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Wagner, Jan Costin – Schweigen, Das (Lesung)

_Verhängnisvoll & spannend: die Ironie und das Schweigen_

30 Jahre lang hat Antsi Ketola im finnischen Turku für die Mordkommission ermittelt, jetzt geht er in Pension. Er nimmt einen ungelösten Fall mit. Vor 30 Jahren war ein Mädchen verschwunden, nur das Fahrrad und Blutspuren wurden gefunden. Da bekommt Ketola von seinem Ex-Kollegen Joentaa eine elektrisierende Nachricht: derselbe Tatort, ein Fahrrad, Blutspuren – und ein verschwundenes Mädchen. Gibt es einen Zusammenhang zwischen beiden Verbrechen? Hat der Täter nach 30 Jahren wieder zugeschlagen? Und wieso erst jetzt?

_Der Autor_

Jan Costin Wagner wurde 1972 in Langen/Hessen, bei Frankfurt geboren. Er studierte Germanistik und Geschichte in Frankfurt und arbeitet als freier Autor im Rhein-Main-Gebiet. Finnland, der Schauplatz von „Eismond“ und „Das Schweigen“ ist nicht nur das Land, in dem seine Ehefrau geboren wurde, sondern auch seine zweite Heimat. Er verbringt jedes Jahr mehrere Wochen an den Schauplätzens seiner Kimmo-Joentaa-Krimis.

Bei Eichborn Berlin erschien 2002 sein Debütroman „Nachtfahrt“, eine Verfilmung des Buches ist in Arbeit. Sein zweiter Roman „Eismond“ (2003) brachte den internationalen Durchbruch. Im Herbst 2005 erschien sein dritter Roman [„Schattentag“ 1903 und im Juli 2007 sein vierter Roman „Das Schweigen“.

Wagner erhielt 2001 den Marlowe-Preis für den besten Kriminalroman für sein Debüt „Nachtfahrt“. 2003 erhielt er ein Aufenthaltsstipendium des Berliner Senats im Literarischen Colloquium Berlin für „Eismond“ und 2004 den Förderpreis des Kulturkreises der deutschen Wirtschaft. Mehr Infos findet man auf seiner Homepage http://www.jan-costin-wagner.de.

_Der Sprecher_

Matthias Brandt (* 7. Oktober 1961 in Berlin) ist ein deutscher Theater- und Fernsehschauspieler. Er ist der Sohn von Willy und Rut Brandt. Brandt studierte an der Hochschule für Musik und Theater Hannover Schauspiel. Nach einem ersten Engagement am Oldenburgischen Staatstheater im Jahr 1985 gehörte er unter anderem den Ensembles folgender Theater an: Staatstheater Wiesbaden, Nationaltheater Mannheim, Schauspiel Bonn, Bayerisches Staatsschauspiel, Renaissancetheater Berlin, Schauspielhaus Zürich, Schauspielhaus Bochum und Schauspiel Frankfurt.

Seit 2000 ist Brandt regelmäßig in Fernsehrollen zu sehen. 2003 spielte er in dem Fernsehfilm „Im Schatten der Macht“, der die letzten Tage vor dem Rücktritt seines Vaters vom Amt des Bundeskanzlers schildert, die Rolle des Günter Guillaume. Er wiederum wurde hier als Kind von Cornelius Lehmann verkörpert. Sehr beeindruckend spielt er auch einen minderbegabten Vater im Fernsehfilm „In Sachen Kaminski“ (Erstausstrahlung am 15. Juli 2005 auf ARTE) neben Juliane Köhler, welche die Mutter spielt.

2006 wurde er mit dem Bayerischen Fernsehpreis als Bester Schauspieler im Bereich Fernsehspiel für „In Sachen Kaminski“ ausgezeichnet. 2007 erhielt er den Adolf-Grimme-Preis.

_Handlung_

|PROLOG|

Turku, Finnland. Es ist im Sommer 1974, als sie nach dem Anschauen eines pädophilen Erotikfilms mit Perssinens rotem Wagen losfahren und ein Mädchen suchen, irgendein Mädchen, und sie brauchen auch gar nicht weit zu fahren. Perssinen steigt aus, schnappt es sich, reißt es vom Fahrrad und zerrt es auf einen Feldweg … Sein Beifahrer ist wie gelähmt und schaut nur zu, was Perssinen tut, dieser Mann, den er heute erst kennengelernt hat. Nachdem es vorbei ist, schafft Perssinen das tote Mädchen in den Kofferraum seines Wagens. Wieder schaut sein Beifahrer nur zu, steigt aber ein, als sie wegfahren. Nachdem sie die Leiche im See entsorgt haben, packt der Beifahrer alle seine Sachen und zieht weg. Er nimmt den Bus. Beim Abschied von Perssinen reinigt dieser gerade sein Auto. Er sieht Perssinen nie wieder. Denkt er.

|Haupthandlung. 33 Jahre später.|

Im kalten Januar wird Antsi Kommissar Ketola pensioniert. An seinem letzten Arbeitstag schieß ihm ein Gedanke, eine Erinnerung von irgendwoher in den Sinn, und er besucht mit seinem langjährigen Kollegen Kimmo Joentaa den jungen Archivar der Polizeizentrale von Turku. Ob das Modell noch da sei, will er wissen. Welches „Modell“? Sie gehen in die Rumpelkammer, denn das ist der einzige Ort, wo sich der Archivar, der gerade erst seinen Dienst angetreten hat, so etwas wie ein „Modell“ vorstellen kann. Eine Modelleisenbahn ohne Eisenbahn, was soll das denn sein?

