savage bilden die Opposition und scheitern. Marx und Watson werden auf eine Insel verbannt. John Savage entzieht sich zunächst dem Experiment des controllers Mustapha Mond und begeht später Sebstmord.
Stabilität
Das zentrale Ziel der Gesellschaft formuliert der controller als Stabilität. Dabei handelt es sich sowohl um wirtschaftliche und soziale Stabilität des gesamten Systems als auch um individuelle Stabilität eines jeden Einzelnen. Erreicht wird diese mittels einer konsequenten und systematischen Eugenik, postnataler Konditionierung und Suggestion. Dazu zählen künstliche Zeugung, das Bokanowsky-Verfahren (Prinzip der Massenproduktion übertragen auf die Biologie), Neo-Pawlowsche Reflexnormung und Hypnopädie. Diese biologischen Verfahren ersetzen die physische Gewalt, die in den Antiutopien „1984“ und „Wir“ zum Erhalt der Macht aufgebracht werden muss. Hinzu kommen eine lebenslange Jugendlichkeit, Kastenwesen, begrenztes Wissen und eine promiskuitive Sexualität. Der Staat muss den Menschen mit allen erwähnten Mitteln zum Zweck der sozialen Stabilisierung ganz klar die Freiheit entziehen. Doch die Bewohner dieser Welt empfinden den Mangel an Freiheit nicht, da alles getan wird, um sie von der Retorte an mit und in ihrem Leben zufrieden zu stellen. Sie sind glücklich, weil das universelle Glück ihnen angenormt wurde und das Sklaventum annehmbar macht.
Weil keine Fordsche Massenproduktion existieren kann, wenn es keinen Massenkonsum gibt, ist die Gesellschaft im Grunde auf die Dynamik des Konsums ausgerichtet. Sie wird in die Konditionierung mit einbezogen: „The more stiches, the less riches. (…) Mending is antisocial.“ Als konsumorientierter, guter Bürger der brave new world wirft man beschädigte Sachen weg und kauft neue. Materielle Bedürfnisse werden ohne Aufschub befriedigt.
Liebe zur Natur fördert den Konsum nicht in ausreichendem Maße, deshalb wird den Menschen Hass auf die Natur angenormt. Doch gleichzeitig werden sie auf die Liebe zum Freiluftsport konditioniert, denn banale Sportarten wie Obstacle Golf oder Electromagnetic Golf erfordern großen materiellen Aufwand.
Kultur und Kunst werden abgelehnt, da den Menschen die nötigen Gefühle fehlen. Außerdem fördern Kunst und Kultur keinen Verbrauch von Konsumgüter. Der Mensch in Huxleys Utopie soll sich nur zwischen Arbeit und kollektivem Konsumvergnügen bewegen. Das verhindert seine Isolation. Das verhindert Reflexion. Die Manipulation der Menschen erfolgt folglich neben den politischen ganz klar auch zu wirtschaftlichen Zwecken.
So produziert der eugenische Wirtschaftszweig den perfekten Menschen für die „consumer society“. Die Eugenik hält die Population stabil, welche wiederum die Wirtschaft stabilisiert, indem sie konsumiert. Dieses principum mobile muss reibungslos laufen, damit die Gesellschaft funktioniert. Deshalb gibt es zur Sicherung der Stabilität zusätzlich die Droge Soma. Sie wirkt euphorisierend, narkotisierend und weckt angenehme Halluzinationen. Sie bietet einen Urlaub von der Wirklichkeit ohne Nebenwirkungen. Man kann mit ihr aus einer Situation persönlichen Ungleichgewichts fliehen, um mit dem Aufwachen wieder seinen gewohnten Platz in der Gesellschaft einzunehmen. Die Gesellschaft legalisiert diese Droge, um das statische Glück aufrechtzuerhalten. Ein Leben ohne negative Gefühle ist gleichzeitig ein Leben ohne Konflikte. Soma hilft, den Konflikten aus dem Weg zu gehen.
