Schlagwort-Archive: Ronald M. Hahn

Hahn, Ronald M. (Hg.) / Cassut, M. / Wheeler, D. / Reed, K. / Lethem/Kessel/Kelly / Bova, B. / Ducha – Tod im Land der Blumen, Der (The Magazine of Fantasy and Science Fiction, Band 98)

SF-Storys: Kulturen treffen aufeinander

Diese Auswahl aus dem „Magazine of Fantasy and Science Fiction“ fällt im Niveau der Beiträge merklich gegenüber dem „Asimov Science Fiction Magazine“ ab. Es gibt keine witzige Story, und einziger gemeinsamer Nenner scheint das Aufeinandertreffen unterschiedlicher Kulturen zu sein. Das allerdings ist eines der uralten Themen der Science-Fiction. Die beste Story ist meiner Ansicht nach Ben Bovas schon oft anthologisierte Story „Der Caféhaus-Putsch“. Sie hat Pfiff und eine überraschende Pointe.

Die Storys

1) Bei Michael Cassuts Story |“Auf großer Fahrt“| ist bereits der Titel der blanke Hohn. Das große Generationenraumschiff, das zum Alpha Centauri fliegen soll, hängt seit Jahren in der Kreisbahn über der Erde fest. Schon haben sich an Bord Menschen entwickelt, die unter Erdbedingungen kaum noch leben könnten. Unterklasse und Management sind streng getrennt, denn die Verwalter sind alle mit dem Gehirn in das weltumspannende Netz (Internet?) eingeklinkt, die anderen nicht. Es geht um zwei Brüder, die aufeinandertreffen, sozusagen Jakob und Esau. Der eine ist Verwalter, der andere lebt unvernetzt in der Arbeiterklasse. Letzerer lässt eines Tages einen Virus auf die Verwalteranlagen los, bringt das Netz zum Absturz. Sein Kontrahent zieht sich zurück und überlässt ihm den Posten. Am Schluss steht „Alpha Cen“ nicht mehr für Tod, sondern für Leben. Die Fahrt kann losgehen.

Die Story ist schlecht und unübersichtlich erzählt, vieles muss man sich zusammenreimen. Insgesamt ein schlechter Einstieg in das Buch. Das Thema Vernetzung taucht später nochmal auf.

2)

Da erledigt Deborah Wheeler mit |“Der Tod im Land der Blumen“| einen wesentlich besseren Job. Wie in der nachfolgenden Story treffen zwei Kulturen aufeinander: hier die mittellosen, kranken, stets vom Tode bedrohten Einwohner einer kolumbianischen Küstenstadt und dort die reichen, gesunden Anglo-Urlauber, die auf einer vorgelagerten Insel, dem Land der Blumen, ihre Freizeit verbringen. Eines Tages wird es Javier gestattet, dort im Hotel zu putzen.

Sofort beginnt er eine superscharfe Affäre mit einer weißen Anglo. Die stellt sich als krank in der Seele heraus, während man bei ihm eine Blutkrankheit diagnostiziert. Nach dem Austausch ihrer Lebenssysmbole (ihr Dolch, mit dem sie sich die Pulsadern aufschneidet; seine Pistolenkugel, die ihn fast erledigt hätte) haut die Anglo ab und lässt ihn sitzen. Javier kehrt gebrochen, aber reicher heim.

Stimmungsvoll, packend, realistisch und höchst erotisch.

3)

In seiner Story |“Rajmahal“| stellt Kit Reed die Erlebnisse dreier Personen in Indien einander gegenüber. Der Rajmahal ist ein altes Grabmal, in dem eine Gruppe ahnungsloser Amis aus Minnesota Abenteuerurlaub macht. Das Dorf, das sie ab und zu besuchen, ist bettelarm und fühlt sich miss- bzw. verachtet. Als eine der US-Frauen eine Affäre mit dem Dorfschullehrer anfängt, um ihren Mann zu ärgern, bricht Gewalt aus, in deren Verlauf nicht nur diese Frau umkommt, sondern auch das Monument geschlossen wird.

Reed macht klar, welchen Störfaktor reiche Touristen in einem bettelarmen Land darstellen und dass es nur eines kleinen Funkens bedarf, um dieses Pulverfass explodieren zu lassen. Ironisch wird das subjektive Bild, das sich jeder der Beteiligten vom Gegenüber macht, gespiegelt – ein Kaleidoskop der Missverständnisse.