Aber da ist es, das Modell: der Tatort, wo das Fahrrad gefunden wurde, vor 33 Jahre, als Ketola gerade erst bei der Polizei angefangen hat. Es war sein erster Fall, und der steckt ihm in den Knochen. Sie fanden das Mädchen erst Monate später im See, halb verwest. Sie hieß Pia Lehtinen und war erst 13 Jahre alt. Ja, und das rote Auto da, will Joentaa wissen. Ja, das hat der einzige Zeuge gesehen, ein kleiner Junge, aber es wurde nie gefunden. Ketola lässt das Modell, das auf Rollen und einem Tisch montiert ist, in sein Auto verfrachten. Dann macht er sich ans Feiern. Abends fährt er einen Umweg. Auf dem Holzkreuz mitten im verschneiten Feld stehen Pias Name und das Datum ihres Todes. Erst daheim wagt er es zu weinen.

Am 8. Juni, ein halbes Jahr später, bringen die Spätnachrichten die Nachricht. Ein junges Mädchen, ein Teenager, sei verschwunden, nur sein Fahrrad und seine Taschen habe man gefunden. Was merkwürdig sei: Das Fahrrad liegt nahe bei dem Holzkreuz, das an Pia Lehtinen erinnert. Sofort werden an den Fall vor 33 Jahren erinnert und die alten Fotos gebracht, sogar an ein rotes Auto erinnert sich ein Zeuge.

Joentaa erinnert sich an Ketolas letzten Tag, an den Fall Pia Lehtinen und das Modell. Gibt es einen Zusammenhang? Es muss einen Zusammenhang geben, meint auch der Vater des verschwundenen Mädchens; ihr Name ist Sinikka, der ihres Vaters Kallevi Vehkasalo. Als Joentaa ihn noch am gleichen Abend besucht, identifiziert die Mutter alle Fundstücke als die ihrer Tochter. Der Vater verlangt zu wissen, ob es einen Zusammenhang gibt. Joentaa ist nicht bereit, sich festzulegen, aber er rätselt natürlich ebenfalls darüber. Und er weiß genau, wie es sich anfühlt, wenn einem ein geliebter Mensch von der Seite gerissen wird. So verlor er seine Frau Sanna, eine Architektin. Joentaa ruft Ketola an.

Die Spätnachrichten sieht auch der Beifahrer von damals. Timo Korvensuo hat nun den respektablen Beruf eines Immobilienmaklers, eine Frau (Mariatta), zwei Kinder (Aku und Laura) und Freunde, Pekka und Arvi. Aber als die Erinnerungen sich nicht mehr wie bisher verdrängen lassen, wird ihm schlecht. Er beginnt zu zittern, verspürt Brechreiz und Schwindel. Schon wieder diese Loslösung von der Welt, so wie damals, als Perssinen und er… Er zerschmettert eine Saftflasche vor Wut. Damals sah er sich mit Perssinen diesen Kinder-Porno an und dann … Als Aku ihn fragt, ob ihm auch so schlecht vom Eisessen sei, vermag er nicht aufzustehen.

Kimmo Joentaa rätselt immer noch, ob es einen Zusammenhang zwischen den beiden Mädchen gibt. Es gab im Jahr 1983 noch eine Vermisstenmeldung in der Nähe von Turku, ein Mädchen namens Marika verschwand spurlos. Und wieder sah ein Zeuge einen roten Kleinwagen. Möglicherweise gibt es einen Serienmörder, vielleicht aber auch nur eine Serie von Ausreißerinnen, bis auf die erste, Pia Lehtinen. Während er noch rätselt, sieht er Ketola im Fernsehen.

Ketola sitzt in einer erfolgreichen Talkshow und neben ihm – Joentaa traut seinen Augen kaum – sitzt die Mutter von Pia, Elena Lehtinen. Beide appellieren an den Täter, sich zu stellen. Offenbar gehen sie davon aus, dass es sich 1974 und jetzt um den gleichen Täter handelt. Davon ist Joentaa keineswegs überzeugt, auch wenn der Tatort und das Fahrrad das nahelegen. Als er dem Leiter der Ermittlungskommission von Ketolas Fernsehauftritt erzählt, flippt Sundström fast aus. Schließlich mischt sich der alte Knacker in ein laufendes Verfahren ein.

Timo Korvensuo hat es nicht mehr in Helsinki ausgehalten und ist nach Turku gefahren. Erst hat er die Stadt umrundet, die alten Schauplätze, wo er 1974 Mathematik studiert hatte. Seiner Frau hat er erzählt, er besuche einen potentiellen Kunden. Er rafft sich schließlich auf, Perssinen zu besuchen. Der Hausmeister ist beim Rasenmähen und seine Wohnung sieht immer noch so aufgeräumt aus wie damals, als… Und er trinkt immer noch Pflaumenschnaps und schaut sich Kinderpornos an. Timo Korvensuo kann nicht verhindern, dass ihm Perssinen so eine Porno-DVD schenkt: seinen Lieblingsfilm, Perssinen weiß es noch genau. Im Hotel schaut er sich den Film an. Ein Schmerz erfasst ihn, und Bilder von seinen eigenen Kindern, Aku, 9, und Laura, 13, überfallen ihn unvermittelt. Er beschließt, zur Mutter von Pia zu fahren. Von ihr hat Mariatta am Telefon gesprochen. Er hat sich – er weiß das nur diffus – zu entschuldigen.

Für etwas, das er gar nicht getan hat. Aber das wird niemand jemals erfahren …

_Mein Eindruck_

Wie der Titel schon sagt, geht es um das Schweigen, seine Bedeutung, seine Rolle, seinen Zweck. Schweigen ist in dieser Geschichte nicht zufällig, sondern ein Komplize, ein Mitspieler und – wenn es um die Ermittlung geht – auch ein Gegenspieler. Letzten Endes geht es also um Kommunikation und das mögliche Wissen, das sie mit sich bringt. Ein sehr modernes Thema, wie ich finde. Schweigen als Leerstelle, die sich vieldeutig nutzen lässt, die sich aber letzten Endes auch als trügerisch erweist.

