Mit „Hellfire Club – Reise in die Nacht“ hat Peter Straub einen packenden Psychothriller geschrieben, in dem es um ein altes Unrecht geht, das bis in die Gegenwart hineinwirkt. Dabei stehen eine reiche Verlegerfamilie, die Chancels, und ihre dunkle Vergangenheit, ein skrupelloser Frauenmörder, eine brutale Entführung und ein mysteriöses Kultbuch in komplexem Zusammenhang. „Reise in die Nacht“ ist mit Abstand Straubs gelungenstes Buch, ästhetisch und künstlerisch wie auch für den Leser befriedigend, weist aber auch ein paar Fragen auf, die offen bleiben.
Der Autor
Peter Straub zählt neben Stephen King, John Saul und Dean Koontz zu den herausragenden amerikanischen Horror-Autoren. Er wurde in Milwaukee, Wisconsin (wo viele deutsche Auswanderer wohnten), geboren und lebte ein Jahrzehnt lang in England und Irland. Seine Bücher sind in viele Sprachen übersetzt worden und hatten 1994 eine Weltauflage von 10 Millionen bereits weit überschritten. Heute lebt er mit seiner Frau auf einer Farm in Connecticut.
Zusammen mit Stephen King schrieb er „Der Talisman“ und dessen Fortsetzung „Das schwarze Haus“. Seine eigenen Romane sind ebenfalls – meistens – bei Heyne erschienen:
Schattenland
Geisterstunde
Das geheimnisvolle Mädchen /Julia / Die fremde Frau
Der Hauch des Drachen
Wenn du wüsstest
Koko und die Fortsetzung „Der Schlund“ (Romane mit Tim Underhill)
Mystery
Reise in die Nacht /Der Hellfire-Club (später umbenannt)
Mister X / Schattenbrüder (später umbenannt)
Die Story-Sammlungen „Haus ohne Türen“ und „Magic Terror“ (beide bei Heyne ) sind ebenfalls sehr zu empfehlen.
Handlung
Im Mittelpunkt des Interesses steht die sympathische Nora Chancel; der Leser verfolgt ab dem zweiten Drittel des Buches, wie sich ihr bis dato behagliches Leben in atemberaubenden Tempo „von innen nach außen kehrt“ – eine häufige Metapher in diesem Roman. Denn bis zum Schluss enthüllen sich Geheimnisse, lösen sich Rätsel und verändert sich das Bild, das der Leser von den Figuren anfangs erhalten hat. Es ist ein Buch mit zahlreichen Falltüren und unerwarteten Wendungen – umso besser!
Auf „Reise in die Nacht“, so der Titel eines fiktiven, 1939 erschienen Bestseller-Romans von Hugo Driver, gründen sich Vermögen und Erfolg der neuengländischen Familie Chancel und ihres Verlags Chancel House (ein Anklang an Random House). Davey Chancel, Sohn des Inhabers Alden, gehört ebenfalls zur großen und besessenen Fangemeinde dieses Kultbuches. Er ist ein Träumer, abhängig von seinem Vater.
Seine Frau Nora, die als Krankenschwester in Vietnam mit einer brutalen Realität konfrontiert war, teilt Daveys Enthusiasmus nicht. Aber nicht allein aus diesem Grund gilt sie in der Familie Chancel als Außenseiterin. Das Grauen aus Vietnam verfolgt sie noch immer in ihren Träumen, und hin und wieder sieht sie hämisch grinsende Dämonen im Augenwinkel.
In der Kleinstadt Westerholm, Connecticut, wo auch die Chancels residieren, versetzt seit Wochen ein kaltblütiger Frauenmörder die Bevölkerung in Angst und Schrecken. Als Natalie Weil, die heimliche Geliebte Davey Chancels (wie auch seines Vaters) unter mysteriösen Umständen aus einem verwüsteten, blutgetränkten Zimmer verschwindet und erst einige Zeit später wieder auftaucht, fällt der Verdacht auf Nora.
Auch der wankelmütige Davey hält nicht zu ihr, als das FBI aufkreuzt. Doch kurz bevor der wahre Sachverhalt – ein schlechter „Scherz“ von Daveys Vater – aufgeklärt werden kann, wird Nora von dem Rechtsanwalt Dick Dart, der bereits als der Killer überführt ist, im Polizeibüro als Geisel genommen und entführt.
Während ihrer Flucht durch Neuengland kann Nora nur überleben, indem sie vorgibt, auf der Seite dieses Psychopathen zu stehen, während Dart jeden erbarmungslos umbringt, der sich ihm in den Weg stellt. Nora begegnet wieder ihren Dämonen.
Allmählich enthüllt Dart seiner Gefangenen, was er als seine „Mission“ begreift: Er hat in seiner Kanzlei, die Chancel House seit Jahren betreut, erfahren, dass die Angehörigen der 1938 verstorbenen Schriftstellerin Katherine Mannheim Rechte auf das Manuskript „Reise in die Nacht“ beanspruchen – die Dichterin sei die wahre Urheberin des Buches. Sie war 1938 mit Hugo Driver und anderen Dichterkollegen Gast auf einem Landgut namens Shorelands und verschwand unter mysteriösen Umständen.
Dart versucht nun, alle Zeugen, die die Urheberschaft Drivers an dem von Dart kultisch verehrten Buch in Frage stellen könnten, zu beseitigen. Dabei geht er keineswegs zimperlich vor.
Als Nora sich schließlich von ihrem Entführer befreien kann, stellt sie auf eigene Faust Nachforschungen an und kommt dabei dem ebenso düsteren wie blutigen Geheimnis um das berühmte Manuskript Zug um Zug näher, stets verfolgt von FBI und Dart.
Als sie ihm wieder in die Hände fällt und sie zusammen nach Shorelands fahren, zurück zum Ursprung des Unheils, findet sie den „goldenen Schlüssel“ zum Untergang des Hauses Chancel wie auch ihre eigene innere Freiheit.
Mein Eindruck
„Hellfire Club – Reise in die Nacht“ enthält eine zielstrebig vorwärts preschende Handlung, die von glaubwürdigen Charakteren gestützt und gelenkt wird, bis die Bösen den verdienten Untergang erleben und die Guten verändert aus dem Showdown hervorgehen. Das Buch setzt sich mit Lebenslügen, verkorksten Beziehungen und dem falschen Kult um Bücher und andere Medien auseinander.
Nora Chancel ist eine Heldin wider Willen auf einer Höllenfahrt, genau wie der leidgeprüfte jugendliche Held in Hugo Drivers verhängnisvollem Roman – einer der zahlreichen Fälle von subtiler Ironie in diesem Buch. Dass der Autor ihr und allen anderen Charakteren die menschliche Würde lässt und sie nicht zu einem Abziehbild degradiert, ist ein hohes Verdienst und trägt sicherlich dazu bei, die Lektüre zu einem eindrucksvollen und befriedigenden Erlebnis zu machen. Ungelöst bleiben lediglich Fragen, die Dick Darts Verhalten am Schluss betreffen – hier hat der Autor einiges unterdrückt, das dem angestrebten Effekt widersprochen hätte. Unklar bleibt auch die Rolle, die Dick Darts Vater spielt – er bleibt zu passiv im Hintergrund.
Unterm Strich
Die knapp 640 Seiten (660 bei der |Heyne|-Ausgabe) lesen sich leicht in zwei, drei Tagen und man bekommt Lust, sie gleich nochmal zu lesen. Straubs zuletzt bei uns veröffentlichte Romane waren die Vietnam-Psychothriller „Koko“ und „Der Schlund“ sowie „Haus der blinden Fenster„, und deren Grauen ist auch hier zu spüren. Doch im Gegensatz zu ihnen ist „Reise in die Nacht“ viel stärker mit der Rolle der Literatur und ihrem Bannkreis beschäftigt: ihren manchmal gar nicht feinen Produzenten, ihren blinden, süchtigen Fans und ihren skruppellosen Vermarktern: „Geschäft ist Geschäft“ ist die Moral Amerikas. Straub führt subtil vor Augen, wohin diese kapitalistische Moral führt, wenn man sie konsequent zu Ende verfolgt. Hut ab, Mister Straub! Dies ist ein Meisterwerk.
