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Holdstock, Robert – Hollowing, The (Ryhope Wood Zyklus 4)

_Der Mythenwald auf dem Prüfstand_

Der verletzte Junge Alex Bradley verschwindet im geheimnisvollen Ryhope-Forst in Herefordshire, England. Sein verzweifelter Vater Richard, der ihn schon tot geglaubt hat, muss versuchen, ihn von dort zurückzuholen – nicht nur, um die eigene Familie wieder zu heilen, sondern auch um Alex und die Geister-Welt, die sich im Ryhope-Forst aufgrund von Alex‘ Alpträumen einer Katastrophe nähert, vor der Vernichtung zu bewahren. Diesmal stellt der Autor sein gesamtes fiktives Universum auf den Prüfstand.

„The Hollowing“ ist eine eigenständige Fortsetzung zu den Bänden „Mythenwald“ und „Tallis im Mythenwald“, die beide bei |Bastei Lübbe| verlegt wurden. Der Verlag wollte diese Fortsetzung wohl aufgrund der negativen Resonanz auf die Übersetzung von „Tallis im Mythenwald“ nicht veröffentlichen. Das deutet auf ein Problem hin: Die evokative Sprache, derer sich Holdstock bedient, ist nur zu einem Teil angemessen und zutreffend ins Deutsche zu übertragen. Und wenn es gelänge, so würde die Übersetzung wie ein Text aus dem frühen 19. Jahrhundert klingen.

_Der Autor_

Robert Paul Holdstock, geboren 1948, begann mit dem Schreiben schon 1968, machte sich aber erst 1976 als Schriftsteller selbständig und schrieb daraufhin eine ganze Menge Genre-Fantasy. Dabei entstanden wenig interessante Trilogien und Kollaborationen an |Sword and Sorcery|-Romanen, unter anderem mit Angus Wells.

Erst 1983 und 1984 taucht das für die Ryhope-Sequenz wichtige Motiv des Vater-Sohn-Konflikts im Roman „Mythago Wood“ auf, für den der Autor den |World Fantasy Award| erhielt. Beide Seiten werden getrennt und müssen wieder vereinigt werden. Das Besondere an dieser emotional aufgeladenen Konstellationen ist jedoch, dass die Bewegung, die dafür nötig ist, in einer Geisterwelt stattfindet: dem Ryhope-Forst.

In Holdstocks keltischer Fantasy befindet sich in diesem Urwald, der dem kollektiven Unbewussten C. G. Jungs entspricht, erstens ein Schacht, der mit weiterem Vordringen ins Innere immer weiter zurück in der Zeit führt. Eines der wichtigsten und furchtbarsten Ungeheuer, Urscumug, stammt beispielsweise aus der Steinzeit. Und zweitens finden bei diesen seelischen Nachtreisen durch die Epochen permanent Verwandlungen, Metamorphosen statt. So verwandelt sich die Hauptfigur Tallis in „Lavondyss“ schließlich in eine Dryade, einen Baumgeist. Das ist äußerst faszinierend geschildert.

Am Ende der Nachtreisen warten harte Kämpfe, die auch in psychologischer Hinsicht alles abverlangen, was die Kontrahenten aufbieten können. Und es ist niemals gewährleistet, dass die Hauptfiguren sicher und heil nach Hause zurückkehren können. Denn im keltischen Zwielicht, das noch nicht durch das christliche Heilsversprechen erleuchtet ist, scheint am Ende des Weges keine spirituelle Sonne, sondern dort wartet nur ewige Nacht. Es ist also die Aufgabe des Autors darzulegen, wie dieses schreckliche Ende vermieden werden kann.

Der MYTHAGO-Zyklus bis dato:

1. [Mythago Wood 4139 (1984; Mythenwald)
2. Lavondyss (1988; Tallis im Mythenwald)
3. [The Bone Forest 4088 (1991; Sammlung)
4. The Hollowing (1993)
5. Merlin’s Wood (1994, Sammlung inkl. Roman)
6. Ancient Echoes (1996)
7. [The Gate of Ivory and Bone 1422 (2000)

Der MERLIN CODEX-Zyklus:

1. Celtika (2001)
2. The Iron Grail (2002)
3. Broken Kings (2007)
4. Avilion (2008)

_Vorgeschichte_

Die Handlung dieses Romans schließt direkt an die in „Tallis im Mythenwald“ („Lavondyss“) an, daher ist es hilfreich, die nötige Verbindung kurz zu skizzieren.

James und Margaret Keeton haben zwei Kinder: Harry und Tallis. Doch Harry ging 1948 mit Steven Huxley in den geisterhaften Ryhope Wood, um ihm zu helfen, Guiwenneth zurückzugewinnen (in „Mythenwald“). Bei seinem Abschied informierte er nur seine kleine Schwester Tallis davon. Konnten die Keetons schon Harrys Weggang nur schwer verkraften, so raubt es ihnen die letzten Kräfte, als Tallis 1959 ihrem Bruder folgt, um ihn zu suchen. James Keeton machte sich ein Jahr, bevor „The Hollowing“ beginnt, also 1959, auf den Weg in den Urwald, um seine Kinder zu suchen. Nur seine Frau Margaret blieb zurück – und Alex Bradley, Tallis‘ bester Freund …

_Handlung_

Richard und Alice Bradley, die 1960 ebenfalls in dem Dorf Shadoxhurst am Rande des Ryhope Wood leben, lieben ihren dreizehnjährigen Sohn Alexander ebenfalls sehr. Er hat eine große Vorstellungskraft, die seine Mutter unterstützt. So schreibt Alex an einer Version des mittelalterlichen Epos um [„Sir Gawain and the Green Knight“ 479 für seine Schulaufführung. Er selbst spielt nicht den Ritter Gawain oder den Grünen Ritter, sondern Sir Bertolac, dessen Frau Gawain dreimal in Versuchung führt.

Auf der nächtlichen Rückfahrt von der erfolgreichen Aufführung überfährt Richard fast einen Mann. Es ist James Keeton! Doch der Freund, den Richards Familie vor einem Jahr verlor, ist in einem bedauernswerten geistigen und körperlichen Zustand. Er ist unansprechbar und klammert sich an eine von Tallis‘ Holzmasken. Alex erkennt die Maske wieder: Er nennt sie Moondream. Wenn Keeton hindurchschaut, sucht er mit seinem Geist nach seiner Tochter. Alex ist tief davon berührt, denn er hofft, durch James Keeton wieder in Kontakt mit seiner Freundin zu kommen.