Es gibt zwei Figuren, deren Vergangenheit und Seelenleben wir ziemlich genau kennenlernen. Das sind Kimmo Joentaa, der Polizist, der seine Frau Sanna an den Krebs verloren hat, und der ein Grübler und Zweifler geworden ist. Dadurch steht er im Gegensatz zu den Kollegen, die sich liebend gern an die Tatsachen halten, ganz besonders dann, wenn sie ihre Annahmen bestätigen. Joentaa aber weiß, dass die Dinge nicht so einfach liegen. Und deshalb fällt ihm ein winziges Detail auf, das alle anderen übersehen, und er kommt der Wahrheit im Fall Sinikka auf die Spur. Das sorgt für eine echte Überraschung.

Und da ist der Immbilienmakler Timo Korvensuo, der eigentlich immer nur zugesehen hat. Und geschwiegen, immer nur geschwiegen. Auch gegenüber seiner Familie, versteht sich. Als Ketola frech wie Oskar mal den PC von Korvensuo durchsucht, stößt er auf Unmengen von Kinderpornobildern. Von diesen Bildern hatte die Ehefrau keine Ahnung. Das Schweigen verhinderte dies.

Aber Ketola ist jetzt hundertprozentig sicher, dass er dem richtigen Mann auf der Spur ist. Die tragische Ironie ist offensichtlich. Aber klar wird auch, dass das Schweigen ebenso schuldig macht wie die Tat. Täter oder nicht, es ist ganz gleich: Korvensuo hat die Schuld mitzutragen und sucht nun Sühne dafür, indem er Pias Mutter besucht. Er macht sich Vorwürfe, weil er vermutet, dass Perssinen wieder zugeschlagen hat. Weil er das gleiche Laster wie Perssinen hat, kann er ihn nicht verurteilen. Dem Teufelskreis der Schuld, in den er nun gerät, kann er nicht entkommen.

Immer wieder stößt Joentaa auf das Schweigen, das zwischen den Eltern und ihren Kindern herrscht. Den Eltern von Sinikka geht auf, dass sie fast nichts über ihre Tochter wissen. Der Vater geht seiner Frau damit so sehr auf den Wecker, dass sie vorgibt zu schlafen, um den Schmerz ertragen zu können. Im Finale weiß sie nicht mehr, ob sie schreien oder sterben soll, so groß ist ihr Leiden.

Die von ihrem Mann verlassene Elena Lehtinen, Pias Mutter, hat ein Verhältnis mit ihrem Nachbarn. Eines Tages stürmt dessen Frau Maria zur Tür herein und ohrfeigt Elena, bevor sie einen Nervenzusammenbruch erleidet, der sie ins Krankenhaus bringt. Maria hat das schützende Schweigen durchbrochen und den Preis bezahlt. Das Schweigen ist für Elena kein Komplize mehr. Als Timo Korvensuo sie besuchen kommt und sich als Wohnungssuchender ausgibt, weiß sie gleich, wen sie vor sich hat: ihn, der das Schweigen durchbrochen und sich gestellt hat, um Verzeihung zu erbitten. Nichts davon sagt er, doch sie weiß Bescheid und sagt dies auch Ketola und Joentaa. Dass er ihr seine Visitenkarten dagelassen hat, fasst sie als Einladung auf, ihn zu kontaktieren.

|VORSICHT, SPOILER|

Das tiefste Schweigen umgibt Ketola. Und früher oder später wundert man sich darüber. Nicht aber die Ermittler, die froh sind, wenn sich der pensionierte Kommissar nicht mehr einmischt. Leider tut er ihnen diesen Gefallen nicht, sondern beginnt im Stillen eine geheime Aktion, die nur ein Ziel hat: den Mörder Pias aufzustöbern und zu überführen. Doch das Schweigen, das Ketola zu seinem Komplizen und zu seiner Waffe macht, führt wieder zu einem Missverständnis. Die Vergeltung trifft einen Schuldigen, schon gut, aber nicht den Täter.

Der Täter verbirgt sich hinter Schweigen, Anpassung und Wohlanständigkeit. Perssinen mäht jeden Tag den Rasen vor fünf Häusern, die er betreut, und führt penibel darüber Buch. Als der Polizist Hejnonen bei ihm auftaucht, weil Perssinen als ehemaliger Besitzer eines roten Kleinwagens auf zwei Listen (der von Pia und der von Marika) steht, bemerkt er, dass sich Perssinen seltsam entrückt verhält. Vielleicht die Folge eines Schlaganfalls, schließlich ist das schon ein alter Mann. Aber er nimmt Perssinens Tagebuch nicht mit, sonst wäre er im Jahr 1974 auf den Namen Timo Korvensuo gestoßen. Und so hilft das Schweigen dem Falschen. Der Schluss hält eine Menge bittere Ironie bereit. Wieder einmal scheint das Schweigen gewonnen zu haben.

|Der Sprecher|

Matthias Brandt muss gegen das Schweigen ankämpfen, aber er tut es mit einer ruhigen, beständigen Stimme, die unaufgeregt ist. Man kann sich auf die Geschichte, die er erzählt, verlassen, hört jedes Wort, jeden Satz als Einheit und Faktum. Und doch gibt es da eine beunruhigende Doppelbödigkeit, die schon in der Vorlage steckt.

