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Nicholls, Sally / Koinegg, Karlheinz / Backhausen, Angeli von – Wie man unsterblich wird – Jede Minute zählt (Hörspiel)

_“Woher weiß man, dass man gestorben ist?“_

„Wenn du das hier liest, bin ich vermutlich tot.“ Der elf Jahre alte Sam ist an Leukämie erkrankt und weiß, wie es um ihn steht. Aber statt zu verzweifeln, nutzt er seine Zeit. Er stellt Fragen, die er früher nicht gestellt hätte, so etwa: Wird die Welt noch sein, wenn es ihn nicht mehr gibt? Die Antworten schreibt er in ein Buch. Darin hält er auch seine Wünsche fest: ein berühmter Forscher werden, einen Weltrekord aufstellen, eine Freundin haben … Ob und wie Sam sich seine Träume zusammen mit Felix, seinem Freund und Leidensgenossen, erfüllt, davon erzählt dieses bewegende, aber auch komische und ermutigende Hörspiel. (abgewandelte Verlagsinfo)

Der Verlag empfiehlt das Hörspiel ab elf Jahren. Das Buch wurde bereits mehrfach ausgezeichnet, nun wurde auch das Hörspiel des WDR für höchste Ehren nominiert und als bestes Kinderhörbuch beim Deutschen Hörbuchpreis 2010 ausgezeichnet. Das Buch ist für den Deutschen Jugendbuchpreis 2009 nominiert.

_Die Autorin_

Sally Nicholls, geboren 1983 in Stockton, studierte Philosophie und Literatur. Sie verfasste ihren Debütroman „Wie man unsterblich wird“ mit nur 23 Jahren. Er erschien 2008 in England und wurde bereits mit mehreren großen Literaturpreisen ausgezeichnet und in 18 Sprachen übersetzt. Sally Nicholls lebt in London und schreibt an ihrem zweiten Buch. (Verlagsinfo, ohne Gewähr)

_Die Sprecher_

Die Rollen und ihre Sprecher:

Sam: Kai Hogenacker
Felix: Patrick Möllecken
Annie: Hella von Sinnen
Mum: Gabriela Maria Schmeide
Dad: Heinrich Schmieder
Kayleigh: Felicitas Stein
Ella: Mariann Schneider
Mrs. Willis: Anja Niederfahrenhorst
Granny: Sigrid Bode
Dr. Bill: Roland Jankowsky
Zudem Karl-Heinz Tafel, Kerstin Thielemann und Hans-Rolf Fuchs.

Die Hörspielbearbeitung erfolgte durch Karlheinz Koinegg. Regie führte Angeli von Backhausen, der WDR produzierte das Hörspiel. Die Musik trugen Andreas und Matthias Hornschuh bei. Die technische Realisation oblag Achim Fell und Martin Kopiniok. Das Buch erschien im Carl Hanser Verlag 2008.

_Handlung_

Der elfjährige Sam McQueen lebt im englischen Middlesborough (das auch gut erfunden sein könnte). In einem Buch sammelt er Geschichten und interessante Tatsachen, darunter auch über sich. So zum Beispiel: Sam hat Leukämie, also Krebs. Er weiß, dass er bald sterben wird. Aber er hat in sein Buch noch einige wichtige Wünsche geschrieben, so will er etwa ein berühmter Forscher werden, einen Weltrekord aufstellen, eine Freundin haben und die ganze Welt von oben sehen. Aber auch ganz normale Dinge wie etwa Rolltreppen fahren oder alle Horrorfilme der Welt gucken.

Leider geben die Erwachsenen wie etwa Mum und Dad immer nur verschwommene Antworten über die großen Fragen, die Sam bewegen. Dad beispielsweise weigert sich rundweg, sich überhaupt mit Sams Krankheit auseinanderzusetzen, und Mum ist viel zu lieb, um ihrem Sohn harte Wahrheiten ins Gesicht zu schleudern. Deshalb muss sich Sam mit den großen Fragen zusammen mit seinem besten Freund, dem 13-jährigen Felix, beschäftigen, und der ist ja auch ein Leukämieopfer. Felix sitzt im Rollstuhl. Wenn sie nicht in der Tagesklinik einen Chemotherapie erhalten, erteilt ihnen daheim Mrs. Willis Schulunterricht.

|Die Großen Fragen|

Auch sie hilft bei den Fragen. Nummer eins lautet: „Woher weiß man, dass man gestorben ist?“ Das Internet erwähnt Nahtoderfahrung, das Erblicken von Engeln. Lachhaft, findet Felix. Also schreiben sie die Argumente pro und kontra auf.