4)

Gleich drei Autoren – Lethem/Kessel/Kelly – haben sich daran gesetzt, ums uns zu erzählen: |“So endet die Welt wirklich“|. Die Welt des 21. Jahrhunderts ist gespalten in die Mehrzahl der Menschen mit einer geistigen Verstärkung, die an Telepathie grenzt, und eine kleine Minderheit von Verweigerern dieser so genannten CK-Verstärkung, die sich in kleine autarke Kolonien zurückgezogen haben. In der doppelbödigen Handlung werden zwei der wichtigsten Verweigerer umgedreht, um angeblich zu ihrem eigenen Wohl Erlösung zu erlangen – ihre eigene Welt endet.

Die Ironie dabei: Die Frau, die sie bekehrt, behauptet, lediglich die Eingebungen der Jungfrau Maria weiterzuleiten! Sie ist auch deshalb so glaubwürdig, weil sie selbst einst bis zu einem Unfall CK-verstärkt war. Als Renegatin ist sie doppelt so glaubwürdig, aber insgeheim arbeitet sie – quasi als Märtyrerin – für die Sache der CK-Verstärkung.

Eine komplexe Erzählung also, in der die subjektive Annahme über die Realität sowohl der Figuren wie auch des Lesers unterlaufen wird – vielleicht ein wenig zu clever für manchen Leser, der Action bevorzugt. Die gibt’s hier nicht.

5)

Ben Bova ist mit seiner bekannten Story |“Der Caféhaus-Putsch“| vertreten, die ich schon einmal in einer anderen |Heyne|-Anthologie gelesen habe. Ein Zeitreisender sitzt in einem Pariser Café in einem Jahr nach dem Ersten Weltkrieg, dessen Verlauf er selbst verändert hat, so dass die USA nicht in den Krieg eintraten. Sein Ziel war es, Hitler zu verhindern. Denn dessen geistige Nachkommen bedrohen die Zivilisation der Zukunft, aus der der Zeitreisende kommt. Ironischerweise verhindert er zwar Hitler und dessen Antisemitismus, zeitigt aber in Frankreich eine anti-arische Bewegung, die ebenso fanatisch ist.

Wie man also auch immer in die Geschichte eingreift – es ist stets verkehrt, wie es scheint.

6)

L. Timmel Duchamp hat sich in der 75-Seiten-Novelle eines ungewöhnlichen Themas angenommen: In „De secretis mulierum“ geht es um zwei Fälle von Frauen, die sich Zeit ihres Lebens als Männer ausgaben: Leonardo da Vinci und der heilige Thomas von Aquin. Jane, eine Historikerin, darf eine neu entwickelte Methode benutzen, mit deren Hilfe man Menschen der Vergangenheit aufgrund ihrer DNS quasi virtuell wiederbeleben kann. Was sie beobachtet, erschüttert besonders in Thomas‘ Fall die Lehren der katholischen Kirche. Was Jane aber umso mehr ärgert, ist der Unglauben und Zweifel ihres Doktorvaters und Lovers Teddy, der seine Glaubenssätze als männlicher Vertreter der Spezies in Frage gestellt sieht, dies aber nie zugeben würde. Jane hintergeht Teddy und führt die Versuche weiter. Am Schluss kann sie ihre Dissertation zwar vergessen, hat sich aber emanzipiert.

Der/die AutorIn hält es offenbar für wichtiger, wenn eine Frau ihre geschlechtliche Identität nicht verrät, dafür aber die Beziehung zu einem Menschen, der sie zu der Unterdrückung dieser Identität und anderer unangenehmer Wahrheiten zwingen will.

Faszinierender als dieses Thema, dessen Querelen wenig unterhaltsam dargestellt sind, ist die Entdeckung, dass es zu allen Zeiten – nun ja, die US-Regierung lässt Forschungen nur bis zum Jahr 1750 zu – Frauen gab, die sich als Mann verkleideten. Im Mittelalter war dies verboten und wurde mit dem Tode bestraft.

Es bleibt jedem Leser selbst überlassen, die offensichtlichen Parallelen zwischen der Vergangenheit und der Gegenwart der Erzählung zu ziehen.

Eine engagierte Story, leider wenig routiniert umgesetzt, aber einen Blick auf jeden Fall wert.