Taschenbuch: 637 Seiten
Originaltitel: Night Journey, 1996
Aus dem US-Englischen von Joachim Körber
ISBN-13: 978-3548255866 www.ullstein-buchverlage.de
Der Autor vergibt: (4.5/5) Ihr vergebt: (No Ratings Yet)
Ein Serienmörder versetzt die Jugendlichen der Kleinstadt Millhaven in Angst und Schrecken. Den 15-jährigen Mark Underhill, der gerade seine Mutter verloren hat, jedoch beschäftigt etwas ganz anderes: Er ist besessen von dem verfallen aussehenden und verlassenen Haus, das an die Rückseite seines eigenen Hausgrundstücks grenzt, getrennt nur durch eine hohe Mauer. Er meinte, hinter den schmutzigen Fensternscheiben ein Mädchen gesehen zu haben, und sein Freund Jimbo hat darin angeblich einen dicken Mann mit silbernen Augen gesehen. Eines Nachts brechen sie zusammen in das Gebäude ein und machen eine grausige Entdeckung.
* Meine Überschrift zitiert den Titel eines Songs von |The Doors|, ca. 1967/68.
Der Autor
Peter Straub zählt neben Stephen King, John Saul und Dean Koontz zu den herausragenden amerikanischen Horror-Autoren. Er wurde in Milwaukee, Wisconsin (wo viele deutsche Auswanderer wohnten), geboren und lebte ein Jahrzehnt lang in England und Irland. Seine Bücher sind in viele Sprachen übersetzt worden und hatten 1994 eine Weltauflage von zehn Millionen bereits weit überschritten. Heute lebt er mit seiner Frau auf einer Farm in Connecticut.
Zusammen mit Stephen King schrieb er „Der Talisman“ und dessen Fortsetzung „Das schwarze Haus“. Seine eigenen Romane sind ebenfalls – meistens – bei |Heyne| erschienen:
Schattenland
Geisterstunde
Das geheimnisvolle Mädchen / Julia / Die fremde Frau
Der Hauch des Drachen
Wenn du wüsstest
Koko und die Fortsetzung „Der Schlund“ (Romane mit Tim Underhill)
Mystery
Reise in die Nacht / [Hellfire-Club]http://www.buchwurm.info/book/anzeigen.php?id__book=1110 (später umbenannt)
Mister X / Schattenbrüder (später umbenannt)
[Schattenstimmen]http://www.buchwurm.info/book/anzeigen.php?id__book=3090
[Esswood House]http://www.buchwurm.info/book/anzeigen.php?id__book=1603
Die Storysammlungen „Haus ohne Türen“ und „Magic Terror“ sind ebenfalls sehr zu empfehlen.
Handlung
Als der Schriftsteller Tim Underhill, den wir schon von Straubs Romanen „Koko“ und „Der Schlund“ sowie aus diversen Erzählungen kennen, einen Anruf von seinem Bruder Philip bekommt, fliegt er sofort nach Millhaven, das irgendwo im Hinterland von Chicago in Wisconsin liegen muss. Philips Frau ist gestorben, heißt es, und die Beerdigung ist schon am nächsten Tag. Doch Philip ist ein aufgeblasener Wichtigtuer, ein richtiges Arschloch: der stellvertretende Schuldirektor der Quincy-Schule. Und so braucht Tim eine Weile, bis er herausbekommt, dass Nancy sich umgebracht hat. Ebenfalls eine Tatsache, die Philip auf die Palme bringt, weil er sie als Verrat an sich empfindet. Wie sich sein Sohn Mark dabei fühlt, ist ihm völlig schnuppe. Er ist ein ausgemachter Idiot.
Dafür wendet sich nun Tims Interesse umso stärker Mark zu, dem fünfzehnjährigen Halbwüchsigen, der ihm schon ein paar witzige E-Mails schickt hat. Er war es, der seine Mutter tot in der Badewanne gefunden hat – ein schreckliches Ereignis, das ihn aber zunächst nicht aus der Bahn zu werfen scheint. Er hängt mit seinem besten Freund Jim herum und fährt mit ihm Skateboard. Dass in Millhaven ein Serienmörder umgeht, der es auf Jungen zwischen 14 und 16 abgesehen hat, scheint ihn nicht sehr zu berühren. Es herrscht eben Ausgangssperre ab 22:00 Uhr, na und?
Kaum ist Tim Underhill nach der Beerdigung wieder abgeflogen – er hat Mark nach New York City eingeladen -, da erhält er nach einer Woche schon wieder einen Anruf von Philip. Mark wird vermisst. In den Verhören, denen er Marks engsten Freund Jimbo unterzieht, stellt sich heraus, dass Mark von einem bestimmten Haus in der Nachbarschaft geradezu besessen war. Das ist seltsam, denn er und Jim hatten dieses Haus nie zuvor bei ihrem Skaten bemerkt, dabei befindet es sich direkt hinter Marks eigenem.
Die Fenster sind schmutzig, die Veranda verfallen, die Fassade ist angekokelt, als habe es gebrannt. Aber der Rasen ist gemäht, was dem verlassenen Eindruck widerspricht. Bei ihren Erkundungsmissionen erspähen Mark und Jimbo erst einen großen Mann in schwarzem Mantel, dann ein Mädchen. Mark hält es nicht aus und bricht kurzerhand ein. In einem Versteck findet er ein Fotoalbum, das den Cousin seiner Mutter in jungen Jahren zeigt: Damals war Joseph Kalendar noch nicht der Serienkiller, der seine Frau, seine Tochter Lily und unzählige junge Frauen umbrachte, bevor man ihn 1980 schnappte. 1985 wurde er von einem Mithäftling getötet. Und dreimal darf man fragen, wo Kalendar, Marks Großonkel, seine Opfer tötete und quälte – genau in diesem Haus.
Als Tim Underhill mit Hilfe der Polizei und eines befreundeten Hackers nach Joseph Kalendar und Mark Underhill sucht, stößt er nicht nur auf eine lange verborgen gehaltene Unterwelt, die das wohlanständige Millhaven Lügen straft, sondern auch auf den Serienkiller, der gerade jetzt das Städtchen in Furcht und Schrecken versetzt.
Mein Eindruck
Zuerst dachte ich, dass Peter Straub schon wieder eine seiner ältesten Geschichten auf neue Weise erzählt. In „Der Talisman“ und „Das schwarze Haus“ muss ein Junge, der später nochmals das Gleiche durchmacht, durch ein Haus, das als Pforte dient, in die schreckliche Anderswelt reisen, um seine Mutter – oder andere Lieben – zu retten. Diese Anderswelt wird von schrecklichen Mächten beherrscht, die alles unternehmen, um den Erfolg dieser Mission zu vereiteln.
„Haus der blinden Fenster“ ist im Ansatz so ähnlich, aber zunächst keineswegs Fantasy, sondern purer Thriller, mit Anklängen an Horror. Der Kern, um den sich alles dreht, ist natürlich das titelgebende Haus, in dem nicht nur die finsteren Geheimnisse der Vergangenheit versteckt sind, sondern in dem sich auch eine Pforte in eine andere Dimension öffnet. Mark entdeckt die Geheimnisse nicht nur seiner eigenen Familie – dass nämlich seine Mutter eine Kalendar war und der Massenmörder ihr Cousin, vor dem sie Mark beschützen wollte -, sondern auch die finstere Unterwelt seiner Heimat Millhaven, quasi ihre Nachtseite. Das Symbol dafür ist der „Schattenmann“.