Wie immer können wir in Korvensuos und Joentaas Seele nur kurz Einblick gewinnen, doch diese Momente sind mit Erinnerungen angefüllt. In Joentaas Kopf werden die Erinnerungen wie gewöhnlich unwillkürlich ausgelöst, aber dann ergeben sie komplette Bilder, ganze Szenen. Ganz anders hingegen in Korvensuo. Sein geistiger Bildschirm ist geradezu ein Schneegestöber, in dem die Schnipsel von Aku, Laura, Marietta, Pia, Elena, Perssinen durcheinanderwirbeln und ihn zu verschlingen drohen, weil er zunehmend die Kontrolle darüber verliert. Überblendeffekte assoziieren die drei Kinder miteinander.

Nur ein Strang lässt sich herauslesen: Die zunehmend deutlicher werdende Szene mit Pia. Sie am Boden, Perssinen über ihr, danach das Verstauen der Leiche, das Versenken im See. Dann die Assoziation der Hexe in dem Märchenfilm, den Aku und dann auch Timo im Kino ansehen. Sie krächzt – so auch der Sprecher -, dass ihr Opfer nicht davonkommen werde. Der helllichte Tag verwandelt sich für Timo in einen Albtraum, aus dem es kein Erwachen zu geben scheint. Das klingt chaotischer als es gelesen wird. Und natürlich handelt es sich um meine eigene Interpretation.

Nicht immer ist der Sprecher ruhig und selbstsicher, denn schließlich sind nicht all seine Figuren so, sondern lediglich der Erzähler. Sinikas Vater Kallevi beispielsweise spricht häufig stockend, atemlos in seiner Hilflosigkeit angesichts der Lücke, die seine verschwundene Tochter in seinem Leben aufgerissen hat. Auch Joentaa ist die Verlegenheit anzuhören, wenn er Mariatta Korvensuo versichert, es sei alles in Ordnung. (Natürlich ist rein gar nichts mehr in Ordnung.)

Matthias Brandt gelingt es, die Konzentration des Hörers zu erlangen und sie auf Dauer zu fesseln, einfach indem er langsam liest und deutlich und vor wichtigen Wörtern eine kleine Pause macht. Wenn Leidenschaft oder Wut angebracht ist, so kann er dies mit Tempo und Lautstärke ohne Weiteres ebenfalls ausdrücken, doch diese Ausbrüche sind selten. Sollten sie auch sein, um ihre Wirkung nicht einzubüßen.

Dieser Vortrag benötigt weder Musik (wie im Hörbuch zu „Eismond“) noch Geräusche irgendeiner Art, denn es ist ein Kammerspiel um ein zentrales Thema: Schweigen. Und diesem Schweigen gilt es durch Worte entgegenzuwirken.

Das Booklet informiert über den Autor und den Sprecher sowie über das Hörbuch „Eismond“. Das Titelbild zeigt ein Mädchen mit kurzem Haar, vermutlich Sinika.

Die CDs sind annähernd 90 Minuten lang. Mein alter CD-Spieler weigerte sich, solche CDs abzuspielen, aber mein neuerer DVD-Spieler bequemte sich doch dazu. Insgesamt bieten die vier CDs fast sechs Stunden Text, das ist eine ganze Menge.

_Unterm Strich_

Es ist ungewöhnlich, dass wir gleich zu Anfang von einem Verbrechen und den Tätern erfahren. Doch es geht nicht primär um dessen Aufklärung, sondern darum, wie die Täter und ihre kriminalistischen Gegenstücke mit diesem Fall 33 Jahre später umgehen. Hat die Zeit Wunden geheilt, die nun wieder aufgerissen werden? Ist die Schuld vergessen, oder muss noch Sühne geleistet werden?

Ist über alles Gras gewachsen, oder gibt es einen Zaubertrick, um beide Fälle, die 33 Jahre auseinanderliegen, aufzuklären? Wie sich zeigt, gibt es diesen „Zaubertrick“ tatsächlich. Das Ende ist wirklich überraschend und ebenfalls ein Teil der umfassenden Ironie. Diese Ironie ist mal bitter, mal tragisch, mal lustig. Es fällt schwer, sich nicht von diesem Plot und der Sprache, in der er erzählt wird, beindrucken zu lassen.

Matthias Brandt scheint mir der passende Sprecher für diese Art von Stoff zu sein. Ruhig, ohne einzuschläfern, aber leidenschaftlich und betroffen, wenn es nötig ist, weiß er die Aufmerksamkeit des Hörers nicht auf sich zu lenken, sondern auf die komplexe Geschichte, die er erzählt.

Wer Action und vordergründige Spannung sucht, wird sicherlich woanders fündig. Wer intensive emotionale Spannung sucht und von einer sicheren sprachlichen Stimme zu einem überraschenden und bewegenden Schluss geführt werden will, der ist bei „Das Schweigen“ an der richtigen Adresse. Den Namen Jan Costin Wagner sollte man sich merken.

|349 Minuten auf 4 CDs|
http://www.eichborn-lido.de/

Domínguez, Carlos María – Papierhaus, Das (Lesung)

_Die Schattenlinie der Liebe und der Bücherwelt_

Ein Universitätsdozent erhält eines Tages ein altes Exemplar von Joseph Conrads Roman „Die Schattenlinie“. Doch es kommt eigentlich zu spät, denn die Adressatin, eine Literaturdozentin und -liebhaberin, ist kürzlich verstorben. Bei dem Versuch, den Absender kennen zu lernen und ihm das Buch zurückzugeben, stößt er auf ein tragisches Schicksal.

_Der Autor_

Carlos María Domínguez wurde 1955 in Buenos Aires, Argentinien, geboren und lebt seit 1989 in Montevideo, Uruguay. Hier arbeitet er als Schriftsteller, Journalist und Literaturkritiker. Sein Werk umfasst drei Romane, Biografien, ein Theaterstück und natürlich viele Reportagen, von denen einige als Buch veröffentlicht wurden. Seine Erzählung „Das Papierhaus“ wurde 2001 in Uruguay mit dem Premio Lolita Rubial ausgezeichnet und ist das erste auf deutsch erschienene Buch des Autors.