Unterm Strich

Ich würde diesen Auswahlband aus dem MFSF nicht noch einmal lesen. Kein Wunder, dass diese Reihe schon bald danach – mit Band 101- eingestellt wurde. Storys liefern und verarbeiten zwar Ideen, aber die Zubereitung derselben sollte den Geschmack des Lesers treffen. Dieser Geschmack hat sich seit Ende der neunziger Jahre offenbar erheblich gewandelt.

Taschenbuch: xxx Seiten
Diverse Übersetzer.
ISBN-13: 9783453140097

www.heyne.de

Ronald M. Hahn (Hg.) – Die Marsprinzessin (Magazine of Fantasy and Science Fiction 100)

Zum Jubiläum: hohe Qualität im Sammlerstück

Dies ist der Jubiläumsauswahlband Nummer 100 aus dem Jahr 1999, der vorletzte der traditionsreichen Reihe – und aus diesem besonderen Anlass vierfarbig illustriert!

Das Magazin
Ronald M. Hahn (Hg.) – Die Marsprinzessin (Magazine of Fantasy and Science Fiction 100) weiterlesen

Hahn, Ronald M. (Hg.) / McHugh, M. / Finch, S. / Crowley, J. / Kelly, J. P. / Reed, R. / Holland, B. – Lincoln-Zug, Der (The Magazine of Fantasy and Science Fiction, Band 96)

_Alternative Geschichte: Südstaatler ins Reservat_

Das Magazine of Fantasy and Science Fiction (MFSF) ist seit jeher bekannt für seine ausgefallenen, innovativen Storys, die beileibe nicht nur aus der Science-Fiction-Ecke kommen. Dankenswerterweise bringt der |Heyne|-Verlag eine Auswahl der Storys in regelmäßigen Abständen auf den Markt, herausgegeben von Ronald M. Hahn. Dies ist der Auswahlband Nummer 96 aus dem Jahr 1997.

_Die Erzählungen_

|1) Maureen McHugh: Der Lincoln-Zug|

Die Südstaaten haben den Bürgerkrieg verloren und mussten alle Sklaven freilassen, doch Präsident Lincoln ist einem Mordanschlag entgangen. Leider kann er seine Amtsgeschäfte nicht ausüben, sondern muss einem gewissen Seward, den Vizepräsidenten, den Job überlassen. Daher kommt es, dass Maßnahmen ergriffen werden, die nicht in unseren Geschichtsbüchern stehen.

Clara und ihre Mutter leben in Mississippi, einem der Sklavenhalterstaaten, als man sie deportiert. Sie sollen ihr Heim verlassen, in den Lincoln-Zug steigen, um nach Oklahoma zu reisen – ins Reservat für Südstaatler. Doch im schrecklichen Gedränge auf dem Bahnsteig verliert sie sowohl ihren Koffer als auch ihre Mutter, die totgetrampelt wird. Im vollgestopften Zug zeigt nur eine Frau namens Elisabeth Mitleid mit der Vollwaise.

In Oklahoma stehen wieder alle auf dem Bahnsteig, als eine abgemagerte, abgerissene Frau herbeistürzt und schreit, dass hier alle Hungers sterben würden. Die Regierung hat die Südstaatler zu den Indianern ins Reservat beim Fort gesteckt, aber nicht genug Lebensmittel, um sowohl die Armeen als auch die Deportierten zu verköstigen. Bald kommt der Winter – und der Hungertod.

Da streckt die Frau namens Elisabeth eine helfende Hand aus. Es gebe noch einen anderen Zug: die „unsichtbare Eisenbahn“. Dieses Netzwerk aus geheimen Helfern soll Clara zu ihrer Schwester nach Tennessee bringen, viele Meilen entfernt. Aber warum, so fragt sich Clara ängstlich, helfen diese Abolitionisten den Sklavenhaltern? Gute Frage …

|Mein Eindruck|

Die vollständig im Präsens erzählte Geschichte ist sehr anschaulich, mitfühlend und bewegend. Wir erleben das schreckliche Geschehen aus Claras Blickwinkel mit, und es ist fast wie an einer Deportation ins KZ teilzunehmen. (Man denke an „Schindlers Liste“.) Doch obwohl es keine Todeszüge gab wie im Dritten Reich, so doch den berüchtigten Todesmarsch der Cherokee: Diese Indianer mussten mehrere tausend Meilen aus Florida ins westlich gelegene Oklakoma-Territorium marschieren, wobei natürlich die meisten ums Leben kamen.