Ein CSI-Thriller
Da gab es einen Psychopathen, den man als solchen in seiner Straße kannte. Der alte Homosexuelle Omar Hillyard kann Tim Underhill dazu eine packende Story erzählen. Und da gibt es – makabre Wiederholung der Ereignisse – jetzt schon wieder einen Psychotiker, nur dass dieser nicht Frauen, sondern Jungs verfolgt und brutal ermordet. Hat sich der Unbekannte etwa Joseph Kalendar zum Vorbild erkoren? Folgt man Tim Underhills privaten Ermittlungen, so wird daraus ein richtig guter Thriller. Leider werden seine Bemühungen a) durch den bornierten Philip abgeschmettert und b) durch die unfähige Polizei ignoriert (außer dann, als Underhill handfeste Beweise liefert). Die ach so braven Bürger Millhavens scheinen unfähig, sich gegen eine Bedrohung aus ihrer Mitte zur Wehr zu setzen.
Ein Akte-X-Thriller
Auch Tims Neffe Mark ist quasi ein Privatschnüffler, allerdings befindet er sich in einer Akte-X-Handlung statt in der von „CSI“. Der Tod seiner Mutter und ein Aha-Erlebnis haben ihn besessen gemacht, das Geheimnis des verfallenen Hauses herauszufinden. Es ist, wie er entdeckt, nicht nur der Ort gewesen, wo Menschen gefoltert und gefangen gehalten wurden, sie wurden auch beobachtet – die Wände sind doppelt gezogen und von Geheimtreppen und -türen durchzogen. Kalendar war offenbar auch ein fähiger Schreiner.
Lost boy meets lost girl
Der eigentliche Grund für Marks Besuche in Haus Nr. 3323 ist allerdings – wen wundert’s? – ein Mädchen, vielmehr eine junge Frau von 19 Jahren, die sich Lucy Cleveland nennt. Früher war sie vielleicht mal Lily Kalendar, die kleine Tochter von Joseph, die einmal vor ihm geflohen war, aber dann wieder eingefangen wurde. Sie nennt den anderen Bewohner des Hauses den „Schattenmann“, und vor ihm will sie Mark retten. Der Haken bei der Sache ist jedoch, dass Lucy in einer anderen Dimension lebt. Jimbo beispielsweise kann Lucy nicht sehen, Mark hingegen schon. Um mit ihr zusammensein zu können, muss Mark die hiesige Dimension verlassen – eine schwierige Entscheidung zunächst, aber sobald er sich verliebt hat, nicht mehr.
Haben wir also wieder mal eine andere alte Story von Mister Straub zu ertragen – boy meets girl? Teils ja, teils nein. Denn Lucy Cleveland ist wieder einmal eine jener geisterhaften jungen Frauen, die Straub in „Das geheimnisvolle Mädchen“, „Julia“, „Die fremde Frau“ und „Wenn du wüsstest“ porträtiert hat, also vor langer Zeit (siehe die Daten auf Straubs Website peterstraub.net). Doch die Kommunikation mit unserer Dimension ist inzwischen viel einfacher geworden, schließlich gibt es das Internet. Das hebt diesen Handlungsstrang in die Sphäre des Cyberspace, den William Gibson schon 1983 bekannt gemacht hat (er wurde von einem anderen Autor erfunden). Deshalb ist das Auftauchen einer Website namens lostboylostgirl.org absolut folgerichtig. Tim Underhill wird im Stil der Zeit getröstet.
Fallstricke: der Erzählstil
Womit die meisten Leser ein Problem haben dürften, ist der extravagante Erzählstil des Autors. Der hat nun mal Philosophie studiert und kennt die großen Literaten aus dem Effeff, daher fällt es ihm leicht, eine Geschichte etwas anders und weitaus anspruchsvoller als seine Kollegen von der Paperback-Horror-Fraktion zu gestalten. Mit scheint, die Geschichte, die keineswegs linear erzählt wird, hat die Struktur einer Spirale.
Damit folgt sie nicht dem Pfeil der Zeit, der nur in eine Richtung zeigt, sondern der Arbeitsweise der Erinnerung, die sich oft in Kreisen strukturiert. Wenn die Kreisbewegung nicht an den Ausgangspunkt zurückführt, sondern darüber hinausweist, ergibt sich eine Spirale. Das hat mehrere Konsequenzen. Die gleichen Ereignisse werden von mehreren Personen auf unterschiedliche Weise betrachtet und folglich anders beleuchtet und gedeutet. Ob sich daraus andere Aktionen ergeben, ist noch dahingestellt. Aber für den Leser ist es etwas verwirrend und nervig, häufig von den gleichen Geschehnissen lesen zu müssen. Es ist ein doppelter Erkenntnisprozess: der von Mark, der zuerst das Haus und die Grenze erkundet, und dann von Tim, der ihm auf seinen Spuren folgt. Leider bedeutet dies, dass ständig die Perspektive wechselt: Mark, Tim und Jimbo. Geübte Leser kommen aber damit zurecht, schätze ich.
Und an einer Stelle wissen wir genau, was hinter der Badezimmertür auf Mark wartet, werden aber kurz davor abgehalten, weiterzugehen. Das baut Spannung auf. Als Mark dann durch die Tür tritt und seine tote Mutter findet, ist dies schon fast nicht mehr so schlimm – für uns, nicht für ihn. Eine weitere Manipulation der normalen Zeit-Wahrnehmung tritt ein, als Tim eine E-Mail erhält, die zwei Tage nach Marks Verschwinden abgeschickt wurde. Und durch Fernzugriff – eine zusätzliche Aufhebung der räumlichen Distanz – kann Tim in seinem Mail-Postfach feststellen, was Mark geschickt hat.
Die Aufhebung der Grenzen von Raum und Zeit ist das Merkmal eines geübten und kunstfertigen Schriftstellers. Dennoch schreibt er seine Story in absolut einfachen und allgemein verständlichen Worten, so dass keiner über sprachliche Probleme klagen kann. Die Probleme tauchen erst auf, wenn man versucht, das Erzählte richtig einzusortieren, denn das Gehirn will unbedingt alles in eine chronologische Reihenfolge bringen. Dieser Versuch ist wegen der begrenzten Merkfähigkeit des Gehirns zum Scheitern verurteilt, es sei denn, man macht sich Notizen und bringt diese in entsprechende Ordnung. Eine Hilfe sind immerhin die datierten Tagebucheinträge Underhills.
Der rote Himmel
Der Himmel über der Dimension der Anderswelt, in der Lucy Cleveland lebt, ist nicht blau, sondern rot. Dass dies so sein muss, wusste Tims Vater oder einer von dessen Saufkumpanen ganz genau. Tim erscheint es daher nur plausibel, dass Mark das seinem Freund so erzählt hat. „Red skies over paradise“ – so hieß ein Song der Popgruppe |Fischer-Z|. Es ist auch der Titel des vierten Teils von „Haus der blinden Fenster“. Zufall oder Notwendigkeit?
Der Leser fragt sich am Schluss, als der Garten des unheimlichen Hauses umgegraben wird: Ist Mark wirklich tot oder in eine andere Dimension gewechselt? Diese Frage will sich Tim, will sich Marks Vater nicht stellen. Und letzten Endes erweist sie sich als unwichtig. Folglich wird sie auch nicht beantwortet. Der Leser muss seine eigenen Schlüsse ziehen.
Unterm Strich
„Haus der blinden Fenster“ ist sowohl ein Roman für Jungs von fünfzehn, die erwachsen werden (wollen bzw. sollen) als auch für Erwachsene. Obwohl die Sprache, in der die Story erzählt wird, einfach genug ist, hat jeder Leser so seine Probleme, dem Verlauf der Geschehnisse zu folgen. Die Erzählstruktur folgen den Ereignissen nicht chronologisch, sondern hebt, wie in der Erinnerung, die Grenzen von Raum und Zeit auf. Doch keine Angst: Straub ist noch meilenweit von James Joyce entfernt (was nicht heißen soll, dass Straub nicht dazu fähig wäre, einen zweiten „Ulysses“ zu schreiben – aber wer wollte das schon tun?).