_Der Sprecher_

Jürgen Tarrach erhielt seine Schauspielausbildung am Max-Reinhardt-Seminar in Wien und stand seit Mitte der neunziger Jahre in zahlreichen großen Rollen auf der Bühne. Zu seinen Filmerfolgen zählen „Die Musterknaben“, neben Oliver Korittke, und – zusammen mit Dietmar Bär – „Durch dick und dünn“ sowie diverse Rollen in Film und Fernsehen. (Verlagsinfo) Tarrach liest die ungekürzte Fasssung. Regie führte Torsten Feuerstein.

_Handlung_

Bluma Lennon ist Literaturdozentin an der Uni Cambridge und begeistert sich leidenschaftlich für Bücher. Doch genau diese Leidenschaft wird ihr zum Verhängnis, wie sich leider erweist.

Kurz nachdem sie in einer Buchhandlung eine alte Ausgabe der „Gedichte“ von Emily Dickinson (USA, 19. Jahrhundert) erstanden hat und gerade in das zweite dieser Kunstwerke vertieft ist, wird sie von einem Auto überfahren.

Ein argentinischer Kollege, dessen Namen wir nie erfahren, tritt ihre Nachfolge an der Uni an und erhält kurz nach ihrem Tod ein an sie adressiertes Päckchen aus Uruguay mit kuriosem Inhalt: Es handelt sich um ein altes, zerlesenes Exemplar von Joseph Conrads (Polen, 19. Jahrhundert) Roman „Die Schattenlinie“. An Buchdeckeln und -rücken klebt eine Zementkruste – interessant. Kein Schreiben begleitet das Buch, nur eine Widmung Blumas gibt Aufschluss über den Absender des Päckchens: „Für Carlos als Andenken an die verrückten Tage in Monterrey“.

Diese Widmung wurde vor zwei Jahren auf einem Literaturkongress in Monterrey geschrieben, vermutlich für einen ihrer Liebhaber, mutmaßt Blumas Kollege. Doch viele ungeklärte Fragen bleiben: Warum kehrt das Buch verdreckt zwei Jahre später nach Cambridge zurück? Wo war es in der Zwischenzeit? Sollte Bluma etwas an den Zementresten ablesen? Hat da jemand ein Haus gebaut?

Man muss dem Rätsel auf den Grund gehen, so viel ist klar, doch es lässt sich nicht in Cambridge lösen. Auf den Spuren des Absenders begibt sich unser Literaturdozent schließlich von Neugier getrieben auf eine Reise um die halbe Welt. Zuerst in seine argentinische Heimat, dann ins urugayische Montevideo. Dort kennen sich die Büchersammler und -händler, weil sie sich gegenseitig bei Nachlassversteigerungen ausstechen.

Vom Antiquar de Narli hört unser Erzähler erstmals von Carlos Brauer, jedoch mit einer Art Grauen. Der Sucher wird weitergeschickt zu Delgado, der Carlos Brauer die längste Zeit kannte. Carlos hatte rund 20.000 Bücher, doch wo sind sie jetzt? Nach einem Brand in seiner Wohnung, bei dem er den Katalog zu seiner Bibliothek einbüßte, zog Carlos mitsamt seinen Büchern an die Küste.

Schließlich stößt der Sucher auf das titelgebende Papierhaus und die Geschichte eines Mannes mit einer außergewöhnlichen Liebe zu Büchern. Diese Liebe hat ihn seine Existenz gekostet.

_Mein Eindruck_

Jedes Buch hat sein eigenes Schicksal, aber jeder Leser, Sammler, Händler von Büchern ebenso. Die Rede ist hier nicht vom „Trend zum Zweitbuch“, sondern von richtig großen Privatbibliotheken. Sie sind so umfangreich, dass sie einen Faktor im Leben darstellen. Die Bücher belegen die komplette Wohnung und werden zu einem Gesundheitsrisiko oder einer potentiellen Brandquelle.

Sie besiedeln nicht nur den physischen Lebensraum, sondern auch die Innenwelt. Das führt mitunter zu recht kuriosen Verwaltungsmethoden. Nach welchem Prinzip soll eine Bibliothek sortiert und katalogisiert werden? Daran scheiden sich die Geister. Carlos Brauers Prinzip war a) die thematische Zuordnung und b) die Berücksichtigung von Dichterfeindschaften. Dazu gehört natürlich eine Menge Hintergrund- und Szenewissen. Er war quasi ein Insider der lateinamerikanischen Literaturszene. Doch wie soll er sich an die Ordnungsprinzipien erinnern, sobald seine Kartei verbrannt war? Plötzlich hat er keinen Zugang mehr zur alten Ordnung. Alles ändert sich.

Die Liebe einer Nacht mit Bluma Lennon hat als Unterpfand jenes Buch „Die Schattenlinie“ hervorgebracht. Und als Bluma starb, wurde dieses Unterpfand zu einem Bumerang, der das Leben der anderen Hälfte des Liebespaars ebenso aus der Bahn warf. Unser Erzähler lernt Carlos nie persönlich kennen, als sei Carlos jenseits der Schattenlinie verschwunden. Vielmehr erhält er mehrere Berichte über ihn und sein verrücktes „Papierhaus“, das Strandhaus, das er aus den Büchern seiner Bibliothek mauern ließ. Plötzlich hatte die Metapher, dass ein eifriger Leser in seiner Bibliothek lebe, Gestalt angenommen. Aber als Bluma ihr Buch zurückforderte, bedeutete dies das Ende dieses Hauses …

Der Autor erweist sich als umfassender und intimer Kenner der Welt-Literatur, nicht nur jener Lateinamerikas. Und er kennt die Leser, Sammler, Jäger und Händler, die sich dem Buch gewidmet haben. Dieses Kulturprodukt erweist sich nicht immer nur als Kulturträger, sondern auch als Gefahr für seine Besitzer – so etwa unter der argentinischen Militärdiktatur, als viele Leute ihre potenziell gefährlichen Bücher verbrannten, versteckten und vergruben.