Die Story greift beide Motive auf und verweist durch ihren alternativen Geschichtsverlauf im Hintergrund auf die Parallelen. Doch wozu? Sollen die Südstaatler als Amerikas Juden gebrandmarkt werden? Mitnichten! Die Autorin will endlich die Versöhnung mit den Sklavenhaltern und erzählt deshalb von einer nordstaatlichen Untergrundorganisation, die den „bösen“ Südstaatlern hilft – damit endlich Versöhnung möglich ist. Und Clara ist eben eine der Unschuldigen, die es auf allen Seiten zu allen Zeiten gegeben hat. Deshalb werden nur sie und ein Junge gerettet, nicht aber die anderen. Irgendwo muss man ja mal anfangen, oder?

|2) Sheila Finch: Geistige Gemeinschaft|

Die Landefähre eines Raumschiffes setzt vier Leute auf einer Welt ab, die menschenfreundlich zu sein scheint. Vor zwei Jahren wurde ein Forschungsteam von 30 Astrophysikern hier abgesetzt. Was mag aus ihnen geworden sein? Das Landeteam besteht aus dem Piloten, dem Bordingenieur, einem Arzt und einer Expertin für Fremdkontakte, einer Xenolinguistin. Sie heißt Greer. Wir erleben das Geschehen aus ihrem besonderen Blickwinkel.

Von den dreißig Wissenschaftlern ist nur noch ein einziger Mann übrig: Sharnov. Was ist aus den anderen geworden, wenn es doch keine Aliens auf dieser grünen Welt gibt? Und Sharnov verhält sich, denkt Greer, wie ein Besessener, ein Wahnsinniger oder Schizophrener. Und er isst nichts. Als er die Landefähre entführt, kommt er nicht weit: Der per Code gesperrte Computer sprengt die Fähre. Die Überlebenden haben kein Wasser und wenige Rationen.

Als nur noch Greer und der Ingenieur übrig sind, isst dieser das Fleisch des Piloten. So weit will Greer nicht sinken. Ihr treuester Freund ist jetzt Sammy, der Hund Sharnovs, der sie seit der Landung begleitet. Und Sammy isst ebenfalls nichts. Nachdem Sammy den aggressiven Ingenieur getötet hat, macht er ihr ein besonderes Geschenk: sein Leben. Da endlich begreift die bereits stark geschwächte Greer endlich, was Sammy in Wirklichkeit ist …

|Mein Eindruck (VORSICHT, SPOILER!)|

Die Frage bei der Frage des Wirt-Seins für ein Alien ist natürlich vor allem, wie der Wirt damit zurechtkommt. Erinnern wir uns an „Alien“: Das Monster legt seine Brut in den Wirtskörper, und die Larven fressen diesen als Nahrung von innen her auf – genau wie bei den Larven der Schlupfwespe in einer Raupe. Doch bei Greers Alien-Gast kommt ein zweiter Faktor hinzu: Es ist ein Telepath und dringt in ihren Geist ein.

Jetzt müsste sie eigentlich, wie der arme Sharnov zuvor, wahnsinnig werden. Doch dies geschieht nicht, weil ein dritter Faktor ins Spiel kommt: Greer verfügt über das von ihrer Gilde gelehrte „Kalamitätsmantra“, das sie immer aufsagt, wenn sie glaubt, in der Patsche zu sitzen und Hilfe zu benötigen. (Es erinnert an das Mantra von Paul Atreides, das er von den Bene Gesserit gelernt hat: „Die Angst ist der kleine Tod …“) Nur dieses Mantra verhilft Greer zum Überleben: Sie akzeptiert das Fremde und wird ein Hybrid.

|3) John Crowley: Fort|

Ein Mutterschiff von Aliens besucht die Erde, parkt in einer Umlaufbahn um den Mond. Dort sendet es seine Vorboten aus: die Elmers. Das sind kleine, schwabellige und sehr freundliche Humanoide, die alle möglichen Dienste anbieten: Darf ich Ihre Fenster putzen? Darf ich Ihren Müll raustragen? Und dergleichen mehr. Die bieten zudem ein Glückskärtchen an, das demjenigen, der auf das Wörtchen „Ja“ drückt, Glück in der Liebe zu versprechen scheint.