Diesmal rettet der jugendliche Held nicht seine Mutter – dafür ist es bereits zu spät. Er rettet sich selbst vor dem „Schattenmann“ und wohl auch ein Mädchen, das unter diesem Finsterling zu leiden hatte. So entkommt – je nach Lesart – der jugendliche Held der Nachtseite jener Stadt Millhaven. Die Stadt sollte ihm eigentlich in ihrer Wohlanständigkeit Schutz und Unterstützung bieten, hat aber letzten Endes nur zwei Serienkiller hervorgebracht, die wie Wölfe unter Schafen wüteten. Der Durchbruch in die andere Dimension – ist das die Flucht in ein Paradies des Cyberspace, der Virtualität? Bedeutet dies Eskapismus oder Hoffnung für unsere Generation und unsere Kinder? Die Antworten sind im Buch versteckt, man muss sie – jeder für sich – selbst finden. Sie werden nicht auf dem Silbertablett serviert. Das unterscheidet einen Künstler wie Straub von den Groschenheftautoren.
Originaltitel: Lost boy lost girl, 2003
Aus dem US-Englischen übersetzt von Uschi Gnade
320 Seiten
ISBN-13: 9783453430006 www.heyne.de
Der Autor vergibt: (4.5/5) Ihr vergebt: (No Ratings Yet)
Straubs Romane wurden mehrfach ausgezeichnet, unter anderem 1989 und 1993 mit dem World Fantasy Award für „Koko“ als bestem Roman, dem British Fantasy Award und dem Bram Stoker Award. 2010 erhielt er den World Fantasy Award für sein Lebenswerk. Aber auch seine Novellen und Kurzgeschichten können sich sehen (und lesen) lassen. Mit „Haus ohne Türen“ liegt seine erste Storysammlung auf Deutsch vor.
„Schattenstimmen“ ist die indirekte Fortsetzung von „Haus der blinden Fenster“ mit dem Straub großen Erfolg hatte.
Willy Patrick ist eine erfolgreiche Autorin von Jugendbüchern (darunter „Schattenstimmen“) und steht kurz davor, einen noch weitaus erfolgreicheren Firmenanwalt zu heiraten. Doch Freunde warnen sie vor dem Mann, und Albträume suchen Willy heim. Vor zwei Jahren verlor sie ihren Mann und ihre Tochter bei einem Unfall. Nun erscheint ihr ihre Tochter bereits am hellichten Tag. Wird sie verrückt? Als ein Freund andeutet, dass ihr Verlobter etwas mit jenem Autounfall zu tun gehabt haben könnte, ergreift Willy die Flucht …
Willy stammt ebenso wie der Schriftsteller Tim Underhill aus dem kleinen Städt Millhaven in Illinois. Auch Tim wird heimgesucht: von seiner toten älteren Schwester April. Ein rabiater Fan scheint hinter ihm her zu sein und verwüstet sogar seine Wohnung. Obendrein bekommt er weiterhin unheimliche E-Mails. Als Underhill bei einer Lesung Willy Patrick kennen lernt, kriegt er Panik: Sie sieht genauso aus wie die Heldin in seinem neuesten Roman, an dem er vergeblich schreibt. Zudem scheint sie in der gleichen Gefahr zu schweben, die er für seine Heldin erfunden hat … Peter Straub – Schattenstimmen weiterlesen →
„In the night room“ ist die indirekte Fortsetzung von „Lost by lost girl“ [(„Haus der blinden Fenster“),]http://www.buchwurm.info/book/anzeigen.php?id__book=1003 mit dem Straub großen Erfolg hatte.
Willy Patrick ist eine erfolgreiche Autorin von Jugendbüchern (darunter „In the night room“) und steht kurz davor, einen noch weitaus erfolgreicheren Firmenanwalt zu heiraten. Doch Freunde warnen sie vor dem Mann und Albträume suchen Willy heim. Vor zwei Jahren verlor sie ihren Mann und ihre Tochter bei einem Unfall. Nun erscheint ihr ihre Tochter bereits am helllichten Tag. Wird sie verrückt? Als ein Freund andeutet, dass ihr Verlobter etwas mit jenem Autounfall zu tun gehabt haben könnte, ergreift Willy die Flucht …
Willy stammt ebenso wie der Schriftsteller Tim Underhill aus dem kleinen Städtchen Millhaven in Illinois. Auch Tim wird heimgesucht: von seiner toten älteren Schwester April. Aber auch ein rabiater Fan scheint hinter ihm her zu sein und verwüstet sogar seine Wohnung. Obendrein bekommt er weiterhin unheimliche E-Mails. Als Underhill bei einer Lesung Willy Patrick kennen lernt, kriegt er Panik: Sie sieht genauso aus wie die Heldin in seinem neuesten Roman, an dem er vergeblich schreibt. Zudem scheint sie in der gleichen Gefahr zu schweben, die er für seine Heldin erfunden hat …
_Der Autor_
Peter Straub zählt neben Stephen King, John Saul und Dean Koontz zu den herausragenden amerikanischen Horror-Autoren. Er wurde in Milwaukee, Wisconsin (wo viele deutsche Auswanderer wohnten), geboren und lebte ein Jahrzehnt lang in England und Irland. Seine Bücher sind in viele Sprachen übersetzt worden und hatten 1994 (!) eine Weltauflage von 10 Millionen bereits weit überschritten. Heute lebt er mit seiner Frau auf einer Farm in Connecticut.
Zusammen mit Stephen King schrieb er „Der Talisman“ und dessen Fortsetzung „Das schwarze Haus“. Seine eigenen Romane sind ebenfalls – meistens – bei |Heyne| erschienen:
Schattenland
Geisterstunde
Das geheimnisvolle Mädchen /Julia / Die fremde Frau
Der Hauch des Drachen
Wenn du wüsstest
Koko und die Fortsetzung „Der Schlund“ (Romane mit Tim Underhill)
Mystery
Reise in die Nacht / [Hellfire-Club]http://www.buchwurm.info/book/anzeigen.php?id__book=1110 (später umbenannt)
Mister X / Schattenbrüder (später umbenannt)
[Esswood House]http://www.buchwurm.info/book/anzeigen.php?id__book=1603
[Haus der blinden Fenster]http://www.buchwurm.info/book/anzeigen.php?id__book=1003
Die Storysammlungen „Haus ohne Türen“ und „Magic Terror“ sind ebenfalls sehr zu empfehlen.
_Handlung_
|Tim …|
… Underhill hat schon in „Lost boy lost girl“ ein paar unheimliche E-Mails ohne Absenderadresse erhalten. Nun bekommt er noch eine ganze Ladung mehr davon. Die meisten beleidigen ihn, als Mensch, aber schlimmer noch: auch als Schriftsteller. Er ruft beim „Sekretär für den Jahrgang“ an, mit dem Underhill von der Schule abging, und siehe da: Alle E-Mails sind von Menschen geschrieben worden, die erst kürzlich gestorben sind. Die Frage ist natürlich, wie kann ein Toter E-Mails verschicken? Und vor allem: Warum sollte er oder sie das tun wollen?
Eines Tages erhält Tim Besuch von einem seltsamen Mann, der sich als Fan ausgibt und der Tim bittet, fünf Exemplare von dessen neuem Buch „Lost boy lost girl“ zu signieren. Tim wird stutzig: Warum denn gleich fünf Bücher – würde denn eines nicht ausreichen? Jasper Kohle beleidigt Tim als Autor und als Mensch. Im Verlauf des Geprächs mit Kohle verändert sich auch dessen Gesicht. War es zunächst noch geradezu jugendlich, so erscheint es Tim schließlich, als Kohle sich in den Regen verabschiedet, alt, abgehärmt und eingefallen.