Frage Nummer zwei: „Warum lässt Gott Kinder krank werden?“ Weil er nicht existiert, wie Felix behauptet? Oder weil es ihm Spaß macht, weil er böse ist? Oder weil, wie Sam meint, Gott wie ein großer Arzt ist, der Lektionen bereithält, zum Beispiel wie toll Radfahren ist. Oder weil es ihm eh egal ist. Oder weil es die Strafe für ein schlechtes Karma ist.

Frage Nummer drei lautet: „Wie kann man ewig leben?“ Soll man sich einfrieren lassen, ein Vampir werden, sein Gehirn auf CD-ROM speichern und auf die Festplatte kopieren lassen? Hm, eine knifflige Frage.

|Die Großen Wünsche|

Einfacher sollte es sein, Sams große Wünsche zu erfüllen. Wie kann er einen Weltrekord aufstellen? Sam und Felix lesen das |Guinness|-Buch der Rekorde und kommen auf die Idee, die kleinste Disco der Welt zu fabrizieren: mit einem CD-Player im Kleiderschrank. Die Sache mit den Horrorfilmen ist einfacher zu erfüllen: Sie schleichen sich einfach ins Zimmer von Felix’ Bruder und ziehen die Videos rein. Sam findet sie gähnend langweilig, sogar „Der Exorzist“. Er kann sich ziemlich gut in die Lage des Mädchens versetzen …

Was nun die Mädchen und das Rauchen und Trinken angeht, so schleppt Felix seinen Freund einfach in den Pub seines Onkels, wo Kusine Kayleigh so nett ist, ihnen die Theke zu öffnen. Sam findet den Kirschlikör klasse, aber Kayleighs Kuss megapeinlich.

Am Dienstag muss Sam wieder zurück in die Klinik. Sein Dad verlangt vom zuständigen Arzt eine erneute Chemotherapie für seinen Sohn, doch der Doktor rät dringend davon ab. Sam sei noch zu schwach. Immerhin lebt Sam jetzt schon vier Monate ohne Chemo und hat keine Glatze wie Felix.

|Abschied Nr. 1|

Am nächsten Tag erfährt Sam, dass Felix wegen einer Infektion ins Krankenhaus musste. Seine Mum bringt ihn hin, um Felix zu besuchen. Sobald die Erwachsenen gegangen sind, passiert etwas Geheimnisvolles: Er schickt Felix den Gedankenbefehl aufzuwachen, und Felix erwacht. Felix und Sam sagen nichts, sondern grinsen sich nur an, während sie sich an der Hand fassen. Felix entspannt sich schließlich, und Sam wartet vergeblich, dass sein Freund wieder erwacht …

|Abschied Nr. 2|

Nach Felix‘ Beerdigung fühlt sich Sam seltsam. Er schaut aus dem Fenster und bemerkt erstaunt, dass sich das Licht verändert hat: Es hat geschneit! Er ist begeistert und bittet seine Eltern, Schlittenfahren zu dürfen. Dad lehnt kategorisch ab, doch Mum und Sams Schwester Ella deichseln es, dass sie mit Sam doch noch rausholen und auf einen Schlitten setzen. Sam hat sich selten so lebendig gefühlt. Am nächsten Morgen tut ihm alles weh. Dad kommt zu ihm, um ihm seine Medizin zu geben. Dad hat geträumt, Sam sei weggegangen …

Er liest in Sams Buch die Liste der Wünsche und beschließt, etwas zu unternehmen. Mit einer Werbefilmgesellschaft verwirklicht er Sams Traum, zusammen mit Dad ein Luftschiff zu fahren. Es ist grandios, es ist perfekt. Nach dem täglichen Besuch der Krankenschwester Annie, die Sam nur noch „Dracula“ nennt, weil sie ihm Blut abzapft, beschließt er, die Medikamente abzusetzen. Was könnte noch Besseres kommen?