Ganz bestimmt sind sie Scharlatane, denkt sich die von ihrem Mann getrennt lebende Hausfrau Pat Poynton. Das Fernsehen hat vor diesen Elmers gewarnt, die alle gleich aussehen, aber nach wenigen Tagen zu Staub zerfallen. Aber Pat ist einsam und unglücklich, und sie lässt den Elmer ihre Fenster putzen. In ihrem faszinierten Zusehen vergisst sie, die Kinder vom Schulbus abzuholen. Dafür holt Lloyd seine Kinder ab und rast mit ihnen und seiner neuen Flamme davon. Pat rastet komplett aus.

Erst nach einer langen Phase des Lernens kapiert sie, was das Versprechen der Elmers ist, die die Erde schon wieder verlassen haben: Es ist gar keins. Vielmehr bedeutet das Kärtchen, dass der Mensch ein Versprechen abgibt. Das des guten Willens. Dann erst wird alles in der Liebe gut. Nun erst kann sie Lloyd anrufen.

|Mein Eindruck|

Das sind aber außergewöhnlich gütige Aliens, wird sich jetzt so mancher Leser wundern. Aber es sind keine richtigen Aliens, denn sie wollen nichts von uns, sondern sie wollen etwas für uns tun. Die Frage ist jetzt: Lassen wir dies überhaupt zu? Denn Pat fasst ihre Zustimmung zu dem Versprechen der Aliens auf dem Glückskärtchen zunächst als Verrat an sich und ihrem Mit-Menschen auf. Das ist die übliche Paranoia und Überheblichkeit des Menschen. Dass es sich genau andersherum verhält, geht ihr erst nach dem Abflug der Aliens auf, also dann, als sie keine Bedrohung mehr darstellen. Sie haben uns nur geholfen, uns selbst zu helfen. Das ist alles. Und als Pat dies zulässt, kann sie auch den ersten Schritt des guten Willens auf Lloyd zu tun.

|4) James Patrick Kelly: Warum die Brücke nicht mehr singt|

Unter der Brücke haben sich ein paar Penner und Saufbrüder um ihr Lagerfeuer, das in einer Tonne brennt, versammelt. Der Erzähler stößt zu ihnen, zunächst unsichtbar. Er weiß zwar nicht, wer er ist, aber er hat eine kreative Phantasie, die alle Dinge poetisch überhöht, etwa die Brücke, die für ihn Lieder singt.

Dann kommt eine Frau namens Maggie mit zwei Männern. Sie spricht keinen Dialekt, sondern bemüht sich um korrekte Aussprache. Und möglicherweise ist sie Telepathin. Sie hilft den Pennern und reicht ihnen einen besonderen Whisky namens Conquistador (Eroberer). In der Tat stellt der Alkohol einiges mit den Köpfen der Penner und der Erzählers an, und als Maggie ihn küsst, um ihm Whisky einzuflößen, erinnert er sich wieder, wer er ist. Er ist Peter, doch seine Phantasie ist verschwunden. Die Brücke ist nur noch eine Brücke und singt nicht mehr.

|Mein Eindruck|

Herausragend an dieser kurzen Story ist nur wenig, und viel ist unter der Oberfläche versteckt: Eine Telepathin, die den Geist der Penner mit einem ganz speziellen „Whisky“ verändert. Man muss sehr aufpassen, um alles mitzubekommen, denn der Autor verfährt wie Hemingway in der genialen Story „Cat in the rain“. Alles wird in Fragmenten und indirekt mitgeteilt. Wie auch immer: Die Übersetzung von Horst Pukallus ist mal wieder einsame Spitze. Er ist der Beste, wenn es darum geht, Umgangssprache und Jargon authentisch im Deutschen auszudrücken.

|5) Robert Reed: Das Turnier|

Amerika, in der nahen Zukunft, wenn niemand mehr arbeiten muss, weil Roboter die ganze Arbeit verrichten. Das Turnier des Titels wird seit 50 Jahren von intelligenten „Elektronengehirnen“ gesteuert, allerdings nur, um für Zerstreuung, Sport und ab und zu einen höheren Gewinn zu sorgen. Leider scheinen die Computer parteiisch zu sein: Der Held der Geschichte ist zunächst nur ein Gewinner unter einer Million Teilnehmern aus der amerikanischen Provinz, doch er gewinnt entgegen aller Wahrscheinlichkeit jedes Mal – wenn auch zuweilen nur mit einem winzigen Vorsprung. Seine Frau Bette findet Avery überheblich und „nicht mehr er selbst“. Avery hält trotzdem durch, schließlich macht er beim Spiel schon seit 17 Jahren mit.