Als Keeton in eine Nervenheilanstalt eingeliefert wird, fährt Alex immer wieder hin, um mit Keeton zu sprechen, Geschichten und Witze zu erzählen. Richard fährt ihn hin, gegen den Protest von Alice, die Richard einen Narren schilt. Das könne zu nichts Gutem führen. Recht hat sie. Doch Alex macht wirklich Fortschritte bei Keeton, der schließlich immer mehr wache Phasen hat und zunehmend präsenter erscheint. Doch gerade als Richard kurz raus zu den Frauen, Alice und Margaret, geht, ereignet sich etwas Einschneidendes. Keeton erblickt durch die Maske seine Tochter und erhält von ihr die Nachricht, dass es ihr gutgehe. Keeton stirbt unvermittelt in Alex‘ Armen.

Der zurückgekehrte Richard versucht gerade Keeton wiederzubeleben, als sich Alex die Maske Moondream nimmt und sich aufsetzt. Etwas passiert mit ihm. Richard glaubt, Alex werde durch den Raum „geworfen“. Und fortan ist Alex zwar körperlich präsent, doch sein Geist wandert im Ryhope Wood. Ein Austausch hat stattgefunden. Keetons Geist ist bei seiner Tochter, und Alex muss dafür bezahlen. Nach Wochen der Behandlung in der gleichen Nervenheilanstalt kann Alex in einem unbeobachteten Moment entkommen. Die Suche verläuft ergebnislos, bis ein Bauer auf ein halb ausgegrabenes Skelett stößt. Es wird für Alex gehalten, obwohl sein Gesicht zerschlagen und unkenntlich ist. Nach der Beerdigung verlässt Alice ihren Mann, und 1961 zieht auch Alex nach London. Doch jedes Jahr kommt er ans Grab von Alex.

So auch 1966. Jemand möchte ihn treffen, eine Frau namens Helen Silverlock und ein Mann namens Lytton. Was Helen erzählt, ergibt zunächst überhaupt keinen Sinn. Sie behauptet, dass Alex am Leben sei. Doch wo er sei, könne sie nicht genau sagen, auch nicht, wie er aussehe. Der emotionale Aufruhr, in den sich Richard durch solche absurden Behauptungen versetzt sieht, macht es ihm nicht leicht, ihr zuzuhören. Doch als sie ihm später eine Nachricht zukommen lässt, die eindeutig auf einen Kontakt zu Alex schließen lässt, ist Alex bereit, mit ihr in den Ryhope Wood zu gehen.

|Die Kathedrale im Wald|

Alex ist vom Urwald in sein grünes Herz absorbiert worden, und zwar durch ein „Hollowing“, eine Höhlung. Wie schon in „Tallis im Mythenwald“ bzw. „Lavondyss“ bilden urtümliche Masken einen Durchgang für den menschlichen Geist in die Geistwelt, die der Ryhope-Forst beherbergt. Als Alex durch die Moondream-Maske schaute, wurde sein Geist in das Herz des Waldes geschleudert. Dieser Wald erzeugt Alex‘ persönliche Mythagos aus seinem Unterbewusstsein, ein Bewusstsein, das mit Rittern, Ungeheuern und Sauriern bevölkert ist.

Alex lebt in den Ruinen einer Kathedrale, die vom Wald überwuchert wird, genau wie in „Sir Gawain and the Green Knight“. Alex hat eine Freundin, einen Baumgeist namens Hollyjack, die ihn füttert und tröstet. Denn ringsum im Wald lauert der Kicherer, jenes gierige Ungeheuer, das ihn in diese Welt gerissen hat. Immer wieder fallen Alex‘ Mythagos diesem Verfolger zum Opfer. Nur die besten Recken können gegen ihn bestehen, und sie kehren nicht zurück. Alex‘ Kathedrale wird belagert.

Auf seinen Geistreisen an der Seite von Hollyjack fühlt Alex die Sorge seines Vaters und die permanente Trauer um seinen verlorenen Sohn. Zu gerne würde Alex mit ihm Kontakt aufnehmen und ihn trösten. Doch die Geister im Wald planen einen Angriff auf ihn, ist er doch ein Fremdkörper unter ihnen, die zehntausende von Jahren hier existiert haben. Und der Verfolger wartet stets auf ihn.

Die großen Helden, die er heraufbeschwört, sind verzerrt, unvollständig und somit gefährlich. Umherirrend und verwildert suchen sie gezwungenermaßen ihren Schöpfer, um geheilt zu werden. Das Unheil, das sie auf ihrem Weg verbreiten, gefährdet jene, die Alex suchen, allen voran seinen Vater Richard. Schließlich wird der Schrecken, den sie verbreiten, die Existenz des Waldes selbst und all seiner natürlich entstandenen Mythagos bedrohen.

|Die Forscher|

Richard Bradley hat sich den Archäologen und Anthropologen und Helen Silverlock, Lytton und Arnauld Lacan angeschlossen, die ein befestigtes Lager mitten im Wald errichtet haben: Old Stone Hollow Station. Von hier aus erkunden die Mitglieder des Forschungscamps regelmäßig den Mythagos erzeugenden Wald von Ryhope. Sie wissen von Alex Bradleys Anwesenheit im Wald und fürchten ihn und seine Schöpfungen.

Aber sie müssen sich auch vor so genannten „Hollowings“ in Acht nehmen. Die unsichtbaren Hollowings führen den unachtsamen Wanderer unversehens in eine völlig andere Zeit- und Raumdimension im Wald. Das kann sich aus verständlichen Gründen als verhängnisvoll erweisen, wenn das Opfer den Rückweg nicht mehr findet. Ein halbes Dutzend Mitglieder des Camps gingen auf diese Weise bereits verloren.

Besonders mit Helen Silverlock, der Halbindianerin aus den Vereinigten Staaten, freundet sich Richard an, und sie erwidert seine Zuneigung. Sie sucht im Wald Dan, den Mann, den sie liebte, aber auch die Konfrontation mit dem Trickster. Dieser mythische Coyote hat ihrer Sippe seit 500 Jahren Unglück gebracht. Sie hofft, dass sie diesen Fluch endlich beenden kann. Denn wo sonst als hier im Mythago-Wald könnte sie einer mythologischen Figur wie dem Trickster begegnen? Falls sie dies überlebt.