Doch er hat Kohle nicht das letzte Mal gesehen. Als Tim einmal ausgeht, um den Frust über das Stocken seines Schreiben durch Spazierengehen abzureagieren, geschehen noch merkwürdigere Dinge. Inzwischen hat sich Tim daran gewöhnt, dass er seine verstorbene Schwester April am hellichten Tag sieht. Sie ruft ihm etwas zu: „Hör auf uns!“ Meint sie die E-Mail-Schreiber?
Doch im Nebel, der nun auf der Hauptstraße herrscht, taucht ein junger Mann auf, der Tim ungnädig ansieht und sich sodann bis auf die Haut auszieht. Dort, wo sein Geschlecht sein sollte, befindet sich jedoch nur glatte Haut wie bei einer Puppe. Als ob das nicht Wunder nicht genug wäre, breitet der junge Mann immense Engelsschwingen aus, erhebt sich mühelos in die Lüfte und verschwindet in der Ferne.
Als Tim in seine Wohnung zurückkehrt, ist sie verwüstet. Auf seine Exemplare von „Lost boy lost girl“ hat jemand uriniert, und dreimal darf Tim raten, wer es war: Jasper Kohle. Die Polizei nimmt den Einbruch nicht besonders ernst, denn es wurde nichts gestohlen. Aber am gleichen Abend lässt sich ein E-Mail-Schreiber mit dem Usernamen „Cyrax“ dazu herbei, Tim die Anderswelt zu erklären, von wo er die E-Mails erhält – und wo sich auch „Jasper Kohle“ aufhält. Nur, dass dieser dort einen Tim wohlbekannten Namen trägt: Joseph Kalendar, der Serienmörder von Millhaven.
Joseph Kalendar hat in „Lost boy lost girl“ entdeckt, dass Tim ihn anklagt, seine eigene Tochter Lily missbraucht zu haben, schreibt Cyrax. Daher ist Kalendar mächtig sauer auf Underhill – mit den bekannten Folgen. Um dieses Unrecht wiedergutzumachen, werde Tim einen hohen Preis zahlen müssen. Cyrax will, dass Tim a) zur Hochzeit seines Bruders fährt und b) zu einer bestimmten Lesung …
|Willy|
Die Jugendbuchautorin Willy Bryce Patrick hat vor zwei Jahren ihren Mann James und ihre Tochter Holly verloren. Holly erscheint ihr immer noch in ihren Albträumen, und sie glaubt, verrückt zu werden. Als sie einen Preis für ihren neuen Roman „In the night room“ erhält, die renommierte Newbery Medal, lernt sie den Wirtschaftsanwalt Mitchell Faber kennen. Der weltgewandte Mann interessiert sich für die trauernde Witwe und macht ihr einen Antrag. „Sie wissen, dass Sie mich brauchen.“ Willy gibt ihm Recht, und das war das. Immerhin ist er fantastisch im Bett.
Er arrangiert alles für die Hochzeit und quartiert sie in seinem weitläufigen Gut in Virginia ein, wo zwei Aufpasser ihn vertreten. Aber wie wenig er ihr vertraut, kann sie an dem Umstand ablesen, dass sie keinen Zutritt zu seinen Büroräumen hat. Als sie ihm in Europa hinterher telefoniert, ist er nicht aufzutreiben. Natürlich erhält sie verlogene Erklärungen. Nichts soll sie vor der Hochzeit beunruhigen.
Als ein Sturm das Bürofenster beschädigt und man sich Zutritt verschaffen muss, entdeckt Willy per Zufall ein Foto von ihrem verstorbenen Mann: Er liegt mit drei Löchern in der Brust und abgehackten Händen auf dem Boden. Dies war mitnichten ein Autounfall. Vielleicht hat Willys Ex-Freund Tom Hartland Recht, wenn er Mitchell Faber als „böse“ bezeichnet. Die Hochzeit soll auf einem anderen Gut namens Nightwood stattfinden. Doch so lange wartet Willy nicht. Nachdem sie die Aufpasser ausgetrickst hat, macht sie die Fliege und fährt nach New York City.
|When Timmy met Willy|
Unterdessen hat sich Timmy zu der von Cyrax empfohlenen Lesung in einem Buchladen in der Stadt eingefunden. Die Art und Weise, wie die weiterhin verfolgte Willy dort eintrifft, ist nur für sie selbst spektakulär. Doch als Timmy sie in den hinteren Reihen seines Publikums sitzen sieht, muss er immerzu an sie denken. Nachdem alle Besucher gegangen sind und nur er und die Managerin noch da sind, kommt es endlich zu einer richtigen Begegnung zwischen den beiden. Timmy weiß, dass er sein Schicksal getroffen hat. Und Willy erwartet von ihm endlich Antworten auf das, was ihr Sonderbares zugestoßen ist. Beispielsweise auch zu ihren häufigen Geistesabwesenheiten, in denen sie Stunden zu verbringen scheint.
Timmy ist der Mann mit allen Antworten. Nicht nur das – er kennt Willy durch und durch und findet sie einfach noch viel bezaubernder, als er sie sich vorgestellt hat. Schließlich hat er sie in seinem Buch erschaffen, an dem er gerade schreibt …
_Mein Eindruck_
„In the night room“ ist nicht nur eine notwendig gewordene Fortsetzung zu „Lost boy lost girl“, es ist viel mehr. Natürlich wird das Unrecht, das Tim an Joseph Kalendar und seiner Tochter begangen hat, wieder korrigiert, gar keine Frage. Aber wie es dazu kommen kann, ist der entscheidende Punkt. Wie kann ein Schriftsteller, der sich in seine eigene Schöpfung – Willy – verliebt hat, diese wieder gehen lassen, um alles wieder ins Lot zu bringen?
Da ist zunächst einmal die Frage nach der Verhältnis zwischen Schöpfer und Schöpfung. Es ist die Frage, die sich heutzutage wohl die wenigsten kreativen Schriftsteller stellen, es sei denn, sie erschaffen mit ihrer Phantasie ein eigenes Universum. Das hat Tim Underhill, Peter Straubs Schöpfung, getan. Underhill – oder „Underdog“, wie Cyrax ihn nennt – ist seit über zwanzig Jahren Straubs Lebensgefährte. Straub weiß genau, wie Tim sich fühlt, als Willy seinem Helden begegnet. (Und wir erfahren dies „aus erster Hand“: aus Tims Tagebuch.) Aber wie fühlt sich Willy, als sie die Wahrheit herausfindet – hat schon mal jemand daran gedacht?
Willy ist zum Verlieben: Sie ist schön, sowieso, aber sie ist auch intelligent, dynamisch, fraulich – und sehr menschlich. Sie wundert sich selbst darüber, dass sie die ganze Zeit so einen Heißhunger auf Süßes verspürt: Sie kauft mit Tims Geld gleich eine Reisetasche voller Schokoriegel und Kekse ein – eine wunderbar komische Szene, die ich liebe. Und auch im Restaurant ist sie gut im Verdrücken von Pfannkuchen etc. Aber dann merkt sie, dass etwas nicht stimmt: Sie hat dieses seltsam leichte Gefühl, als ob sie gleich abheben würde. Und dann verschwindet ihre linke Hand. Sie kann durch ihre Finger sehen, bis die Hand wieder solide wird. Willy ist nicht schockiert. Sie ist eher verwundert, dann gefasst.
Tim bringt es kaum übers Herz, ihr die Wahrheit zu sagen. Dass sie seiner Imagination entsprungen ist wie Pallas Athene dem Haupt ihres Vaters Zeus. Dass er sie liebt, ist offensichtlich. Und dass sie ihn liebt, beweist sie ihm allnächtlich im Bett. Und sie kennt ebenfalls sein Innenleben, hat er einen Teil davon doch auch in sie investiert, um sie zu vollständig zu machen. Aber nun ist er ihr göttlicher Vater und hat plötzlich eine entsprechende Verantwortung. Es ist, als hätte Tim nicht nur eine Geliebte, sondern auch ein Kind bei sich. Und sieht sie nicht tatsächlich ein wenig jünger aus – etwa 19 oder 20 statt 38?