Gegen Ende des Turniers, als nur noch wenige Kandidaten übrig sind, gibt der oder andere Gegner bereits auf, sobald er gegen den Helden antreten soll, denn Avery wird angeblich „vom Netz geliebt“. Und war Avery zu Beginn noch überzeugt, dass er seine Siege verdient hat, so belehrt ihn seine Frau schließlich eines Besseren: Es gebe höhere Werte im Leben als bei diesem blöden Spiel zu gewinnen. Es gibt nämlich eine Lotterie namens Leben, bei dem jeder das große Los zieht, der überhaupt gezeugt wird!

|Mein Eindruck|

Die ein wenig tragikomische Story läuft ab wie ein Countdown, und wer die Potenzen von 2 (2 hoch 3 = 8, 2 hoch 10 = 1024 usw.) kennt, der kann sich genau ausrechnen, wann das Spiel für Avery gelaufen ist – falls er immer gewinnen sollte. Das Seltsame ist, dass er am Schluss gar nicht mehr das Spiel gewinnen, sondern seine Frau Bette zurückhaben will. Er lässt sie sogar kidnappen, damit sie nach Alaska kommt und und ihm bei der Finalrunde zusieht. Sie ist keineswegs beeindruckt, verrät ihm aber wenigstens, warum sie so bekümmert ist.

|6) Bruce Holland: Rettungsboot auf brennender See|

Ein Computerwissenschaftler namens Elliot Maas baut zusammen mit zwei anderen Genies, Richardson und Bierley, ein künstliches Bewusstsein, weil er panische Angst vor dem Tod hat. Er will also unsterblich werden. Wollen wir das nicht alle? Die Künstliche Intelligenz (KI), die sie bauen wollen, ist für Maas jedoch quasi sein Rettungsboot, während andere auf dem brennenden Schiff, das sich Leben nennt, zurückbleiben und untergehen.

Als Jackson Bierley eines natürlichen Todes stirbt, wird ein Konstrukt erzeugt, das auf den Ansichten, Erlebnissen und Erfahrungen seiner Freunde und Bekannten basiert. Es wirkt unglaublich echt und sichert mit seinem eindrucksvollen Video-Auftritt die Regierungsgelder zur Fortsetzung des Programms. Doch Richardson, der kreativste Denker des Teams, hat Zweifel. Tun sie wirklich das Richtige? Was ist der Tod wirklich? Was bedeutet es, tot zu sein?

Eines Morgens erreicht Maas die Nachricht, dass Richardson in einer U-Bahnstation einem Bombenanschlag zum Opfer gefallen sei. Bombenattentate gibt es jetzt sehr viele, mindestens einmal am Tag. Aber als Maas mit seiner Witwe spricht, stößt er auf eine Ungereimtheit. Alle elektronischen Unterlagen, die aufzufinden sind, besagen, dass man ihr Richardsons Asche in einer Urne zugeschickt habe, aber sie streitet ab, die Urne je erhalten zu haben.

Als sich Maas mit den Konstrukten von Bierley und jetzt auch Richardson unterhält, bekommt er nicht viel Unterstützung. Aber der Zweifel, der an ihm nagt, lässt einen Plan reifen, der ihn dazu zwingt, das Richardson-Konstrukt zu überlisten. Was, wenn der echte Dr. Richardson nur VORGIBT, tot zu sein? Aber warum sollte er das tun?

|Mein Eindruck (VORSICHT, SPOILER)|

Beim ersten Lesen vor etwa zehn Jahren habe ich diese Geschichte völlig missverstanden. Ich dachte, drei Konstrukte würden untereinander streiten. In Wahrheit jedoch weigert sich Maas, überhaupt zu einer KI gemacht zu werden. Er ist bereits 95 Jahre alt, als er uns seine Geschichte von Der Anderen Seite (DAS) erzählt, hat sich also nicht zu einer Simulation digitalisieren lassen. Warum nicht, fragen wir uns grübelnd. Die Antwort muss jeder in der Geschichte finden.