Richard dringt mit Helen und den Forschern Lytton und McCarthy in die inneren Zonen ein, um so in jenen Bereich zu gelangen, in dem Alex seine Kreaturen ausschwärmen lässt, um sich zu schützen. Alex spürt die Anwesenheit seines Vaters; er hat sich ihm in Old Stone Hollow bereits manifestiert. Doch er hat einen Verfolger, den Kicherer, ein gewalttätiges Monster, und wurde von ihm vertrieben.

|Im Alex-Land|

Verfolgt von einer urtümlichen Gestalt des Waldes, einem gestaltwandelnden Jack, gelingt es Richard, mit Helen zahlreiche Gefahren und Begegnungen zu überleben, sogar einen Saurierangriff. Als die Soldaten aus allen Epochen auftauchen, weiß Richard, dass sie sich Alex‘ eigentlichem Aufenthaltsort nähern: erst dem Weißen Schloss, dann der Kathedrale. Richard erkennt alle Soldaten und Bauten und Saurier wieder: Spielzeuge, die er einst selbst seinem Sohn geschenkt hat. Nun verkehren sich die Dimensionen. Die Saurier sind riesig, die Soldaten tödlich. Und der Gestaltwandler ist ihnen auf den Fersen.

Im verlassenen Weißen Schloss erhält Richard eine Warnung von Alex‘ Geist, der ihn ermahnt, zurückzugehen, doch Lytton, Helen und McCarthy haben die Kathedrale in der Nähe entdeckt und drängen bereits vorwärts. Widerwillig, aber auch neugierig auf das Wiedersehen mit seinem Sohn, folgt ihnen Richard. Die Ruine steht auf einem freien Platz mitten im Wald, und in den leeren Bogenfenstern ist ein Junge zu sehen. Richard ruft zu ihm hinüber und betritt den Innenraum. Lytton ist schon vorausgegangen.

Alles geht sehr schnell, und Richard kann dem kaum folgen, was passiert. Lytton zieht seine Pistole und feuert auf den Kopf des Jungen, der auf dem Altarstein steht. Dessen Kopf zerplatzt. Entsetzen packt Richard. Helen ruft: „Hier stimmt etwas nicht!“ Die Mauern der Ruine beginnen zu wanken und die Erde öffnet sich. Helen zerrt an Richard, um ihn wegzuziehen. Sie hat erkannt, dass es sich um eine gigantische Falle des Gestaltwandlers, des Jacks, des Tricksters, handelt.

Die Erde saugt McCarthy ein.
Lytton schreit auf und feuert erneut.
Richard rennt …

_Mein Eindruck_

Die wichtigste literarische Folie, derer sich Holdstock, diesmal bedient, ist das mittelalterliche Gedicht „Sir Gawain and the Green Knight“. Es schildert Ereignisse aus dem Umfeld von König Artus‘ Rittern der Tafelrunde, zu denen Sir Gawain gehört. Darin ist von einer „chapel perilous“ die Rede, und diese Kapelle bildet in „The Hollowing“ einen Fokus der Handlung. Am Schluss findet das Finale in einer verfallenen Kathedrale statt, dem Gegenstück zur „Kapelle“ des Epos. Siehe dazu auch den Anhang mit einer Handlungsskizze des Epos.

|Jack der Riesentöter|

Es gibt noch weitere Legenden als Folien, so etwa das Märchen von Hans und der Bohnenstange alias Jack and the Giant Beanstalk alias Jack the Giant Killer. In dieser Geschichte, die ihre bronzezeitlichen Wurzeln in Südrussland und Vorderasien hat, ist Jack ein Trickster, ein Gestaltwandler und ein Mörder, der seinen Vater und seine zwei Brüder rächt. Dazu verwandelt sich Jack mit der Magie der Krähengöttin zuerst in den Schädel seines Vaters, dann in diverse andere Dinge und schließlich in eine Eiche, die in unglaubliche Höhe wächst (= Bohnenranke). Der feindliche Anführer, der hofft, von dort oben die legendäre Insel der schönen Frauen erspähen zu können, wird zu Fall gebracht, so dass er sich auf dem Strand des Ortes seiner Sehnsucht den Hals bricht.

|ICH und ES|

Jack ist wirklich ein Schlauberger, aber was hat er mit Alex zu tun? Wie am Schluss des zweiten Teils zu erfahren ist, wird Alex erst wieder vollständig hergestellt, wenn er sich mit dem Jack/Trickster/Gestaltwander wieder vereinigt hat. Denn wenn Alex, der Träumer, der brave Sohn von Richard Bradley ist, so ist Jack sein listiges Hinterstübchen, das er niemandem zeigen will. Denn dort wohnen seine unerlaubten Triebe und die Lügen, die er sich ausdenken kann. Im „Vorderstübchen“ residiert Alex‘ ehrliches, offenes Bewusstsein, doch was dort hinten in Jack vorgeht, das geht keinen was an.

Außer wenn die Träume und Ängste, die in Alex schlummern, den Wald zu vernichten drohen, den sein Vater in Old Stone Hollow bewohnt. Und ebenso dessen Freunde. Die Schnittstelle zwischen Alex und Jack, zwischen Freudschem Ich und Es ist die Grüne Kapelle oder Kathedrale. In der Legende von Sir Gawain entspricht sie dem Schauplatz seines Kampfes gegen den Grünen Ritter. (Der Grüne Ritter ist Sir Bertolac in Verkleidung.) Deshalb findet in dieser Kapelle zweimal der Showdown statt, der jeweils einen der zwei Teile beendet. In Teil 1 misslingt es Richard, seinen Sohn zu finden, weil er sich vom Jack/Trickster täuschen lässt, doch beim zweiten Mal ist er schlauer, weiser und vor allem vorsichtiger.

|Leitmotive|

Das Leitmotiv dieser Geschichte ist sicherlich die zentrale Vater-Sohn-Beziehung, denn ohne sie würde die Story nicht funktionieren. Allerdings muss Richard sein ganzes Leben völlig umkrempeln, um a) seinen Sohn zu verstehen und b) zu ihm gelangen zu können. Diese Veränderung ist aber keineswegs negativ aufzufassen. Denn in Helen Silverlock findet Richard eine liebende Frau, die in einer ähnlichen Lage ist wie er. Sie hat ihren Mann Dan auf der Mission verloren, ihre Sippe vom Fluch des Tricksters zu befreien. Zwischen Helen und Richard erblüht eine wundervoll und witzig geschilderte Liebesgeschichte. Aber sie sind auch drei Jahre getrennt.