Dass dieser Zustand nicht anhalten kann, ist Willy bald klar. Sie fragt Tim, wieso sie hier, in seiner Welt, gelandet ist – oder hat sie jemand hierher verfrachtet? Es gibt in der Tat eine Mission, die sie und Tim zu erfüllen haben. Cyrax hat sie ihm explizit aufgetragen. Diese Mission besteht darin, erstens die echte Lily Kalendar in Tims Welt zu finden – es gibt sie – und zweitens die Stellvertreterin Lilys, nämlich Willy, in das Geisterhaus von Joseph Kalendar zu bringen, genauer: in den Night Room selbst.
Kaum also haben sich die beiden auf ihre seltsame Weise gefunden, müssen sie einander schon wieder verlassen. Tim muss Willy, seine Schöpfung, für ein höheres Ziel opfern. Dass dies notwendig ist, belegt die Anwesenheit von Joseph Kalendar, dem Finsterling am Ende der Straße. Nun fragt sich der Leser, warum sich Willy nicht weigert: Warum sollte sie sterben? Aber diese Frage verkennt, dass Willy bereits am Verblassen ist und nur zu eben diesem Zweck in diese Welt gekommen ist: um das Geisterhaus und alle, die darin gefangen sind, von einem alten Fluch zu erlösen. Deshalb ist Willy wundervollerweise bereit, auf Nimmerwiedersehen in dieses Haus zu gehen …
Tausend Fragen ergeben sich nun wieder daraus. Wenn Willy Tim Underhills Geschöpf ist und Tim Peter Straubs Geschöpf, wessen Geschöpf ist dann Peter Straub? Oder besser gefragt: Wessen Geschöpf ist der Tim Underhill in seinen Büchern, sobald die Millionen Leser von Underhill lesen? Ist Underhill nicht bereits ein Geschöpf, das im kollektiven Bewusstsein und Unterbewusstsein aller Leser existiert? Was würde geschehen, wenn Straub dieses sein ihm sicher lieb gewonnenes Geschöpf für einen höheren Zweck opfern würde?
Das wiederum erinnert unweigerlich an die Passion Jesu. Warum wurde Jesus von Nazareth in die Welt geschickt? Gab es ihn wirklich, als Geschöpf Jehovas, oder wurde er von den Lesern der vier genehmigten Evangelien unsterblich gemacht? Wir glauben inzwischen zu wissen, welchem Zweck Jesus diente und immer noch dient: als Abbild, als Mythos. Doch könnte er genauso wie Willy und die römischen Götter auch wieder verblassen. Dies liegt nicht mehr in der Hand seines oder seiner Schöpfer, der Evangelisten, sondern in der seiner „Leser“ oder Gläubigen. Das betrifft auch islamistische Fundamentalisten.
Straubs Roman zeigt das Verhältnis zwischen Fakt und Fiktion auf, präsentiert uns auch Religionsinhalte als Fiktion und wirft einige kritische Fragen auf. Welchen Absolutheitsanspruch hat der Schöpfer gegenüber seiner Schöpfung und welche Verantwortung? Wir Menschen können dies inzwischen auf unseren Planeten beziehen. Und da wir täglich damit konfrontiert werden, dass der Planet uns gegenüber keinerlei Verantwortungsgefühl an den Tag legt, stellt sich die Frage, was uns von der gleichgültigen Gaia unterscheidet. Können wir es uns leisten, unseren eigenen Schöpfungen gegenüber ebenso gleichgültig zu sein? Natürlich nicht. Deshalb haben wir die Ethik fürs Handeln und die Moral fürs Empfinden erfunden.
Nun wird es aber für Tim interessant. Er hat mitgeteilt bekommen – unter anderem von Cyrax – dass es eine andere Dimension gibt, das Reich. Dort gibt es Hierarchien, und die oberste besteht im PRIME. Hier leben nicht nur Engel, sondern auch verstorbene Seelen: sasha und zamani (Wörter aus der afrikanischen Sprache Kisuaheli). Eine Hölle gibt es nicht. Sasha jedoch materialisieren sich in Tims Welt (die unserer ziemlich ähnlich ist) und verursachen jede Menge potenziellen Ärger. Daher gilt es für Tim, Verantwortung gegenüber diesen sashas – z. B. Joseph Kalendar alias Jasper Kohle – zu zeigen und Fehler zu korrigieren. Darin besteht seine Mission mit Willy.
Der Leser kann nun dieses „Reich“ mit der jenseitigen Welt gleichsetzen, die für seine Konfession jeweils vorgesehen ist: römisch-katholisch, evangelisch, jüdisch, muslimisch, buddhistisch, usw. Für uns agiert Tim Underhill, als hätte er einen „göttlichen“ Befehl erhalten, als wäre er eine Art Prophet oder himmlischer Agent. Der Knackpunkt besteht wohl darin zu betrachten, wie er seine Verantwortung umsetzt und wie er Willy, seine Schöpfung, behandelt. Dieses Verhalten scheint mir eine moralische Lehre zu enthalten. Straub erzählt sie ohne erhobenen Zeigefinger und auf die charmanteste vorstellbare Weise: als ironische Liebesgeschichte und als das Märchen von Alice im Wunderland (Tims Tochter April taucht immer als Alice verkleidet auf: ein mahnender Geist).
_Unterm Strich_
Bereits in „Black House“ hat Straub das Element eines durch „slippage“ (so viel wie Schliddern) in die erzählte Welt geratenen Wesens genutzt, um für unheimliche Spannung zu sorgen. „In the night room“ verrät uns nun, woher solche Wesen kommen: aus dem Reich. Allerdings hat es fatale Ähnlichkeit mit dem Reich der Ahnen einerseits und dem christlichen Himmel andererseits. Immerhin gibt es keine Hölle, was ja schon ein Fortschritt ist. Vielleicht ist ja die Welt höllisch genug. Ganz bestimmt ist es nämlich der titelgebende „night room“. Vor dem haben wir uns schon in „Lost boy lost girl“ („Haus der blinden Fenster“) gefürchtet.
Der Schriftsteller Underhill ist unser Führer zu diesem Grenzbereich, und er ist ein guter Führer. Durch seine Vietnam-Erfahrungen abgehärtet, ist er gerüstet für übernatürliche Phänomene (vgl. „Koko“). Zugleich ist er dennoch so menschlich geblieben, dass er sich auf eine Liebesbeziehung einlassen kann. Eigentlich ist er ja schwul, aber, hey, bei seinem eigenen Geschöpf kann er ja wohl schlecht nein sagen, oder? Ist ja fast wie Selbstbefriedigung, denkt nun wohl so mancher Leser, aber das ist ein Trugschluss. Willy ist sehr eigenständig, und ihre Entwicklung fordert Tims ganzes Mitgefühl – bis zu ihrem Opfergang. Die „slippage“ funktioniert nämlich in beide Richtungen.
„In the night room“ ist sehr literarischer und intellektueller Horror, und ich fand mich bei zahlreichen Überlegungen, welche und wie viele Bedeutungsebenen der Autor in sein Buch hineingelegt hat. Da Tim Underhill ein Schriftsteller ist und nun sein Geschöpf als echten Menschen kennen und lieben lernt, ist die Erzählung auch ein Kommentar über das kreative Schreiben an sich. Alles Weitere dazu habe ich oben ausgeführt.