|Der Junge im Baum|

Sam hat noch höchstens zwei Monate, sagt Annie. Doch ein Wunsch ist noch offen: Die Welt von ganz hoch oben sehen. Und eines Nachts, als wegen eines Stromausfalls sogar die Sterne zu sehen sind, schleicht sich Sam hinaus und klettert auf den Apfelbaum im Garten. Dort hört er die Stimme seiner Großmutter: „Wir sind aus dem Staub von Sternen gemacht. Alte Sterne sterben, um bei der Explosion ihren Staub für neue Sterne, die daraus entstehen sollen, zu verstreuen. Es ist ein Kreislauf, verstehst du, Sam?“ Der Tod ist nur die nächste Phase im Dasein, und Sam hat endlich das Gefühl, unsterblich zu sein …

_Mein Eindruck_

Es gibt ja schon etliche Dramen über leukämiekranke Kinder, sei es nun in literarischer oder filmischer Form. Stets appelliert die Geschichte an das Mitgefühl des Publikums, um ihre Wirkung zu erzielen. Doch diesmal gibt es einen advocatus diaboli, der nicht davor zurückscheut, Gott für einen Zyniker oder gar Bösewicht zu halten. So etwas würde man in einem christlichen Schauspiel eher selten finden.

Doch Felix, der „Glückliche“, ist kein Mephisto, sondern nur ein weiteres Opfer der Krebskrankheit. Statt jedoch zu resignieren, rafft er sich dazu auf, seinem besten Freund Sam dessen Wünsche zu erfüllen, komme was wolle. Das Ergebnis ist – wie die Horrorfilmshow – mal ein Ärgernis für die Erwachsenen, mal ein peinliches Erlebnis für die Beteiligten, so etwa Kayleighs Kuss für den todgeweihten Sam.

Zusammen erörtern die beiden Jungs die schwersten Fragen, die man sich überhaupt vorstellen kann (siehe oben), und nehmen auf ihre moderne Weise auch mal das unerschöpfliche Internet zu Hilfe. Aber das bringt sie einer Lösung ihres zentralen Problems auch nicht näher, sie können es höchstens besser ertragen. Die letzte und wichtigste Antwort erfährt Sam schließlich dann von seiner Vorfahrin, mit der er endlich Zwiesprache halten kann: Warum müssen Kinder überhaupt sterben?

Es ist eine Art von Trost, diese Antwort, aber letztes Endes ist die zwischenmenschliche Begegnung ein viel größerer Trost. Dies erlebt Sam, als er Felix beim letzten Einschalfen hilft, und als sein Vater zu ihm ins Bett kommt, um sich mit seinen Wünschen zu beschäftigen. Unterm Strich kommt es darauf zu wissen, dass wir nicht allein sind und nicht vergessen werden. Deshalb ist auch die Fortsetzung des Schulunterrichts für Sam so wichtig – es ist keine Augenwischerei angesichts des gewissen Todes, sondern eine Perspektive für die Zukunft. Und der Unterricht hilft Sam, seine Fragen auf kluge Weise mit Pros und Kontras zu beantworten. Erst auf diesem Fundament kann er die letzte Antwort finden.

Die Geschichte berührt an keiner Stelle peinlich, sondern wirkt glaubhaft und optimistisch. Welches Los Sam erwartet, weiß der Zuhörer ja sowieso, dazu muss man es ihm nicht extra unter die Nase reiben. Und die Dialoge zwischen den Jungs sind auch zum Lachen, vielleicht weil sie so unverblümt ehrlich sind. Wenn Sam lacht, dann nur beim Schlitten- und Luftschifffahren. Das sind starke Szenen, doch sie haben ihren Preis, wie man sich denken kann. Danach ist Sam schwächer als zuvor. Das Leben bringt ihn um.

_Die Inszenierung_

|Die Sprecher|

Die Hauptfiguren in diesem Hörspiel sind nicht etwa die Erwachsenen, sondern Sam und Felix, die beiden kranken Jungs. Folglich gilt die Aufmerksamkeit des Zuhörers dem, was sie sagen und wie sie sich ausdrücken. Nun, sie sind in einer bürgerlichen Umgebung aufgewachsen und benutzen folglich keinerlei Schimpfwörter, Flüche oder äußern gar diskriminierende Statements. Sie dürften daher kaum bei jemandem Anstoß erregen. Es fällt ihnen leicht, unsere Sympathie zu erhalten.

Dabei spielt Felix den advocatus diaboli, doch er darf auch etwas zynisch sein, weil er zwei Jahre älter ist als Sam. Die Stimme des Felix-Sprechers ist etwas tiefer als die von Sam, der den Stimmbruch noch vor sich hat. Die beiden Sprecher machen ihre Sache gut, auch wenn ich finde, dass ihre Figuren mehr Ecken und Kanten hätten aufweisen dürfen.