Als Richard seinen Sohn endlich in die Arme schließen darf, ist er um ein Jahrzehnt gealtert, doch Alex nur um wenige Tage. In Ryhope Wood vergeht die Zeit nach anderen Gesetzmäßigkeiten; je tiefer man in ihn eindringt, desto weniger Zeit verstreicht für den Besucher, wohingegen in der Außenwelt, umso mehr Jahre vergehen. Es erinnert an die legendären Besuche im Feenreich.

|Gefährten|

In „Mythago Wood“ und „Lavondyss“ begaben sich die Hauptfiguren allein (Tallis) oder nur mit einem Gefährten (Steven Huxley und Harry Keeton) in den Ryhope Wood. Richard hat den unermesslich großen Vorteil, dass er sich auf die Hilfe und Freundschaft einer ganzen Forschergemeinschaft stützen kann. Auf diese Weise erst gelingt es ihm, die rätselhaften Begebenheiten und Phänomene des Waldes zu verstehen und konstruktiv zu reagieren.

|Jason und die Argonauten|

Dennoch muss er einmal alleine seinen Mann stehen, nämlich dann, als er alleine nach Old Stone Hollow Station zurückgeht und das Lager verlassen und ziemlich demoliert vorfindet. Nachdem er es wie weiland Robinson Crusoe wiederaufgebaut hat, besuchen Mythagos, die es durch ein Hollowing hierher verschlagen hat, das Lager. Es sind Jason und seine Argonauten, die hier Schiffbruch erlitten haben.

Jason ist etwa 70 Jahre alt und ein gieriger alter Räuber geworden, der alles zusammenrafft, was sich irgendwie verscherbeln lässt. Natürlich hat er jede Menge goldene Vliese zusammengestohlen, so wie jenes in Kolchis, von dem die Sage erzählt. Jason hat eine veritable Freak-Show dabei, darunter einen singenden Kopf namens Orpheus und eine babylonische Seherin namens Sarinpushtam. Nun ist er scharf auf Richards „Zauber“ (ein Feldgenerator), der es ihm erlaubt, Mythagos wie Jason vom Lager fernzuhalten und sie sogar zu vernichten. Jason überlistet Richard, doch am Schluss trickst Richard auch wieder Jason aus – genau wie Jack in der alten Sage (s. o.). Ein Hollowing spielt dabei eine strategisch wichtige Rolle.

|Bosky|

Richard lernt, wie man sieht, schnell. Er kennt die Argonautensage, weil er sie in einem Buch über antike Helden gelesen hat. Und sein Sohn kennt die Sagen von Artus und den Rittern seiner Tafelrunde. Alle diese Wesen erwachen im Ryhope Wood zum Leben und bescheren Richard und Alex eine kostenlose Zeitreise. Doch dies ist nicht „Jurassic Park“, auch wenn der Wald und seine Saurierbewohner manchmal so anmuten. Hier gibt es Geistreisen und Reisen durch Hollowings. Und wenn man nicht aufpasst, wird man absorbiert – entweder physisch oder psychisch.

Der Autor nennt die psychische Absorption „bosky“ (von bosk = Busch, Urwald). Der eigene Verstand verabschiedet sich und wird ersetzt durch eine Geistidentität, die völlig verschieden von ihrem körperlichen Träger sein kann. In diesem Zustand umwirbt Richard die zurückgezogen lebende Helen und vollführt ein regelrechtes Paarungsritual. Er hätte nie gedacht, als er wieder „bei Verstand“ ist, dass er mal eine Frau mit dem Beatlessong „Love me do“ zu verführen versuchen würde. Geschweige denn, dass sie mit „I can’t get no satisfaction“ darauf antworten würde!

_Unterm Strich_

„The Hollowing“ bildet eine eigenständige Fortsetzung zu den Bänden „Mythago Wood / Mythenwald“ und „Lavondyss / Tallis im Mythenwald“, beides sehr starke Romane, die bei mir einen tiefen Eindruck hinterlassen haben. „The Hollowing“ ist jedoch einerseits moderner, indem viel mehr Menschen aus der Gegenwart beteiligt sind, als auch komplexer, weil dadurch mehrere Hintergrundgeschichten zu verknüpfen sind.

Deswegen dachte ich zunächst, der Autor habe mehrere disparate Teile zusammengefügt, so als ob er versucht hätte, den Stoff einer Novelle, die sich um Vater & Sohn dreht, auf Romanlänge aufzublasen. Aber dieser Eindruck ist völlig falsch. Die Story um Alex und Richard ist zwar das Rückgrat, ohne die der Roman nicht funktioniert, aber doch nur der Leitfaden. Es geht nicht um eine kriminalistische Ermittlung, sondern um eine totale Veränderung mehrerer Menschen. Das ist ein viel komplizierterer Vorgang, wie man sich vorstellen kann. Der Richard am Schluss hat mit dem Richard vom Anfang nur insofern etwas zu tun, als beide Alex lieben und ihn wiederhaben wollen.

Richard wird zu einer Orpheusfigur, weil er den tot geglaubten Sohn in der Ander- bzw. Unterwelt suchen geht. In Alexander Lytton findet er seinen eigenen Vergil, der ihn führt, und in Helen (= die schöne Helena) die Frau, die ihn ebenso verändert und erlöst wie der Wald selbst. Doch sie hat ihre eigene Mission, die sie zu Ende bringen muss. Am Schluss wird angedeutet, dass sie damit Erfolg hat. Der Leser muss ergänzen, dass sie zu Richard und Alex zurückkehrt. Alex hat wieder eine vollständige Familie.

Diese Geschichte hat mich in vielen Szenen, die wunderbar erzählt sind, bewegt und manchmal auch überwältigt. Den Schluss musste ich in einem Stück lesen, um zu erfahren, wie die Geschichte ausgeht. Der Roman ist also bewegend, unterhaltend – es gibt viele witzige, ironische Szenen – als auch spannend. Holdstock hat seit den sechziger Jahren Fantasy geschrieben. Er beherrscht Actionszenen aus dem Effeff. Doch mit der Ryhope-Wood-Reihe hat er in seinem Können einen großen Schritt nach vorne gemacht.

Der Leser wird mit dem Schicksal der drei Familien Huxley (Band 1 und 4), Keeton (Band 1 und 2) sowie Bradley (Band 3) eingehend vertraut gemacht. Es umspannt die Jahre 1928, als George Huxley zu forschen beginnt, bis 1968, als Alex Bradley von den Toten zurückehrt, also vier Dekaden. Viele kleine Details kommen erst im zusammenhängenden Lesen zutage und machen die Lektüre umso lohnender. Höchste Zeit, dass die restlichen Romane um Ryhope Wood ins Deutsche übertragen werden.

_Hintergrund: Sir Gawain und der Grüne Ritter_

Am Neujahrstag hat König Artus mal wieder seine Ritter um die Tafelrunde versammelt. Weihnachten ist vorüber, aber auf Burg Camelot feiert man immer noch gerne. Die Freude wird leider schwer gestört, als ein merkwürdiger Ritter auftaucht und den König selbst zum Kampf herausfordert. Der völlig in Grün gekleidete und sogar mit einer grünen Haut und grünem Haar versehene riesige Ritter bezweifelt, dass unter den anwesenden Rittern einer sei, der edleren Gemüts ist als er selbst.

|Die Herausforderung|

Oho, welche Frechheit, meint Artus und würde den Herausforderer am liebsten selbst Mores lehren, doch Gawain bittet aus Pflichtgefühl selbst um diese Ehre. Artus stünde doch wohl über solchem Geplänkel, oder? Artus meint „okay“, und der Grüne Ritter hat nichts dagegen, statt dem König diesem Ritter die Rübe abzuschlagen. Denn darin besteht die Herausforderung: Gawain darf dem Ritter einen Hieb mit einer Waffe versetzen, ohne dass dieser sich wehrt. Doch danach darf der Grüne sich revanchieren – und zwar genau ein Jahr und einen Tag später.