Wohin nun aber in einer glücklich-zufriedenen Gesellschaft mit den menschlichen Aggressionen und der überschüssigen Energie? Die Unterhaltungsindustrie hat so genannte |feelies| entwickelt. Das sind Filme mit einem simplen didaktischen Plot, die in speziellen Kinosesseln sitzend gesehen werden müssen, wobei durch Sensoren in den Sesseln menschliche Nerven stimuliert werden und der Zuschauer dadurch die Gefühle der Darsteller teilt. „Take a hold of those metal knobs on the arms of your chair,‘ wispered Lenina. (…) That sensation on his lips! He lifted a hand to his mouth, the titillation ceased; let his hand fall back on the metal knobs, it began again. … the stereoscopic lips came together again, and once more the facial erogenous zones of six thousand spectators in the Alhambra tingled with almost intolerable galvanic pleasure. “
Man erlebt nicht nur sexuelle Stimulation, sondern auch eine katartische Wirkung über Schmerzen und Angst bis zu Freude und Erleichterung. So sorgt die Unterhaltungsindustrie dafür, dass Emotionen durch den Konsum von Unterhaltung abgebaut werden und einem Gefühl von Entspannung weichen.
In den Kinos laufen ebenso die Feelytone-News, und es gibt ein Hourly Radio. Das sind die beiden Informationsquellen, die wie alles in der brave new world der staatlichen Kontrolle und damit der Zensur unterliegen. Es gibt keinen Pluralismus in dieser Gesellschaft. Damit ist der Weg für die einseitige Massenbeeinflussung frei.
Für dem Abbau überschüssiger Energie und Emotionen existieren neben den feelies auch orgiastisch-gottesdienstähnliche Rituale wie der Solidarity Service. Wenn man den Konsum an sich als Religionsersatz betrachtet, finden wir in Ford den Gottesersatz. Für Our Ford werden Community Sings und Solidary Services abgehalten. Außerdem gibt es auch die Ford Day Celebration. Der controller Mustapha Mond wird als His Fordship bezeichnet, seine Äußerungen als: „Straight from the mouth of Ford himself.“ Er ist also die legitime Vertretung Fords in der literarischen Gegenwart. Die gottesdienstähnlichen Rituale der Gemeinschaftsandachten dienen wie die Unterhaltungsindustrie lediglich dazu, kontrolliert zu stimulieren, um die Emotionen abzubauen und zusätzlich das Gemeinschaftsgefühl zu stärken. Religion, wie heutige Leser sie auffassen, wird als Aberglaube angesehen.
Die Gegenwelt
Findet der Leser in der brave new world die moderne Gegenwartsgesellschaft der Utopie, wird er mit einem Ausflug in ein Reservat in eine andere Welt geführt. Sie mag für den Leser einerseits vertrauter sein, da sie eine Gesellschaft mit der heutigen sozialen Struktur zeigt. Doch ihre Primitivität mutet genauso befremdlich an wie die stabilisierte Gesellschaft der brave new world.
So empfindet Lenina es dort angesichts des allgegenwärtigen Schmutzes als |oppressively queer| und mit dem Alterungsprozess, mit Hässlichkeit und Krankheit konfrontiert als terrible und awful, denn jemand aus der fortschrittlichen brave new world kann sich nicht in das rückschrittliche Leben eingliedern, da der gewohnte Komfort immer vermisst wird, wie der Autor exemplarisch an Johns Mutter vorführt. Dennoch erkennt Lenina in einem Fruchtbarkeitsritual der Indianer zumindest anfangs Solidary Services, Ford’s Day Celebrations und lower-caste Community Sings wieder, kann also diesen Lebensbereich der Indianer mit ihrem Leben verbinden.
Das Reservat ist somit kontrastierend entworfen, bildet jedoch keinen völligen Gegensatz und ist ebenfalls nicht positv zu nennen. Dazu heißt es im Vorwort des Romans: „The Savage is offered only two alternatives, an insane life in Utopia, or the life of a primitive in an Indian village, a life more human in some respects, but in others hardly less queer and abnormal.“
Doch kann Huxley zugleich mit dem Reservat die Außenseiterfigur des John Savage einführen, eines völlig Fremden in der brave new world und, bedingt durch die Herkunft seiner Mutter, ebenfalls Außenseiter im Reservat. So ist die Welt des Reservats keine Alternative, sondern ein der brave new world entgegengesetzter Wahnsinn einer primitiven Welt mit Fruchtbarkeitskult und Büßertobsucht – und gleichzeitig ein literarischer Kniff.