Von den Erwachsenen hinterlässt vor allem die muntere Annie „Dracula“ mit ihrem Moped einen guten Eindruck. Das kann aber auch daran liegen, dass ich der recht bekannten Sprecherin Hella von Sinnen besondere Aufmerksamkeit widmete. Die relativ tiefe Stimme der weiblichen Figur wirkt jedenfalls unter all den hohen weiblichen Stimmen recht ausgefallen.

Die Eltern Sams bzw. deren Sprecher wirken glaubwürdig und nicht irgendwie ausgefallen. Bemerkenswert ist der Wandel in Sams Dad: von einem Vater, der das Problem von Sams Krankheit verdrängt, hin zu einem mitleidenden Dad, der sich endlich mit dem Leben und den Wünschen seines Sohnes befasst. Deshalb darf Dad auch mal weinen, ohne dass es peinlich oder unglaubhaft wirkt – er weiß, er wird seinen Sohn verlieren.

|Geräusche|

Die Geräuschkulisse ist auf ein Minimum reduziert, so dass die Dialoge nicht gestört werden. Wir hören den Motor von Annies Moped, die Sounds von Sams PC-Game und immer wieder das Schrillen eines Telefons oder das Dingdong der Türglocke. Diverse Tiere machen sich bemerkbar, so das wir das Gebell eines Hundes hören, das Zwitschern eines Vogels und am Schluss den Gesang einer Amsel. Recht witzig sind das Zischen der statischen Elektrizität, die die Jungs mit einem Vandegraaf-Generator im Schulunterricht erzeugen, und das gruselige Geräusch aus einem der Horrorfilme.

|Musik|

Die dezente Hintergrundmusik wird von Kombinationen aus akustischer Gitarre, Flöte und Geige bestimmt, die nur als Untermalung dienen. Dadurch vermittelt das Hörspiel einen Eindruck der Ruhe statt der Unausgeglichenheit, die ich erwartet hätte. Schließlich befindet sich Sams und Felix‘ Welt nicht gerade im Lot. Andererseits würde eine Cello-dominierte, elegische Trauermusik überhaupt nicht zu der optimistischen Grundstimmung passen.

Um dieses elegische Moment auszudrücken, hat die Regie eine Singstimme eingeführt, die keine Melodie singt, sondern nur eine Art von Koloratur. Das wirkt zwar nicht direkt störend, eher etwas mahnend, also wie ein Memento mori (= „Gedenke zu sterben“ – sei deiner eigenen Sterblichkeit bewusst).

_Unterm Strich_

Die Geschichte von Sam und Felix tröstet die Menschen, die unter dem gleichen Schicksal leiden wie sie. Die Zuhörer könnten sich die gleichen Fragen stellen wie die Jungs und möglicherweise lustige Antworten finden. Wichtiger sind jedoch die Wünsche, die Sam auf unterschiedlichste und ziemlich einfallsreiche Weise erfüllt werden. Hier ist die Hilfe der Mitmenschen gefragt, allen voran die der Eltern.

Dass tiefe Gefühle beteiligt sind, versteht sich in der Nähe des Todes von selbst. Zum schön finde ich die umfassende Antwort, die der Autorin für die letzte Frage eingefallen ist: „Warum gibt es den Tod, warum müssen selbst Kinder sterben?“ Dass auf die Antwort des Ewigen Kreislaufs schon die Naturvölker gekommen sind, macht nichts – es ist eine Antwort, die jede Generation für sich neu finden und bewerten muss. Die Hippies der Woodstock-Generation sangen die Wahrheit so: „We are stardust, we are golden, we are million-year-old carbon.“ (Joni Mitchell und Crosby, Stills, Nash & Young)

|Das Hörspiel|

Der WDR hatte das heikle Thema Leukämie und Sterben für junge Menschen aufzubereiten. Ich hoffe, die elf und 13 Jahre alten Teens finden sich in dem Hörspiel wieder. Aber auch älteren Menschen vermittelt die Geschichte interessante Denkanstöße. Die dezente Musik und die realistischen Geräusche stören die Dialoge meist nicht, sondern vermitteln ein Gefühl, dass die Geschichte hier und jetzt stattfindet.