Gawain hat kein Problem mit diesem Arrangement, denn schließlich will er ja a) nicht als Feigling dastehen und b) scheint das eine todsichere Sache: Welcher Mensch hätte sich denn nach einem tödlichen Axthieb auf den Nacken davon erholt? Keiner!

Mit einer stabilen Streitaxt trennt er dem brav vornüber gebückten Ritter sauber den Kopf ab. Zum Erstaunen aller richtet der sich wieder auf, als wäre nichts gewesen, schnappt sich seinen Kopf und fordert Gawain auf, in einem Jahr allein zur grünen Kapelle zu kommen. Sprach’s und ritt von dannen. Er hat ihnen nicht einmal seinen Namen verraten. Gawain ist nun der Gelackmeierte, denn mit der Wette hat ihn der Grüne Ritter offensichtlich hereingelegt.

|Ein Jahr später|

So ein Jahr kann schnell vorübergehen, doch Gawain hat die Pflicht nicht vergessen. Angetan mit einer prächtigen Rüstung macht er sich auf die Suche, fahndet überall in ganz Wales nach der Grünen Kapelle, erlebt jede Menge Abenteuer mit den wilden Bergbewohnern (darunter auch Oger!), doch die Kapelle findet er nicht. Stattdessen stößt er – nachdem sein Gebet an Maria erhört wurde – auf eine prächtige und wehrhafte Burg. Hier freut man sich über alle Maßen darüber, ein echten Hofmann des Hochkönigs bei sich aufnehmen und unterhalten zu dürfen. Besonders die schöne Gattin des Burgherrn Sir Bertolac hat es Gawain angetan – wie schön sie sich von ihrer ständigen Begleiterin, einer düsteren alten Vettel, abhebt. Leider erfährt er nie ihren Namen.

Nach einer Weile des Feierns meint Gawain am 29. Dezember, jetzt müsse er aber los, schließlich seien es nur noch wenige Tage bis Neujahr. Der Burgherr meint, er würde Gawain rechtzeitig zu der Kapelle bringen lassen, die ja ganz in der Nähe liege. Gawain müsse nur noch drei Tage ausharren. Dann schlägt er eine Wette vor: Der Burgherr werde etwas von seinen Jagden mitbringen und es seinem Gast geben, woraufhin ihm der Gast im Tausch dafür das geben würde, was er unterdessen in der Burg empfangen habe.

Wie raffiniert dieser Deal ist, stellt sich heraus, als Gawain am nächsten Morgen, während der Burgherr schon auf der ersten von drei Jagden ist, von der schönen Gemahlin seines Gastgebers geweckt wird. Da sitzt sie nun am Bettrand – die Verführung in Person. Kann Ritter Gawain der Versuchung widerstehen, oder wird sie ihn von seinem Vorhaben abbringen? Immerhin vertritt er hier quasi seinen König. Sie gibt ihm einen Gürtel, der ihrem Gemahl verrät, dass etwas zwischen den beiden vorgeht. Er fordert Gawain zum Kampf an der Grünen Kapelle heraus, und Gawain muss einwilligen …

|The Hollowing, 1993
314 Seiten|

Robert Holdstock – Tallis im Mythenwald / Lavondyss (Ryhope Wood Zyklus 2)

Ins Vogelgeistland: die Verwandlung der Seele

Holdstock hatte mit seinem Roman „Mythenwald“ 1984 den World Fantasy Award gewonnen. Offensichtlich versuchte er mit „Lavondyss“, an diesen Erfolg anzuknüpfen, wie uns der deutsche Verlag Bastei-Lübbe durch den deutschen Buchtitel „Tallis im Mythenwald“ suggerieren will. Dies ist der zweite Band in seiner Reihe über den geheimnisvollen Ryhope-Forst.

Wenn man berücksichtigt, dass fast alle nachfolgenden Romane in einem Mythago-Wald spielen, dann erkennt man, dass „Mythenwald“ einen konzeptionellen Durchbruch für Holdstock bedeutete. Es wäre ein Wunder, wenn der Erzähler dieses Neuland nicht weiter erkundet hätte. Später folgten daher noch „The Hollowing“ (Band 3), „Gate of Horn, Gate of Ivory“ (Band 4), „The Bone Forest“ (das Prequel) – siehe auch das Werksverzeichnis unten.

Der Autor

Robert Paul Holdstock, geboren 1948, begann mit dem Schreiben schon 1968, machte sich aber erst 1976 als Schriftsteller selbständig und schrieb daraufhin eine ganze Menge Genre-Fantasy. Dabei entstanden wenig interessante Trilogien und Kollaborationen an Sword and Sorcery-Romanen, u. a. mit Angus Wells.

Erst 1983 und 1984 taucht das für die Ryhope-Sequenz wichtige Motiv des Vater-Sohn-Konflikts im Roman „Mythago Wood“ auf, für den der Autor den |World Fantasy Award| erhielt. Beide Seiten werden getrennt und müssen wieder vereinigt werden. Das Besondere an dieser emotional aufgeladenen Konstellationen ist jedoch, dass die Bewegung, die dafür nötig ist, in einer Geisterwelt stattfindet: dem Ryhope-Forst.

In Holdstocks keltischer Fantasy befindet sich in diesem Urwald, der dem kollektiven Unbewussten C. G. Jungs entspricht, erstens ein Schacht, der mit weiterem Vordringen ins Innere immer weiter zurück in der Zeit führt. Eines der wichtigsten und furchtbarsten Ungeheuer, Urscumug, stammt beispielsweise aus der Steinzeit. Und zweitens finden bei diesen seelischen Nachtreisen durch die Epochen permanent Verwandlungen, Metamorphosen statt. So verwandelt sich die Hauptfigur Tallis in „Lavondyss“ schließlich in eine Dryade, einen Baumgeist. Das ist äußerst faszinierend geschildert.