Gefährlich erweist sich das uralte Kulturprodukt auch, wenn die Liebe seine Wege kreuzt, wie in dem Fall von Bluma Lennon und Carlos Brauer. Bücher brachten sie zusammen und eines verband sie, Bluma starb lesend, Carlos ging in seinen Büchern unter.

Das Buch hat nicht nur eine tragische Handlung, sondern beschreibt auch fast den gesamten Kosmos des Erlebens, den die Bücherfreunde erfahren. Insofern ist die Geschichte von höchstem Interesse für jeden passionierten Leser. Carlos Brauers Methode, sein Haus aus Büchern zu erbauen, hält sozusagen die Apokalypse bereit: den Inhalt und ideellen Wert völlig zu ignorieren und ein Buch ausschließlich als physischen Gegenstand, wie einen x-beliebigen Backstein, zu behandeln. Für Bibliophile gibt es keinen größeren Horror.

|Der Sprecher|

Jürgen Tarrach erweist sich als überaus kompetenter Sprecher des Textes. Zwischen jedem Kapitel macht er eine deutliche Pause, so dass der Hörer nie im Zweifel ist, wo die eine Szene aufhört und die nächste anfängt. Tarrachs Vortrag selbst lässt auch nichts an Verständlichkeit zu wünschen übrig. Und er begeht auch selten den Fehler, zu viel Emotionalität hineinzulegen. Seine Fähigkeit, alle spanischen, französischen und die meisten der englischen Autorennamen korrekt auszusprechen, ist zu bewundern. Die einzige Ausnahme, die ich registrieren konnte, ist der Name des Iren William Butler Yeats. Aber für irische Namen gelten sowieso andere Regeln.

|Das Booklet|

Als informativ und hilfreich erweist sich das achtseitige Booklet. Hier findet man nicht bloß Werbung und eine Leseprobe, sondern auch akkurate Informationen über den Autor, den Sprecher, die CD-Tracks und schließlich sogar eine Landkarte. Auf dieser ist der Reiseweg unseres Berichterstatters eingetragen, ja sogar seine Fortbewegungsmittel Flugzeug, Schiff (aliscafo) und Bus und Taxi. Der Weg führt ihn zu Carlos‘ letztem Domizil an der Laguna von Rocha. Und die Weltkarte verdeutlicht unübersehbar, über welche Distanzen hinweg ein Buch drei Menschen verbinden kann.

_Unterm Strich_

„Das Papierhaus“ hält für jeden begeisterten Leser und Bücherfreund eine Fundgrube von Erlebnissen, Ansichten und Einstellungen bereit, die Aufschluss darüber gibt, wie es Schicksalsgenosssen ergehen kann. So mancher wird sich darin wiedererkennen. Das Buch erweist sich als der Liebe Unterpfand, doch kann es auch eine Gefahrenquelle sein.

Die tragisch-ironische Geschichte der Liebe zwischen Carlos Brauer und Bluma Lennon belegt, welches Schicksal Bücher bedeuten können, aber sie führt den kenntnisreichen Erzähler auch in den Kosmos der Literatur und der Bücher, als gerate er in eine Unterwelt, in der Auguren Wahrheiten bereithalten. Wie weiland Odysseus irrt er auf der Spur von Carlos Brauer von einem Ratgeber zum nächsten, nur um auf den ultimativen Horror zu stoßen: die Apokalypse der Bücher – das Papierhaus.

Und nach diesem traumatischen Erlebnis, nach der Rückkehr aus der Unterwelt, ist seine Einstellung zu den Büchern nie mehr die gleiche. Als wäre „Die Schattenlinie“ überschritten worden, von der Joseph Conrad in seinem Reiseroman erzählt. Die Schattenlinie ist jene reale Grenze auf dem Globus, wo sich der Tag von der Nacht scheidet. Sie wird in Wissenschaftskreisen auch als „Terminator“ bezeichnet … Und wer wissen will, wo das schicksalsträchtige Buch seine letzte Ruhe findet, muss die Geschichte selbst lesen oder hören.

Jürgen Tarrach liest die Geschichte in diesem Hörbuch ungekürzt vor, und es gibt durchaus schlechtere Methoden, sich dieses Buch anzueignen. Ich habe seinem Vortrag gerne zugehört, und da die Story nicht lang ist und kaum Personal aufweist, brauchte ich nicht einmal Notizen zu machen. Wer kann, sollte die Geschichte mehrmals hören. Dann geben sich die ironischen Aspekte der Story zu erkennen. Denn natürlich enthält auch sie eine Schattenlinie.

|Originaltitel: La casa de papel, 2004
Aus dem Spanischen von Elisabeth Müller
120 Minuten auf 2 CDs|

Bennett, Arnold – Hotel Grand Babylon (Lesung)

London Ende des 19. Jahrhunderts: Der Amerikaner Theodore Racksole ist einer der Reichsten – und ein Freund schneller Entschlüsse. Weil ihm das Benehmen eines Oberkellners missfällt, kauft er während seines London-Urlaubs gleich das ganze Hotel. Als Racksole allerdings den Küchenchef beim Einbalsamieren einer Leiche überrascht, beginnen er und seine Tochter Nella zu ahnen, dass seine neuen Angestellten einiges auf dem Kerbholz haben. Ein turbulentes Verwirrspiel um einen geheimnisvollen Mord beginnt.