Was mir noch fehlt, ist ein Eindruck der Dringlichkeit, der Anspannung – es geht alles viel zu locker zu, fand ich. Und eine bessere Aufteilung nach Zeiteinheiten hätte diese Dringlichkeit ebenfalls hervorgerufen, doch so verschwimmt das Geschehen etwas in einer amorphen Abfolge von Episoden. Zwischendurch machte ich eine längere Pause von mehreren Tagen, was nicht schadete. Denn das Hörspiel ist mit 77 Minuten Länge doch sehr umfangreich. Eine Aufspaltung in mehrere Einheiten kann da nicht schaden. Vor allem, weil man sich dann die Dialoge besser merken kann.

|Originaltitel: Ways to live forever; 2008
Aus dem Englischen übersetzt von Birgitt Kollmann
77 Minuten auf 1 CD|
http://www.igel-records.de

Sally Nicholls – Zeit der Geheimnisse (Lesung)

Magisch: Mit dem Grünen Mann durch die Zeit der Trauer

Nach dem Tod ihrer Mutter leben die beiden Schwestern Molly und Hanna bei den Großeltern auf dem Dorf. Doch das Leben auf dem Land, die Dorfschule, all das ist nicht so leicht für die Mädchen aus der Stadt Newcastle. Molly, die Leseratte, flüchtet sich in Fantasien von einem seltsamen Mann, der von wilden Reitern verfolgt wird. Einbildung? Hirngespinste?

Merkwürdig ist nur, dass die Fantasien der Zehnjährigen der Legende vom Eichenkönig ähneln, der, so die Sage, jedes Jahr sterben muss, um wenig später wiedergeboren zu werden. Der ewige Kreislauf von Werden und Vergehen, von Winter und Sommer, aber auch von Sich-Verlieren und Sich-Wieder-Finden. (Erweiterte Verlagsinfo)

Die Autorin

Sally Nicholls, geboren 1983 in Stockton, studierte Philosophie und Literatur. Sie verfasste ihren Debütroman „Wie man unsterblich wird“ mit nur 23 Jahren. Er erschien 2008 in England und wurde bereits mit mehreren großen Literaturpreisen ausgezeichnet und in 18 Sprachen übersetzt (siehe meinen Bericht zum Hörbuch). Sally Nicholls lebt in London. (Verlagsinfo)

Die Sprecherin

Ulrike Claudia Tscharre (* 15. Mai 1972 in Urach) ist eine deutsche Schauspielerin. Sie besuchte von 1996 bis 1998 die Akademie für darstellende Kunst in Ulm. Im Fernsehen war sie erstmals als Susanne in der ARD-Serie Ina und Leo zu sehen. Sie gab ihr Kinodebüt 2004 in „Schöne Frauen“ als Karin Leiser unter der Regie von Sathyan Ramesh. Seitdem wirkte sie in zahlreichen TV-Produktionen mit. 2007 spielte sie an der Seite von Christoph Maria Herbst die weibliche Hauptrolle in der Comedy-Serie „Hilfe! Hochzeit! Die schlimmste Woche meines Lebens“. 2008-2009 drehte sie unter der Regie von Dominik Graf den Krimi-Mehrteiler „Im Angesicht des Verbrechens“ in der Rolle der Sabine Jaschke, 2009 übernahm sie die Hauptrolle in dem TV-Melodram „Letzter Moment“. Außerdem ist sie als Sprecherin bei Hörspielen und Hörbuch-Produktionen, wie „Der Schwarm“ und Henning Mankells „Wallander“-Reihe als Linda Wallander zu hören. Ulrike C. Tscharre lebt in Berlin. (Quelle: Wikipedia)

Die Musiker

Für die Produktion zeichnete Rudi Mika verantwortlich, der auch die Musik auswählte und selbst an Geige, Mandoline, Mundharmonika, Kantele und diversen Gitarren zu hören ist. Neben ihm spielen fünf weitere Musiker diverse Instrumente.

Für den Ton des Textes im auraton Studio zu Berlin war Patrick Ehrlich zuständig. Die Musikeinspielungen fanden im subtone Studio zu Dortmund statt, wo der Musiker Ralf Kiwitt Ton und Technik steuerte.