Am Ende der Nachtreisen warten harte Kämpfe, die auch in psychologischer Hinsicht alles abverlangen, was die Kontrahenten aufbieten können. Und es ist niemals gewährleistet, dass die Hauptfiguren sicher und heil nach Hause zurückkehren können. Denn im keltischen Zwielicht, das noch nicht durch das christliche Heilsversprechen erleuchtet ist, scheint am Ende des Weges keine spirituelle Sonne, sondern dort wartet nur ewige Nacht. Es ist also die Aufgabe des Autors darzulegen, wie dieses schreckliche Ende vermieden werden kann.

Der MYTHAGO-Zyklus bis dato:

1. Mythago Wood (1984; [Mythenwald, 4139 World Fantasy Award!)
2. Lavondyss (1988; Tallis im Mythenwald)
3. [The Bone Forest 4088 (1991; Sammlung)
4. [The Hollowing 4161 (1993)
5. Merlin’s Wood (1994, Sammlung inkl. Roman)
6. Ancient Echoes (1996)
7. [Gate of Ivory 1422 (2000)
8. Avilion (2008)

Der MERLIN CODEX-Zyklus:

1. Celtika (2001)
2. The Iron Grail (2002)
3. The Broken Kings (2007)

Handlung

Als Tallis Keeton vier Jahre alt war, weckte sie ihr Stiefbruder Harry und küsste sie. „Ich muss gehen“, sagte er, „doch irgendwann werden wir uns wiedersehen.“ Dann verschwand er. Er ging in den Ryhope-Forst, einen beinahe undurchdringlichen Wald, den Forscher wie George Huxley Mythago Wood nannten. Hier nehmen die alten Archetypen und Legenden aller Zeiten (bis zu 10.000 Jahre v. Chr.!) Gestalt an und führen dort ein für Menschen fremdartiges Leben.

Nach Harrys Fortgang und vermutlichem Tod 1948 sind die Keetons eine zerrissene Familie. Diese Zerrissenheit wird von jedem ihrer Mitglieder anders bewältigt. Tallis geht ihren ganz eigenen, sehr gewagten Weg, wie schon ihr Bruder Harry und ihr Großvater Owen. Owen hat ihr ein kommentiertes Märchenbuch geschenkt und ihr einen langen Brief hinterlassen. Außerdem ist er für ihren Namen verantwortlich: Tallis sei die weibliche Form von Taliessin, und der war neben Merlin bekanntlich der größte Magier Englands. Er kommt im Legendenkreis des walisischen „Mabinogion“ vor. Tallis‘ Weg als Zauberin ist vorgezeichnet.

Als sie fünf ist, bemerkt sie die ersten Geistwesen aus dem Augenwinkel, doch wie ihr Owen geraten hat, fürchtet sie sich nicht vor ihnen. Es sind nur Mythagos, und sie geben ihr Geschichten, Wissen und Visionen. Schon bald fallen ihr die geheimen Namen fast aller Orte ein, beispielsweise Morndun-Hügel statt Barrow Hill. Nach einem Besuch im verfallenden Haus von George Huxley (er starb 1946, seine Söhne verschwanden 1947 und 1948) versucht sie, das Gesicht auf dem Totempfahl vor dem Haus nachzuschnitzen. Aber es kommt nur eine bemalte Rindenmaske heraus. Sie nennt sie The Hollower, denn damit könne man alle Hollowings (Hohlwege) zwischen unserer und den anderen Welten sehen. The Hollower ist eines der Geistwesen, die sie aus dem Augenwinkel zu sehen pflegt.

Im Laufe der Jahre schnitzt und bemalt Tallis zehn Masken und gibt ihnen ihre wahren Namen:

1) The Hollower – Der Hohlweger: erleichtert Visionen durch Hollowings, Abkürzungen zu anderen Orten und Zeiten; Tallis hat mehrere Hollowings entdeckt.
2) Gaberlungi: eine ganz weiße Maske: Erinnerung an das Land
3) Sinisalo: Das Kind im Lande sehen
4) Morndun: die erste Reise eines Geistes in ein unbekanntes Land
5) The Silvering – Der Silberling: Der Zug eines Salms in den Flüssen eines unbekannten Lands
6) Falkenna – Das Falkengesicht: Der Flug eines Vogels in ein unbekanntes Land
7) Moondream – Mondtraum: …um die Frau im Land zu sehen
8) Skogen: Schatten des Waldes
9) Cunhaval: Das Rennen eines Jagdhundes durch die Wege eines unbekannten Landes
10) Lament – Wehklage

Die 13-jährigen Tallis ist zu einem phantasievollen Mädchen herangewachsen und hört immer häufiger Stimmen und Gesänge aus dem Ryhope-Wald – den sie den „Alten Verbotenen Ort“ nennt, kurz AVO bzw. OFP (Old Forbidden Place). In einer wunderbar fröhlich-ironischen Szene berichtet sie einem befreundeten Komponisten, dem 84-jährigen Mr. Williams, davon und erzählt ihm die Geschichte von den drei Brüdern Arthur, Mordred und Scathach: „Das Tal der Träume“. Das Lied, das sie danach hört, identifiziert der alte Musiker als das Volkslied „Der reiche Mann und Lazarus“.

Als sie Mr. Williams kennenlernt, hat sie bereits eine einschneidende Erfahrung hinter sich, in der sie das Vogelgeistland begründet hat. Als sie in der alten Eiche Stark-gegen-den-Sturm ein Hollowing entdeckt, erblickt sie einen schönen jungen Krieger, in den sie sich sofort verliebt. Allerdings liegt er schwer verletzt auf einem großen Schlachtfeld. Sie nennt ihren Namen, Tallis, und er nennt sich Scathach. Auf keinen Fall will sie ihn sterben lassen, wirft ihm durch das Hollowing hindurch Verbandszeug hinunter.

Da sieht sie zu ihrem Schrecken, wie mehrere Gefahren ihren Geliebten bedrohen: ein dunkler Sturm, eine Schar Aasvögel und zu guter Letzt vier schwarz gekleidete alte Frauen, die die Gefallenen ausplündern und zerstückeln. Das darf ihrem Scathach nicht passieren! Und so versucht sie die drei Gefahren abzuwehren. Mit diversen magischen Objekten wehrt sie die Aasvögel ab und schafft so Vogelgeistland. Fortan meiden alle Vögel diese Eiche, die in zwei Dimensionen steht. Die vier Leichenfledderer kann sie nur aufhalten, doch nicht vertreiben. Ein Schamane und eine fünfte Frau kommen und tricksen Tallis aus: Sie bewegen die Zeit. Als Tallis das nächste Mal zum Hollowing zurückkehrt, liegt Scathach bereits auf dem Scheiterhaufen und brennt. Eine junge Kriegerin erweist ihm die letzte Ehre. Tallis sieht ein, dass sie alles missverstanden hat. Die Leichenfledderer haben nur Scathach gesucht, um ihn zu bestatten.