Doch die Erzählung ist weder schlüpfrig noch trivial-frivol gestaltet, sondern wendet sich vielmehr an Erwachsene, die sich etwas unter menschlichem Verantwortungsgefühl vorstellen können. Phantastische Elemente wie die als „Alice im Wunderland“ auftretende April Underhill und der als Dark Man auftretender Joseph Kalendar tun dem keinen Abbruch – jeder Geist muss eben sein eigenes Gewand wählen, um sich bemerkbar zu machen.
|Die sprachliche Dimension|
Die Sprache, deren sich Straub bedient, erfordert eine gute Englischausbildung. Nicht nur er selbst bewegt sich hauptsächlich in gebildeten Schriftstellerkreisen, sondern offenbar auch sein Held Tim Underhill. Dementsprechend ausgefallen können manche Eigenschaftswörter ausfallen, und dann heißt es nicht selten: Hol das Wörterbuch raus. (Übrigens hat Straub das Buch einem Literaturkritiker gewidmet. Gary K. Wolfe rezensiert seit Jahren für das bekannte LOCUS Magazine und gehört dort bestimmt bereits zum Inventar.)
Für die hoffentlich kommende Übersetzung erhöht nicht nur dies die Schwierigkeiten. Hinzu kommt auch, dass sich der Geist Cyrax einer in Chatrooms üblichen Kürzelsprache (z. B. „gr8“ statt „great“) bedient, die es ebenfalls authentisch wiederzugeben gilt. Nicht jeder Übersetzer verfügt über einen solchen Erfahrungsschatz. Aber diese Chatsprache ist eine wesentliche Quelle sprachlichen Humors, denn in diesen Chat-Mails wird Underhill von Cyrax und den anderen „sashas“ richtiggehend niedergemacht, und das passiert den wenigsten Hauptfiguren. Deshalb wäre es unverzeihlich, würde man dieses Stilelement durch Hochdeutsch verwässern oder gar weglassen.
Von mir bekommt das Buch die volle Punktzahl. Aber (bislang) nur im Original.
Aus einer fremden Dimension, in der die Magie zum Alltag gehört, plant der böse „Scharlachrote König“ diese Welt zu übernehmen. Jack Sawyer, der als Kind schon einmal gegen dunkle Mächte antrat, muss wieder eine bizarre Reise antreten, um dem Herrscher und seinen unheimlichen Handlangern das Handwerk zu legen … – Überlanger & aus alten Ideen und Motiven recycelter Phantastik-Thriller, der aufgrund des Könnens zweier routinierter Autoren dennoch lesenswert ist.Stephen King/Peter Straub – Das schwarze Haus weiterlesen →
Schriftsteller Underhill hat einen Serienkiller verunglimpft, dessen Geist rachsüchtig aus dem Jenseits zurückkehrt; gleichzeitig stellt der Autor fest, dass er einen Riss im kosmischen Gefüge verursacht hat, der Realität und Fiktion bizarr zusammenfließen lässt … – Erneut schreibt Peter Straub vom unmerklichen Einbruch des Phantastischen in den Alltag. Das gelingt ihm vor allem im ersten Teil, doch obwohl der Verfasser dann auf ausgefahrene Horror-Geleise einbiegt, wahrt er seine stilistische Brillanz und ringt dem Plot manche Überraschung ab: Genrefreunde dürfen freudig zugreifen. Peter Straub – Schattenstimmen weiterlesen →
Der US-amerikanische Universitätsprofessor William Standish ist in seinem Leben festgefahren. Die Karriere an einer Provinzuniversität stagniert, daheim wartet Jean, die hochschwangere, hysterische Gattin, die ihn vor gar nicht langer Zeit betrogen hat. Da kommt ein Angebot aus dem englischen Esswood House gerade richtig: Standish wird eingeladen, in der Bibliothek des Hauses, das ein Treffpunkt berühmter Literaten und Poeten war, nach ungehobenen Schätzen zu suchen. Er arbeitet an einem Buch über seine Stiefgroßmutter Isobel Standish, eine unbekannt gebliebene Schriftstellerin des frühen 20. Jahrhunderts, um deren Schicksal sich ein Geheimnis rankt.
Esswood House ist seit jeher der Stammsitz der Seneschals. Die Familie ist auf zwei Mitglieder geschrumpft, die seit Jahren nicht mehr öffentlich in Erscheinung getreten sind. Standish wird nach komplizierter Anreise von Robert Wall, dem Verwalter, empfangen, einem mysteriösen Mann unbestimmbaren Alters. Er passt gut in die Atmosphäre von Esswood House, das sich als höchst merkwürdiges Anwesen erweist. Peter Straub – Esswood House weiterlesen →
Zum zweiten Mal kehrt Tim Underhill, Erfolgsschriftsteller aus Manhattan, in seine Heimatstadt Millhaven zurück, der er vor vielen Jahren den Rücken gekehrt hat. Erst hatte sich Nancy, die Gattin seines ungeliebten Bruders Philip, auf grausame Weise umgebracht. Wenig später verschwindet Mark, ihr Sohn, Tims Neffe, mit dem er sich gut versteht. Er ist nicht der erste Jugendliche, der vermisst wird. In Millhaven treibt ein Serienmörder sein Unwesen, der offenbar die Kontrolle über sich zu verlieren beginnt und die Taktfrequenz seiner Attacken steigert.
Marks tatsächliches Schicksal ist wesentlich bizarrer. Ein verlassenes Haus auf einem Nachbargrundstück hatte seine Aufmerksamkeit erregt. Es zog ihn an und stieß ihn gleichzeitig ab: Hier ist spürbar Furchtbares geschehen, das die Wände des Gebäudes wie eine Batterie aufgeladen hat. Michigan Street 3323 war vor vielen Jahren die Adresse von Joseph Kalendar, der als Psychopath und Serienmörder in die US-amerikanische Kriminalgeschichte einging. Man hatte ihn erst nach Jahren des Foltern und Mordens erwischt. In einer Anstalt für geistesgestörte Verbrecher wurde er 1985 von einem Mithäftling umgebracht.
Was Mark nicht wusste: Kalendar war ein Cousin seiner Mutter. Es gibt eine seltsame Verbindung zwischen ihr und dem toten Mörder. Dies war der Grund für Nancys Selbstmord. Sie hatte eine alte Schuld nicht länger ertragen: Einst hätte sie dem üblen Treiben ihres Cousins vorzeitig ein Ende machen können, war aber furchtsam zurückgewichen. Mark ist stärker, er wollte es mit Kalendar aufnehmen, zumal er entdeckte, dass dieser seine ebenfalls ermordete Tochter noch immer in den Folterhöhlen des Hauses Nr. 3323 gefangen hält und quält. Immer tiefer drang Mark in die schrecklichen Geheimnisse des alten Hauses ein. Aber dort ist es nicht Kalendar, der ihn vor jene Entscheidung stellt, die zu seinem Verschwinden führt …
Geschichte mit offenen Enden
„Haus der blinden Fenster“ – der Originaltitel „Lost Boy Lost Girl“ wird der Geschichte wesentlich gerechter – ist eine bemerkenswert gelungene Mischung aus Thriller und Gruselgeschichte. Wo man die Grenze zieht, bleibt dem Leser überlassen. Die phantastischen Elemente sind eindeutig, sie lassen sich nicht rational auflösen. Auf der anderen Seite spielt sich vieles von dem, was sich scheinbar ereignet, wohl nur in den Köpfen der Figuren ab.
„Haus der blinden Fenster“ ist wie so oft bei Peter Straub ein Roman, der um die Themen Schuld, Sühne & das Böse an sich kreist und dabei auf Genregrenzen keine Rücksicht nimmt. Darin gleicht er dem Schriftsteller Henry James (1843-1916), mit dem Straub – auch was die literarische Qualität angeht – oft verglichen wird. „The Turn of the Screw“ (1898; dt. „Die Drehung der Schraube“) weist in der Tat dieselbe unwirkliche Atmosphäre realer und übernatürlicher Bedrohung auf wie „Haus der blinden Fenster”.