_Der Autor_

Enoch Arnold Bennett wurde 1867 in Hanley in der Grafschaft Staffordshire geboren. Er brachte es zwar nicht zum Advokaten, aber zum Herausgeber des „Woman“-Magazins (ab 1893), bis ihm endlich die Honorare für seine über 50 Werke – Romane, Erzählungen, Dramen, Essays und Autobiografisches – das Leben eines freien Schriftstellers ermöglichten. Er starb 1931 an Typhus. Zu seinen Freunden zählten die Schriftsteller Joseph Conrad, H. G. Wells, John Galsworthy und Arthur Conan Doyle. Er ist in Großbritannien immer noch recht bekannt, hierzulande aber längst vergessen.

„Hotel Grand Babylon“ erschien in Fortsetzungen in der Zeitschrift „Golden Penny“, bevor der Roman im Jahr 1902 als Buch veröffentlicht wurde. Als wäre es eine Fingerübung, hat Bennett das gleiche Thema 1930 noch einmal aufgegriffen und zu einem riesigen Roman mit dem Titel „Hotel Imperial“ ausgebaut. Laut Armin Eidner hat das so geehrte Hotel Savoy seitdem ein „Omelette Arnold Bennett“ auf seiner Speisekarte.

_Die Sprecherin_

Katharina Thalbach, geboren 1954 in Berlin, wuchs auf der Bühne auf. Schon mit vier Jahren spielte sie Kinderrollen, im Fernsehen und im Film. Nach dem Tod ihrer Mutter, der Schauspielerin Sabine Thalbach, nahm Brecht-Erbin Helene Weigel sie in ihre Obhut und bot ihr einen Meisterschülervertrag an. Mit 15 debütierte sie in Brechts „Dreigroschenoper“ und wurde als Entdeckung gefeiert. Sie spielte am Berliner Ensemble und ab 1971 an der Volksbühne Berlin (Ost). Nach großen Erfolgen in der DDR wurde sie auch in der Bundesrepublik bekannt, als sie in Volker Schlöndorffs Verfilmung von Grass‘ „Die Blechtrommel“ auftrat.

_Handlung_

Das titelgebende Hotel Grand Babylon ist ein perfekt geführtes Londoner Etablissement, in dem sich die gekrönten Häupter Europas die Klinke in die Hand geben. Geleitet wird es von einem Schweizer namens Felix Babylon. Zumindest so lange, bis sich eines Tages ein neureicher Amerikaner hierher verirrt: Theodore Racksole.

Der Tag seines Besuches ist unseligerweise auch der Geburtstag seiner Tochter Nella (kurz für Helen). Und als der schnöselige Oberkellner Jules seinen stinkreichen Gast auf freundlichste Weise brüskiert, platzt dem Ami quasi die Hutschnur. Ein kurzes Gespräch unter Bossen genügt, und Racksole hat das Hotel mit allem Drum und Dran gekauft – schlappe 400.000 Pfund genügen. Der Oberkellner kündigt von sich aus. Racksole und Nella bekommen ihre Steaks mit Bier.

Noch am gleichen Abend kommt Racksole merkwürdigen Vorgängen in seinem Hotel auf die Spur. Beim Essen hat Nella ihm einen Herrn Reginald Dimmock vorgestellt, seines Zeichens Kammerdiener eines deutschen Prinzen namens Aribert von Posen. Eigentlich sollte in Zimmer 111 Nella logieren, doch als er Einlass verlangt, öffnet eben jener Dimmock. Und was hatte der Kerl mit dem zwielichtigen Jules zu bereden? Der vorgehaltene Revolver Racksoles verlangt Auskunft: Nella war so nett, das Zimmer mit Dimmock zu tauschen, denn ein Stein hatte das Fenster zertrümmert – verständlich, oder? Jules wird gefeuert.

Prinz Aribert von Posen trifft ein und vermisst seinen Kammerdiener, der alles für ihn und seinen Regenten vorbereiten sollte. Ach, da ist Reginald ja schon! Nur, dass er mausetot ist, als man ihn findet. Die Polizei stellt Racksole unangenehme Fragen, kann aber noch wesentlich unangenehmer werden, als wenig später Dimmocks Leiche verschwunden ist. Keiner kann sich das Wie erklären.

Unterdessen lässt die aufgeweckte Nella ihren weiblichen Charme spielen und bringt den Prinzen zum Reden, der ihr alsbald sein Leid klagt (obwohl sie nur eine Amerikanerin ist). Sein Regent, der in wenigen Tagen heiraten soll, ist zwischen Brüssel und dem Kanalhafen Oostende spurlos verschwunden, möglicherweise entführt. Ob wohl Jules dahintersteckt?

Wie Racksole von einem Börsenmakler erfährt, wollte der Fürst in London eine Million Pfund leihen, um heiraten zu können. Da er den Zahlungstermin nicht einhalten kann, darf er auf Geheiß des deutschen Kaisers auch nicht heiraten. Wodurch wiederum die Auserkorene für den Heiratsantrag eines Anderen frei wird.

Nella und ihrem Vater wird klar, dass hier eine fein gesponnene Verschwörung am Werke ist. Doch was könnte sie dagegen tun? Nella hat schon eine Idee und reist nach Oostende ab, ohne ihre Vater um Erlaubnis zu fragen. Ein Abenteuer beginnt, das bis zum Schluss noch recht turbulent wird.