Fortan beschließt Tallis, bedachtsamer zu sein. Und sie gibt Scathach (ähnlich wie ihrem Bruder Harry) ein Versprechen, das sie in einem Lied zusammenfasst:

„Ein Feuer brennt im Vogelgeistland,
Im Vogelgeistland liegt mein junger Liebster.
Ein Sturm tobt im Vogelgeistland,
Ich werde die schwarzen Aasvögel verjagen,
Ich werde über meinen Liebsten wachen,
Ich werde bei ihm sein im Vogelgeistland.
Ein Feuer brennt im Vogelgeistland,
Mein Körper glüht.
Ich muss dorthin reisen.“

(S. 116 der Übersetzung)

Mr. Williams – es handelt sich um den Komponisten Ralph Vaughan Williams (1874-1958) – hat ihr als Lohn für dieses schöne, eigenartige Lied den wahren Namen des letzten Stücks Land verraten, das sie vom Betreten Ryhope Woods abgehalten hat: Find-mich-wieder-Feld. Nun kann sie erneut Oak Lodge, das vom Wald zurückeroberte Haus von George Huxley, besuchen. Es gelingt ihr, sich vor bronzezeitlichen Eindringlingen zu verstecken und Huxleys geheimes Tagebuch zu stibitzen. Ihr Großvater Owen hat ihr davon erzählt, denn er kannte Huxley. Dieses Buch liest sie nun – ein echter Augenöffner. Sie erfährt von Mythagos, Geistzonen und Edward Wynne-Jones, Huxleys verschollenem Freund und Kollegen.

Abschied

Eines Abends, als ihre Eltern Freunde besuchen, begibt sich Tallis mit ihrem Schulkameraden Simon auf einen Hügel. Dort begegnet ihr eine der drei Mythagofrauen, die sie unterwiesen haben: Weiße Maske. Diese nennt Tallis „Oolerinnen“, eine Frau, die Hollowings formen kann. Simon macht sich vor Angst aus dem Staub. Hier erweist sich, dass ihre beschwörenden Kräfte enorm gewachsen sind. Aus der Erde erheben sich riesige stehende Steine. Vor Angst verduftet nun auch Tallis, doch auch in ihrem Zimmer ist sie vor den Reitern, die sie aus dem Wald hat kommen sehen, nicht sicher.

In ihrem Zimmer besucht sie der junge Scathach aus ihrer Vision. Sie hat ihn jagen und auf dem Schlachtfeld liegen gesehen – ist er ihr Mythago oder ein eigenständiges Wesen? Von beidem etwas, denn sein Vater ist Wynne-Jones, ein mächtiger Schamane tief im Herzen des Waldes, erzählt er. Scathach drängt sie, mit ihm in den Wald zu kommen. Sie soll einen furchtbaren Fehler korrigieren, den sie mit der Schaffung von Vogelgeistland begangen hat. Von dort kommen böse Wesen in den Rest des Waldes, ganz besonders nach Lavondyss. Und was könnte dort deshalb auch Harry zugestoßen sein? Sie muss ihre eigene Schöpfung, die sie aus Liebe bewirkt hat, wieder rückgängig machen. Doch um welchen Preis?

Nun gelingt Tallis der Durchbruch in Gebiete jenseits der Waldgrenzen. Als sie den Grenzbach überschreitet, verliert sie allerdings ihre Maske Moondream, und das ist alles, was ihrem Vater von ihr bleiben wird. Auch wenn sie ihm verspricht, in einer Woche zurückzukehren. (In „The Hollowing“ kehrt James Keeton von seiner vergeblichen Suche wieder zurück und läuft Richard Bradley direkt vors Auto. Die Maske wird noch viel Unheil anrichten.) Tallis aber macht sich auf den Weg, um im Mythenwald ihren verschollenen Bruder zu suchen.

Mein Eindruck

Tallis folgt einer Vision. Diese hatte sie in dem Märchen vom Tal der Träume beschrieben. Darin kommen sie selbst, Scathach und Harry vor, doch sie muss herausfinden, wie alles zusammenhängt. Ryhope Wood ist eine Landschaft der Seele, und die Reise führt in Tallis‘ tiefstes Unterbewusstsein, dorthin, wo älteste Erinnerungen der Menschheit schlummern. Diese Erinnerungen sind dazu geeignet, den heutigen, unvorbereiteten Zeitgenossen gehörig in Schrecken zu versetzen. Es kommen mehrere Morde vor …

Eine kleine Ahnung davon, was auf Tallis zukommt, hat uns ihre Vision vom auf dem Schlachtfeld von Mount Badon sterbenden Scathach vermittelt. Überall Leichen und ihre Überreste. Hier verliert sie Scathach erneut, aber da sie dieses Ereignis vorausgeahnt hat, ist sie nicht allzu sehr erschüttert, wenn auch ihre Trauer um den Geliebten groß ist. Was sie jedoch überrascht, ist das wütende Auftreten von Scathachs Halbschwester Morthen, die von Wynne-Jones zur Schamanin ausgebildet wurde. Morthen liebt ihren Bruder und verletzt die Rivalin Tallis derart, dass Tallis eine Zeitlang genesen muss.

Verwandlungen

Ihre Weiterreise führt sie in die Festung im Alten Verbotenen Ort, die sie aus ihrem Märchen vom Tal der Träume kennt, und lässt sie auf ein Zeichen von Harry stoßen, seinen Revolver. Doch um weiterzukommen, ist es erforderlich, dass sie sich verwandelt: zunächst in einen Baum, dann in eine Maske, schließlich in ein Stechpalmenwesen (einen Daurog), das ein Naturgeist ist, dann wieder in einen Menschen. Diese Verwandlung kann nur in Lavondyss vonstatten gehen, an einem Ort also, wo Menschenseelen jenseits der Zeit überdauern können. Der Sinn und Zweck ihrer Verwandlungen ist die Befreiung von Harrys Geist, der durch Tallis‘ Eingreifen im Vogelgeistland gefangen war. Damit ist ihre große Aufgabe eigentlich erfüllt.

Taliesin

Dieser Zyklus der Verwandlungen erinnert mich an Tallis‘ berühmten Namensvetter, den Zauberer Taliesin, der sich in viele Lebewesen verwandeln konnte, wie uns die Quellen berichten, so etwa das „Mabinogion“ und das Buch „Die weiße Göttin“ von Robert Ranke-Graves. Was daraus zu lernen ist? Dass die Seele (spirit) dazu in der Lage ist, ihr eigenes Unbewusstes zu erforschen und dort auf uralte Wahrheiten zu stoßen. Wenn von Geistern die Rede ist, dann nie im Sinne von „ghost“, sondern immer im Sinne von „spirit“.