Da ist zum einen, dass Bierleys Konstrukt nie er selbst ist, sondern nur eine Annäherung, die aber ein Fake ist. Und Richardson, das weiß Maas am besten, lässt sich wie jede KI durch gefälschte Input-Daten täuschen. Die Wahrnehmung (Input) der KI stimmt nicht mit der Wirklichkeit überein. Beide KIs sind alles andere als Idealzustände für ein Bewusstsein, wie es Maas zu verewigen sucht.

Die Story ergründet auch die Frage, was es bedeutet, tot zu sein. Tot nicht nur für den „Toten“ selbst, sondern auch für die Hinterbliebenen. Der echte Dr. Richardson gilt zwar als tot, doch er ist es nicht, will aber dafür gelten – warum auch immer. Ähnlich wie ein Agent, der untertauchen will, um eine neue „Existenz“ anzufangen. Bei seinen Hinterbliebenen hinterlässt der „Tote“ eine Lücke – in Richardsons Fall eine Witwe, die gerade ein Kind zur Welt gebracht hat. „Totsein“ kann also eine sehr unmoralische Handlung sein.

|7) Ron Savage: Connecticut-Nazi|

Max Kravitz ist ein krebskranker, 50-jähriger Jude aus New York und hat vor einer Woche eine wunderbare junge Frau geheiratet; Rosalie. Nun sind sie in ihr neues Haus in Connecticut gezogen, doch die Möbel fehlen noch. Rosalie hat ihm zur Hochzeit ein Teleskop geschenkt, das sie einem alten chassidischen Juden namens Yetzel Beckman, einem Antiquitätenhändler, den Max kennt, gekauft hat.

Wie Max herausfinden muss, verfügt das Teleskop über ein paar verblüffende Eigenschaften. Man könnte es fast magisch nennen.

Als er sich bei Yetzel Beckman über das Verschwinden seiner Frau beschweren will, erfährt er von dem Hintergrund des Teleskops und was es mit seiner jungen Braut auf sich hat. Seitdem schaut er durch ein anderes Teleskop und wartet, dass darin seine Braut auftaucht – und er selbst ebenfalls …

|Mein Eindruck|

Diese gefühlvoll, aber nicht keineswegs weinerlich erzählte Geschichte beleuchtet das Schicksal von jüdischen KZ-Häftlingen, die aus Treblinka entkommen konnten. Max ist das Kind von Chesia, einer Entkommenen, und einem deutschen Wachmann, der sie in Sicherheit brachte. Daher seine Bezeichnung als „Connecticut-Nazi“. Doch wo sind Chesia und Nazi jetzt? Vielleicht kann es ihm das magische Teleskop enthüllen.

Vergangenheit und Gegenwart sind eng miteinander verwoben, zusammengebunden durch jüdische Mystik (Kabbala) und das Instrument (Teleskop), aus der Gegenwart und Realität heraus in eine Vergangenheit zu schauen, in der die Geliebte noch lebendig ist. Die Story nimmt Jonathan Safran Foers „Alles ist erleuchtet“ und Nicole Kraus‘ „Die Geschichte der Liebe“ vorweg. Sie eignet sich ausgezeichnet zum Immerwiederlesen.

|8) Felicity Savage: Cyberschicksal|

Kasachstan, vielleicht in 50 Jahren. China ist zusammengebrochen, wurde aber von der Republik des Neuen Volkes Chinas neu gegründet. Die 18-jährige Xiao hat den Amerikaner Jon geheiratet, nachdem ihre Mutter gestorben war. Xiao hofft, mit ihm nach Amerika, ins Gelobte Land, zu gelangen. Doch sie muss zu ihrem Leidwesen herausfinden, dass Jon Carneira der letzte Überlebende eines Wirtschaftskriegs gegen seine Familie ist und dringend gesucht wird.