Konflikte in einer konfliktlosen Welt
Natürlich darf es in einer stabilen Gesellschaft keine Konflikte geben. In Samjatins „Wir“ werden Oppositionelle hingerichtet. Falls sie jedoch gebraucht werden, so wie der Raketeningineur D-503, werden sie eugenisch umgeformt, so dass sie sich wieder in die Gesellschaft integrieren lassen. Auch Orwell lässt diese Integration nach erfolgreicher Gehirnwäsche als Alternative für den Protagonisten offen. Der Leser weiß jedoch auch, dass selbst Leute, die später hingerichtet werden, solch einer Gehirnwäsche unterzogen werden, damit sie mit dem Gefühl sterben, sie hätten es verdient, und dieses Gefühl bei ihrer Hinrichtung an die Zuschauer weitervermitteln.
Bei Huxley münden die Konflikte in einer Schlussdebatte mit dem controller (Kap. IX-XVII), der zunächst Helmholtz und Bernhard über ihre Verbannung auf eine Insel informiert. Während Helmholtz das gelassen aufnimmt, reagiert Bernhard mit so viel Angst und Entsetzen, dass er weggebracht und beruhigt werden muss. Mustapha Mond erzählt, dass er selbst einmal vor der Wahl stand, auf eine Insel verbannt oder controller zu werden; die Freiheit und die Wahrheit der Wissenschaft mit allen Konsequenzen oder controllership und die Stabilität mit all ihren Konsequenzen zu wählen. Er entschied sich für Letzteres und hat damit bezahlt, sich nicht mehr der Wissenschaft hingeben zu können. Diese Entscheidung wird auf Watson übertragen. Er bezahlt dafür, zu interessiert an Schönheit und damit Kunst zu sein. An dieser Stelle tritt Watson ab.
Die individuelle Entscheidung des controllers erweist sich als dieselbe Entscheidung, welche die Menschheit nach einem neunjährigen Krieg treffen musste. „God isn’t compatible with machinery and scientific medicine and universal happiness. You must make your choice. Our civilization has chosen machinery and medicine and happiness.“
Die Stabilität funktioniert also als logische Konsequenz aus der grundsätzlichen Wertentscheidung für happiness, machinery und medicine, damit aber auch für Frieden, Sicherheit, materiellen Wohlstand, Befreiung sowohl von negativen als auch positiven Gefühlen, universelles Glück und Unfreiheit. Es wird keine Entwicklung mehr geben. Die Zukunft ist immerwährende Gegenwart. Deshalb dürfen keine Außenseiter (destabilisierende Individuen) geduldet werden, werden Marx und Watson verbannt, muss der Autor John Savage sterben lassen.
Huxley hin oder her – es bleibt die Frage: Wie weit sind wir heute noch von der schönen neuen Welt enfernt? Ein Beitrag zu dieser Frage wurde im September/Oktober 1999 in der „Zeit“ diskutiert. Diese Diskussion ist als die Sloterdijk-Debatte in der Öffentlichkeit bekannt geworden.
Die „Schöne neue Welt“ unserer Zeit
An der Sloterdijk-Debatte in der „Zeit“ beteiligten sich namhafte Philosophen, Rechtswissenschaftler und Bioethiker wie Thomas Assenheuer, Jürgen Habermas, Manfred Frank und Ernst Tugendhat, um nur einige zu nennen.
Sie schätzten Sloterdijks Vortrag „Regeln für den Menschenpark“ (1997, 1999) einhellig für mehr provokativ-assoziativ als kompentent ein. Es wurde kritisisiert, dass eine klare These und rationale Handlungsempfehlungen fehlen, und stattdessen der Schauder, der heute noch von Nietzsches Philosophie ausgeht, ästhetisiert und sein Kontext nicht beachtet wurde. Anstatt mit Platon, „dessen Ruhm sich nicht gerade auf Beiträgen zur Naturwissenschaft gründet“, Heidegger und Nietzsche zu argumentieren und sich hinter ihnen zu verstecken, hätte brandaktuelles Material aus der Bioethik verwendet werden sollen (M.Frank).