Der unvorbereitete Leser mag denken, dass all diese Verwandlungen ziemlich seltsam sind, aber das ist nur der Fall, wenn man vergisst, dass ganz Ryhope Wood und besonders Lavondyss Landschaften der Seele sind. Hier kann die Seele andere Gestalten als „Bekleidungsformen“ annehmen und auf diese Weise auf ihre Umgebung einwirken. So verändert beispielsweise Tallis‘ Auftauchen den Wald um sie herum, und sie selbst wird stets in allen möglichen Formen von den zur Erkenntnis fähigen Wesen erkannt.

Darstellung und Vermittlung

In Lavondyss herrschen andere Gesetzmäßigkeiten, aber sie gehorchen nicht dem Zufall, sondern haben stets einen Sinn und einen Zweck, den uns der Autor zu vermitteln versteht. Die Art und Weise dieser Vermittlung gelingt ihm in der ersten Romanhälfte – ich habe sie oben skizziert – ausgezeichnet. Auch das zweite Drittel, aus der Perspektive von Wynne-Jones erzählt, stellt kein Problem dar. Doch alles, was im Lavondyss-Zyklus der Verwandlungen geschieht, stößt an die Grenzen des Erzählbaren. Man merkt es an den kurzen, stakkatohaften Sätzen, zu denen der Autor Zuflucht nehmen muss. Noch schwieriger wird es selbst für den Autor, all die Zeitschleifen unter Kontrolle zu bringen und zu erklären, die sich gegen Schluss ereignen. Da war ich häufig nicht sicher, mit welchen Geistern ich bzw. Tallis es gerade zu tun hat: Ist dies nun Scathach oder Harry oder sonstwer?

Eine runde Sache?

Tallis durchläuft offensichtlich mehrere Zyklen, als sie zu Wynne-Jones‘ Volk zurückkehrt, wo Scathach und Morthen zuerst auftraten. Natürlich muss sie auch den befreiten und zurückgekehrten Harry, ihren Bruder, wiedertreffen. So wird aus ihren Abenteuern in Lavondyss in zeitlicher Hinsicht „eine runde Sache“. Aber dies alles grenzt an das Wundersame, und wenn der Leser nicht schon vorher ziemlich misstrauisch war, so wird er es spätestens jetzt, wenn sich alles so wunderbar fügt.

Schön ist hingegen wieder die Coda, in der sich ein kleiner Junge namens Kyrdu fragt, auf welche Weise man wohl aus dem Wald hinaus in jene westliche Welt gelangen könnte, von der Großmutter Tallis, das Orakel, so oft erzählt hatte.

Die Übersetzung

Die deutsche Übersetzung durch Barbara Heidkamp ist zum Abgewöhnen und dazu angetan, nie wieder eine Übersetzung lesen zu wollen. Nicht nur, dass ich noch nie zuvor und nie danach derart viele Druckfehler vorgefunden habe, nein, auch der Text wurde gegenüber dem Original entscheidend gekürzt!

Ich war regelrecht geschockt, als ich auf folgenden Seiten auf Lücken stieß: 105 (Tallis‘ Gedicht), 112, 383, 386, 389 und 390. Offensichtlich sollte der Umfang des Buches so getrimmt werden, dass 400 Seiten nicht überschritten würden. Das ist der Übersetzerin vollauf „gelungen“, doch der deutsche Leser schaut in die Röhre. Er bekommt kein Produkt, das dem Original entspräche. Bis heute liegt keine verbesserte oder vollständige Ausgabe vor.

Was mich dann vollends von der Unfähigkeit der Übersetzerin überzeugte, war ihre Verwendung des Verbs „stieben“, was so viel wie „dahinfegen“ bedeutet. Die Vergangenheitsform (Präteritum) des Verbs lautet nicht „stieb“, wie auf den Seiten 331 und 364 nachzulesen ist, sondern „stob“. Viele Male wird statt „sie“ auch „sich“ geschrieben. Und „holly“ übersetzt sie uneinheitlich mal (korrekt) mit „Stechpalme“, mal mit „Eibisch“, was nur Spezialisten kennen.

Angesichts all dieser Unzulänglichkeiten rate ich daher dringend zur Lektüre des Originals „Lavondyss“. Einige der Originalausgaben sind mit faszinierenden Abbildungen der eingesetzten Masken, die ich oben aufgelistet habe, illustriert.

Unterm Strich

Unter allen fünf Ryhope-Wood-Romanen ist „Lavondyss“ sicherlich für den Uneingeweihten am schwersten zu lesen. Deshalb rate ich dazu, erst Band 1 und Band 3 zu lesen, bevor man sich an „Lavondyss“ wagt. Wer mit C. G. Jungs Theorie der Archetypen im kollektiven Unbewussten und der Sprache der Symbole nicht vertraut ist, wird das Buch sowieso als unverständlich in die Ecke feuern. Die Persönlichkeitsentwicklung von Tallis entspricht nicht dem gewohnten Muster des westeuropäischen „Bildungsromans“, in dem sich der Held bzw. die Heldin mit der Gesellschaft arrangiert oder nicht.

Metamorph

Denn was hier an Gesellschaft vorhanden ist, sind jungsteinzeitliche Jäger, Sammler und Schamanen mit nicht besonders appetitlichen Angewohnheiten, sowie seltsame Zwitterwesen, die sowohl Stechpalme und Winterwolf als auch Vogel sein können. Diese Daurogs sind die Vorläufer des Waldgeistes namens The Green Man, den man heute nur noch aus dem Märchen „Jack and the Beanstalk“ bzw. „Hans der Riesentöter und die Bohnenranke“ kennt. Eine solche sekundäre Welt ist der Leser von traditioneller Fantasykost nicht gewöhnt. Der englische Literaturkritiker John Clute erfand deshalb für Holdstocks Schreibweise die Bezeichnung „metamorphic fiction“, also „Dichtung der Verwandlungen“.

Wanderlust

Ich hingegen liebte den Roman, als ich ihn im Original las, und wollte mir gleich als Erstes eine Maske schnitzen. Wie wäre es, wenn man durch eine solche Maske seinen Geist auf Reisen schicken und Dinge erblicken könnte, die man mit normalen Augen nie erblicken würde? Da könnte Supermans Röntgenblick glatt einpacken.

Die deutsche Ausgabe

Von der Lektüre der deutschen Fassung, die sich Übersetzung schimpft, ist hingegen dringend abzuraten. Nicht nur ist die Sprache malträtiert worden, sondern zudem wurde der Text im Vergleich zum Original um mehrere Seiten gekürzt.

Originaltitel: Lavondyss, 1988
399 Seiten
Aus dem Englischen übertragen von Barbara Heidkamp

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