Per Anhalter werden sie von einem stinkreichen Milliardär namens Mechisedek Assad mitgenommen. Er ist der Gründer und Besitzer eines Themenparks à la Disneyland, allerdings vor der Küste von Eritrea und mit jeder Menge Virtueller Realität bestückt. Während Xiao einen kleinen, aber aufschlussreichen Ausflug in „Legende“ unternimmt und ein aus drei Schwestern bestehendes Orakel kennen lernt, findet in Assads Suite eine üble Schießerei statt. Die Kopfgeldjäger haben ihr Opfer gefunden. Da platzt Xiao herein …

|Mein Eindruck|

Dir Story ist sehr dicht erzählt. Aus der Perspektive des jungen, impulsiven Mädchens erleben wir ein Panoptikum bedrohlicher Phänomene, doch sie schlägt sich durch. Zweifel erfüllen sie, warum sie ihre Weigerung, mit Jon, ihrem Mann, zu schlafen, aufrechterhält. Schuldgefühle werden erklärt und beseitigt. Nun kann sie wieder handeln und in die Zukunft blicken – wenn da nicht das Massaker wäre, zu dem sie zurückkehrt.

Hinsichtlich der Cybertechnik erscheint mir die Story aber wie ein Déjà-vu aus seligen Cyberpunkzeiten Mitte der achtziger Jahre, also zehn Jahre zuvor. Dadurch erscheint die flott erzählte Story etwas schwächer als der Rest.

_Unterm Strich_

Auch diese Auswahl an phantasievollen Erzählungen bietet wieder einen kurzweiligen und interessanten Einblick in die amerikanische Szene der Jahre 1995 und 1996. Wer allerdings einen Querschnitt mehr internationalen Zuschnitts sucht, sollte sich an Wolfgang Jeschkes entsprechende Anthologien halten.

|222 Seiten
Aus dem US-Englischen übertragen von verschiedenen Übersetzern|
http://www.heyne.de

Ronald M. Hahn – Sherlock Holmes und die geheimnisvolle Wand

Holmes gegen die großen Alten: Lovecraft lässt grüßen

1880, Dunwich, Massachusetts. Der junge Sherlock Holmes besucht seinen ehemaligen Studienfreund Basil Bishop. Im Landhaus der Bishops nahe Dunwich tauchen am ersten gemeinsamen Abend höchst merkwürdige Gäste auf, die schier unglaubliche Ereignisse hervorrufen. Der zukünftige Meisterdetektiv gerät unversehens in seinen ersten Fall, der absolut unlösbar scheint. (Erweiterte Verlagsinfo)
Ronald M. Hahn – Sherlock Holmes und die geheimnisvolle Wand weiterlesen

Ronald M. Hahn (Hg.) – Gemischte Gefühle. Deutsche SF-Erzählungen

Unterhaltung kann tödlich sein, hier wie überall

Diese Anthologie mit deutschen SF-Storys versammelt – mit einer Ausnahme – Erstveröffentlichungen von bekannten Autoren wie Herbert W. Franke, Horst Pukallus und Ronald M. Hahn. Auch die Newcomer des Jahres 1981 Karl Michael Armer, Thomas Ziegler, Karl-Ulrich Burgdorf und Joachim Körber (der vor allem als Übersetzer von Stephen King bekannt ist) sind hier vertreten. Fast alle dieser Autoren haben sich in den folgenden Jahren, zum Teil bis heute, einen guten Namen gemacht und die Entwicklung der deutschen Science Fiction-Landschaft geprägt.
Ronald M. Hahn (Hg.) – Gemischte Gefühle. Deutsche SF-Erzählungen weiterlesen

Ronald M. Hahn & Harald Pusch – Die Temponauten

Zeitreise zu den Goldgräbern

Nick ist 1897 Goldgräber in Alaska während des großen Booms vor der Jahrhundertwende. Plötzlich tauchen seltsame Leute auf, die behaupten, er stamme aus der Zukunft, sei ein illegaler Zeitreisender, der schon so viel Unheil angerichtet habe durch seine Aktivitäten, dass er sein Leben verwirkt habe.
Nick kann sich an diese Zukunft zwar nicht erinnern, aber hinfort ist er ein Gejagter. Unter den Killern aus der Zukunft ist Constance, eine junge Frau, die im 21. Jahrhundert seine Geliebte war und ihn immer noch liebt. Sie schlägt sich auf seine Seite und rettet ihm das Leben.

Nach einer wilden und gefährlichen Flucht durch die Eiswüste Alaskas gelangen sie in Sicherheit und zu Reichtum, mit dem sie gelassen in die Zukunft blicken könnten. Nur – ist das die Zukunft, aus der sie ursprünglich stammen, oder ist es eine ganz andere? (abgewandelte Verlagsinfo)

Ronald M. Hahn & Harald Pusch – Die Temponauten weiterlesen