Weitgehend einig war man sich jedoch darüber, dass die Anwendung gentechnischer Methoden heute bereits außer Frage steht. Die pränatale Diagnostik (PND; Ultraschall, Triple test, Chorionzottenbiopsie, Amniozentese) bietet die Möglichkeit, Krankheiten frühzeitig zu erkennen und unmittelbar nach der Geburt, mitunter sogar noch im Uterus zu behandeln. Außerdem erleichtert es die Selektion behinderten Lebens. Da die Mehrzahl behinderter Kinder heute abgetrieben wird, findet eine stille Selektion bereits seit Jahren statt. Was in der Sloterdijk-Debatte also noch theoretisch diskutiert wurde, ist längst schon gegeben. Inzwischen wurde der „genetische Bauplan des Menschen“ bereits zum großen Teil dechiffriert. Damit erhofft sich die Wissenschaft weitere Möglichkeiten u. a. zur Früherkennung von Erbkrankheiten.
Mit Hilfe der Polkörperdiagnostik und Präimplantationsdiagnostik (PID) kann Leben in vitro erzeugt und bewusst selektiert werden, da sie innerhalb von 24 Stunden bereits Aufschluss darüber gibt, ob das Embryo schädliches Erbgut trägt. Somit öffnet die PID „die Tür zur schönen neuen Welt des Baby-TÜVs.“
Die künstliche Insemination bietet theoretisch zusätzlich zu der Option auf ein gesundes Kind, wie es die PND und PID ermöglichen, auch noch die Möglichkeit, das Geschlecht seines Kindes selbst zu bestimmen, da Spermien mit einem weiblichen und Spermien mit männlichem Chromosomensatz bis zu einem gewissen Grade getrennt werden können.
Die Schwangerschaft mit den bereits besprochenen Möglichkeiten ist ein moralisches Minenfeld geworden. Vermutlich wird es nicht bei der negativen Auslese bleiben, sondern früher oder später werden Eltern auch positive Forderungen stellen: größer, schöner, intelligenter. Was so lange nur Wunsch war und dem genetischen Zufall überlassen wurde, könnte bald durch genetische Planung in den Bereich des Möglichen treten. Schon heute ist ein Verlust der Schicksalsakzeptanz zu erkennen. Junge Eltern erwarten von Ärzten nicht nur Unterstützung während der Schwangerschaft, sondern ein Gütesiegel auf ein gesundes Kind.
PND, PID … Die Grenzen des Machbaren werden immer mehr ausgeweitet. Dennoch kann sich jedes Retortenkind sicher sein, dass es einzigartig auf der Welt ist; das Produkt zweier biologischer Eltern. Doch spätestens seit Klonschaf Dolly weiß die Weltöffentlichkeit, dass man Nachkommen auch aus einer einzigen Zelle und ganz ohne den biologischen Akt der Befruchtung züchten kann. Das Klonverfahren Dollys entspricht zwar nur bedingt dem Huxleyschen Bokanowsky-Verfahren, aber den Kerngedanken der künstlichen Reproduktion, der Züchtung identischer Lebewesen haben sie dennoch gemein. Und Nachrichten von angeblichen Klonbabys zeigen, dass die Wissenschaft beim Klonen von Tieren nicht Halt macht.
Der wissenschaftliche Fortschritt bietet den Menschen neue Möglichkeiten, die zugleich die menschlichen Wertesysteme erschüttern. Wird man den Menschen nicht länger als ein Produkt des Zufalls, sondern als das einer bewussten Entscheidung sehen müssen? Wissenschaftler stimmen darin überein, dass es nicht möglich sein wird, das menschliche Erbgut in toto umzukrempeln, doch die gesellschaftliche Moral verändert sich stark. Deshalb wird es in nächster Zukunft wichtig sein, die Grenzen der experimentellen Zweckmäßigkeit festzulegen, damit man zwischen falsch und richtig unterscheiden kann, und die Ethik dem Fortschritt nicht länger hinterherhinkt.
Fraglich ist nur, worauf sich ein Codex der Anthropotechniken, wie ihn Sloterdijk sich wünscht, basieren soll. Kann der Ersatz der Ethik nur aus der Züchtung selbst kommen? Oder sollte man sich bei der bei der Grenzfestlegung auf ethische Werte wie Freiheit und Verantwortung stützen? Was als Utopie Huxleys began und als Sloterdijk-Debatte fortgesetzt wurde, ist noch lange nicht abgeschlossen.