Viele Fragen wirft Straub auf. Manche beantwortet er, andere können wir uns selbst zusammenreimen. Nicht wenige bleiben jedoch offen. Ist der Sherman-Park-Killer der wiedergeborene Joseph Kalendar? Ist er ein Mensch, der von dessen Geist besessen ist? Wird Nancy Underhill wirklich vom Geist der Kalendar-Tochter, die sie einst feige im Stich ließ, in den Tod getrieben? Bildet sie sich das in nur ein? Wird auf dem privaten Friedhof des Sherman-Park-Killers doch die Leiche Marks zum Vorschein kommen, den sein Onkel in der „anderen Welt“ wähnt? Worum handelt es sich bei dieser “anderen Welt” eigentlich? Ist sie das Jenseits, eine fremde Dimension, eine parallele Erde?
Geschichte ohne sicheren Boden
Straubs komplexer Schreibstil verstärkt geschickt die Unsicherheit, die der Leser mit den Figuren teilt. Wir erleben Zeitsprünge in Vergangenheit und Zukunft. Die Perspektive wechselt; manchmal erzählt Tim Underhill, dann wird er vom (unsichtbaren) Verfasser beobachtet, der im Mittelteil die Handlung fast gänzlich Mark Underhill überlässt. Manche Ereignisse werden parallel geschildert, wobei die Interpretation sehr unterschiedlich ausfallen kann: Tim und Mark sehen die Welt nicht mit denselben Augen.
Das verwunschene Haus, in dem es aufgrund eines lange in der Vergangenheit liegenden Unrechts umgeht, ist längst ein Klischee der Phantastik. Auf jeden Fall ist es schwierig, ihm heutzutage neues Leben einzuhauchen. Auch hier leistet Straub gute Arbeit. Auf dem Grundstück Nr. 3323 lastet wahrlich ein Haus gewordener Alptraum.
Wiederum wurzelt das Grauen ausschließlich in der menschlichen Seele; für Außerirdische, Trolle, Vampire und andere Ausgeburten des klassischen und halbwegs gemütlichen Horrors ist kein Platz in Straubs Welt/en. Auch das Paradies, in dem Mark und seine Lucy sich wiederfinden, entpuppt sich als Stätte zwar ungewöhnlicher aber deshalb nicht weniger bedrohlicher Gefahren.
Kontrollverlust und Seelennöte
Timothy Underhill ist Peter Straubs anderes Ich, sein fiktiver Stellvertreter, den er gegen allerlei eingebildete und echte Dämonen kämpfen lässt, seit er ihn 1988 zum ersten Mal mit dem „Blue-Rose“-Mörder konfrontierte („Koko“), dessen Geheimnis erst 1993 in „The Goat“ (dt. „Der Schlund“) gelüftet wurde. Seither hielt sich Underhill verständlicherweise Millhaven (das Spiegelbild Milwaukees im US-Staat Wisconsin, der realen Heimatstadt Straubs) fern, weil sich für ihn viele unerfreuliche Erinnerungen an diesen Ort knüpfen.
Zu schaffen macht ihm auch die provinzielle Enge der kleinen Stadt, die vortrefflich verkörpert wird durch seinen Bruder Philip. Der hat sich scheinbar im biederen Establishment etabliert und ist doch die personifizierte Unzufriedenheit. Seiner Familie bereitet Philip wenig Freude, er ist gefühlskalt, egoistisch, unsensibel, untauglich als Ehemann und als Vater.
Mark, sein Sohn, ist eher nach Onkel Tim geraten. Mit seinen fünfzehn Jahren steckt er tief in der Pubertät, was seinen Alltag nicht einfacher macht. Seine Gefühle sind außer Kontrolle, seine Hormone laufen Amok. So wird er zum idealen Opfer für das Haus an der Madison Street. Zunächst voller Furcht über das, was er dort entdeckt, wird Mark zum jungen Ritter, der seine Prinzessin Lucy vor dem Drachen Kalendar retten will. Dafür zahlt er einen hohen Preis. Andererseits ist sein Schicksal angesichts der trüben Zukunft, die ihm sein reales Leben bietet, womöglich eine Verbesserung. Wie schon gesagt muss Mark jedoch feststellen, dass auch die „andere Seite“ keineswegs frei von Bedrohungen ist.
Geist oder nicht Geist?
Stets bleibt unklar, ob es wirklich Joseph Kalendar ist, dessen Geist noch immer nicht ablassen will von seiner krankhaften Menschenquälerei. Womöglich ist es der reale Sherman-Park-Killer, der sich mit dem berühmten ‚Kollegen‘ identifiziert und in dessen Haut schlüpft. Weil er uns niemals direkt unter die Augen tritt, ist Kalendar jemand, der für Angst und Schrecken sorgt – ein Schreckgespenst, das viel von dem verkörpert, was man sich unter einem Serienmörder vorstellt: eine schattenhafte Gestalt, die wie ein Mensch aussieht, aber eigentlich keiner mehr ist, sondern etwas Atavistisches, Düsteres, ein Wolf unter Schafen, aber ein gut getarnter, der Jagd auf seine ahnungs- und hilflosen Mitbürger macht.
Atmosphäre und interessante, eindringliche gezeichnete Figuren: Diese beiden Aspekte sind Straub deutlich ebenso wichtig wie die Handlung. Das Ergebnis mag den notorischen Mainstream-Horror-Leser irritieren oder womöglich abschrecken, aber wer sich auf “Haus der blinden Fenster” einlässt, erlebt einen Peter Straub in Hochform.
Autor
Peter Francis Straub wurde am 2. März 1943 in Milwaukee im US-Staat Wisconsin geboren. Der Schulzeit folgte ein Studium der Anglistik an der „University of Wisconsin“, das Straub an der „Columbia University“ fortsetzte und abschloss. Er heiratete, arbeitete als Englischlehrer, begann Gedichte zu schreiben. 1969 ging Straub nach Dublin in Irland, wo er einerseits an seiner Doktorarbeit schrieb und sich andererseits als ‚ernsthafter‘ Schriftsteller versuchte. Während die Dissertation misslang, etablierte sich Straub als Dichter. Geldnot veranlasste ihn 1972 zur Niederschrift eines ersten Romans („Marriages“; dt. „Die fremde Frau“), den er (mit Recht) als „nicht gut“ bezeichnet.
1979 kehrte Straub in die USA zurück. Zunächst in Westport, Connecticut, ansässig, zog er mit der inzwischen gegründeten die Familie nach New York. Ein Verleger riet Straub, es mit Unterhaltungsliteratur zu versuchen. Straub schrieb „Ghost Story“ (1979; dt. „Geisterstunde“), seine Interpretation einer klassischen Rache aus dem Reich der Toten. Der Erfolg dieses Buches (das auch verfilmt wurde), brachte Straub den Durchbruch. Mit „Shadowland“ (1980; dt. „Schattenland“) und „Floating Dragon“ (1983; dt. „Der Hauch des Drachens“) festigte er seinen Ruf – und erregte die Aufmerksamkeit von Stephen King, mit dem er sich bald anfreundete. Die beiden Schriftsteller verfassten 1984 gemeinsam den Bestseller „The Talisman“ (dt. „Der Talisman“), dem sie 2001 mit „Black House“ (dt. „Das schwarze Haus“) eine ebenso erfolgreiche Fortsetzung folgen ließen.
Straubs Werke wurden vielfach preisgekrönt; akademisch penibel zählt der Autor seine Meriten hier auf. Diese Website ist ebenso informativ wie kurios und verrät einen intellektuellen Geist, der über einen gesunden Sinn für hintergründigen Humor verfügt.
Taschenbuch: 379 Seiten Originaltitel: Lost Boy Lost Girl (New York : Random House, USA 2003) Übersetzung: Uschi Gnade http://www.randomhouse.de/heyne
Der Autor vergibt: (4.0/5) Ihr vergebt: (No Ratings Yet)
Geist ist geil! Seit 2002 – Ständig neue Rezensionen, Bücher, Lese- und Hörtipps