_Mein Eindruck_

Armin Eidherr bringt den Gehalt dieses Comedy-Thrillers und ausgewachsenen Kriminalromans auf den Punkt, wenn er im Booklet schreibt, dass im Hotel Grand Babylon – hinter dem sich das Londoner Savoy Hotel verbirgt – alte und neue Welt, überlebte Tradition und Moderne des 20. Jahrhunderts aufeinandertreffen. Die zwei schrulligen Amerikaner Racksole und Nella mischen die eingefahrenen europäischen Verhältnisse im Hotel auf. Diese Verhältnisse entpuppen sich schon recht bald als korrupt und doppelbödig, mit dem so genannten „Jules“, einem waschechten Briten, als Drahtzieher politischer Machenschaften.

Dass der Euro-Adel nicht nur moralisch, sondern auch wirtschaftlich am Ende ist, belegen die Ereignisse um Fürst Eugen von Posen, einem mit 50 Millionen Pfund verschuldeten Ministaat, der mit dem echten Posen nichts zu tun hat. Der Fürst muss zwecks Entschuldung einen Börsenmakler und inoffiziellen Pfandleiher bitten, ihm aus der Patsche zu helfen – wahrscheinlich zu horrenden Zinsen. Dass Eugens Widersacher in Sachen Heiratspolitik dies zu verhindern wissen, gehört zum üblichen Ränkespiel, mit dem sich die Alte Welt zugrunde richtet.

Aber auch die Amerikaner haben nicht viel Besseres vorzuweisen. Racksole, dem „drittreichsten Mann Amerikas“ (und damit der Welt), mangelt es an kultivierter Lebensart, die durch seine Millionen keineswegs wettgemacht wird. Er löst seine Probleme vorzugsweise mit dem Revolver, egal ob auf den Korridoren und in den Kellern des Hotels oder auf den Wellen der Themse. Für solche Probleme hat man in Europa die Polizei und die Diplomatie erfunden.

Nella ist eine interessante Figur, denn sie ist die Verkörperung der modernen Frau, die sich nicht mehr hinter einem Mann versteckt, sondern die Dinge selbst in die Hand nimmt. Das viktorianische Ideal der heimgebundenen Gebärmaschine ist ihr schnuppe, doch den Zeitgenossen Bennetts dürfte ein Stein vom Herzen gefallen sein, als auch Nella unter die Haube kommt und ihrem adeligen Männe ewige Treue schwört.

Hierin liegt auch der Grund, warum das letzte Viertel des Romans mir so sauer aufgestoßen ist, nachdem ich mich bei der Krimihandlung so gut amüsiert hatte. Um jeden Preis versuchen die beiden Amis die Angelegenheiten des ach so armen Fürsten Eugen und seines Onkels Aribert ins Lot zu bringen: ein schmieriges Melodram, das umso süßlicher wird, als auch Nella sich in Aribert verliebt hat und nun Möglichkeiten sucht, die Misere des Hauses Posen zu beenden.

_Die Sprecherin_

Katharina Thalbachs Stimme hat schon einige Anstrengungen hinter sich, und das hört man. Es ist ein gut trainiertes Organ, das sich unterschiedlichsten Anforderungen anpassen kann. Das zeigt sich am deutlichsten, wenn sie eine ausgefallene Sprechweise bemüht, um eine Figur zu charakterisieren. Und davon gibt es im Stück doch einige. Felix Babylon klingt schon superfreundlich, wenn er mit Racksole redet, so dass er geradezu zwielichtig wirkt. Doch wie sich zeigt, ist Babylon eine ehrliche Haut.

Das Gleiche trifft auf die Seeleute zu, mit denen Racksole den Hafen und die Docks von London nach Jules durchsucht. Jeder von ihnen hat eine subtil andere Klangfarbe in seiner Stimme. Auf diese Weise wird der Vortrag nicht langweilig.

Woran es Thalbach ein wenig mangelt, ist die Fähigkeit, die an vielen Stellen angebrachte Ironie so zum Ausdruck zu bringen, dass man sie auch sofort wahrnimmt. Dadurch wird ihr Vortrag weniger amüsant und und die Aussagen weniger bissig, sondern glatter.

_Unterm Strich_

Von der Titelillustration sollte man sich nicht täuschen lassen. Im Roman geht es weniger um stilechtes und kultiviertes Auftreten, als vielmehr um verschwundene Leichen, wütende Amerikaner, abstürzende Verbrecher, Liebeshändel, Entführung, eine Verfolgungsjagd auf der Themse, eine einbalsamierte Leiche und natürlich um edlen Wein (leider vergiftet). Doch statt einen der sensationsgierigen Kolportageromane der Jahrhundertwende zu fabrizieren, gelingt Bennett durchaus über weite Strecken ein genaues Porträt seiner Zeit, fokussiert im edelsten Hotel Europas.

Ich sage „über weite Strecken“, weil das letzte Viertel versucht, die Konventionen einer glücklichen persönlichen Verbindung – vulgo: Liebe – zu bedienen und dabei die Klischees des Melodrams für meinen Geschmack zu sehr strapaziert. Und wenn sie nicht gestorben sind, dann dinieren sie noch heute im Hotel Savoy.

Die Sprecherin Katharina Thalbach vermag den Vortrag lebendig zu gestalten, selbst wenn ihre stimmliche Wandlungsfähigkeit eingeschränkt erscheint, vergleicht man sie etwa mit der von Franziska Pigulla oder Rufus Beck. Thalbach hat ein unfehlbares Gespür für Stil und Intonation, was ja für die Sprecher jener uns bereits fernen Zeit doch ganz wesentlich war. Das umfangreiche Booklet ist eine willkommene Hilfe für die Einsicht in den Hintergrund des Autors, seines Werkes und seiner Zeit. Betrachtet man das Hörbuch mit unverstelltem Blick, kann man einen ironischen und spannungsreichen Kriminalroman genießen. Aber eben nur über weite Strecken.

|264 Minuten auf 3 CDs
Originaltitel: Hotel Grand Babylon, 1902
Aus dem Englischen übersetzt von Renate Orth-Guthmann|