Handlung

Molly Alice Brooke ist die jüngere von zwei Schwestern, die seit dem Tod ihrer Mutter bei den Großeltern draußen auf dem Land leben müssen, weil ihr Vater, ein freier Journalist in Newcastle, sich nicht alleine um sie kümmern kann. Abgesehen davon, dass sie die Stadt und alle ihre Freunde vermissen, müssen Molly und Hannah auch noch in die doofe Dorfschule, wo alle Kinder ungeachtet ihres Alters von nur einer Lehrerin unterrichtet werden. Wenigstens kriegt Moll im Laden ihres Großvaters immer einen Tee und kann eines ihrer vielen Bücher lesen. Niemand kann es jedoch Hannah rechtmachen. Sie liest auch nie was.

Die Begegnung

Hannah will abhauen, Moll muss ihr folgen. Doch die Straßen in Northumberland können vor allem in Dörfern sehr dunkel sein. Nur der Mond beleuchtet ihren Weg, als Moll ihre Schwester plötzlich aus den Augen verliert und spät abends nach Hause zurückgehen muss. Da hört sie Schritte, Reiter und das Hallen eines Horns und Hundegebell. Die Wilde Jagd ist unterwegs! Moll schließt die Augen, bis der Lärm verhallt ist. Als sie eine Böschung hinabrutscht, fangen starke Arme sie auf. Der Mann, hinter dem die Jäger her waren, beruhigt sie.

Sie sieht, wie jung er ist. Entsetzt starrt sie auf seine blutenden Wunden, da er weder Hemd noch Schuhe trägt. Er rät ihr, nach Hause zu gehen. Sie entgegnet, ihre Mom sei tot. Er warnt sie vor der Wilden Jagd, und Moll stolpert benommen zum Haus ihrer Großeltern. Sie erzählt alles ihrer Oma, die sie tröstet. Doch wo war Hannah, die auf sie achtgeben sollte, die ganze Zeit? Moll fühlt sich von ihr verraten.

Das Abbild

Auf einem Schulausflug der Schule erblickt Moll in der alten Dorfkirche eine Statue, deren Gesicht ihr bekannt vorkommt: So sah der Mann in der vergangenen Nacht aus. Miss Shelley erklärt ihr, dies sei der Grüne Mann. Er sei das Symbol für Wiedergeburt und finde sich deshalb sogar auf manchen Grabplatten abgebildet. Es sei ein uralter Gott, der jeden Winter sterbe und im Jrühjahr wiedergeboren werde. Diese Vorstellung findet Moll grässlich. Man sollte was dagegen tun.

Wiedersehen

Als Moll später an den Ort ihrer Begegnung zurückkehrt, folgt sie einer Blutspur. Über Zäune und durch Gatter gelangt sie zu einer baufälligen Scheune, die zunächst leer zu sein scheint. Doch dann hört sie ihn: „Ich bin hier.“ Er sieht genauso schlimm aus wie gestern, doch er behauptet, es gehe ihm gut und er brauche nichts. Kaum sieht sie einmal nicht hin, ist er verschwunden. Und als sie Hannah den Grünen Mann zeigen will, ist er natürlich nicht zu erblicken. Hannah ist wütend und spottet. Molly verteidigt sich, ihre Mutter Diana, gestorben mit 39 im August, hätte ihr geglaubt. Sie wusste, dass die Welt ein seltsamer, wundervoller Ort ist.

Beim nächsten Besuch in der Scheune staunt sie: Ein Babybaum wächst neben dem grünen Mann, und Gras und Efeu wachsen da, sogar eine Glockenblume. Als sie diese nach Hause bringt, wundert sich Jack, der Gärtner: „Hm, eine Glockenblume im Oktober!“ Sie fragt ihn, ob er an Magie glaube. Er überlegt: „Ja, aber nur in Bäumen.“ Sie fragt sich, welche Wünsche ihr ein Gott wohl erfüllen würde.

Als am Samstag Dad zu Besuch, fragt sie ihn, ob sie nicht wieder bei ihm leben könne. Sie würde kochen und putzen und alles. Doch er winkt ab, dass dies nicht gutgehen würde. Ein Besuch beim Grünen Mann tröstet sie über die Zurückweisung hinweg. Sie hat eine ganze Fragenliste angefertigt. Der Baum wächst zu einer stattlichen Eiche heran, die dem Dach entgegenstrebt. Er selbst sieht jetzt älter aus. Seinen Namen weiß er nicht. Älter sei er als eine Eichel. Und ihm werde nie kalt. Na, toll.

Aber er sagt etwas Besorgniserregendes: „Der Stechpalmenkönig, mein Verfolger, wird stärker.“ Und er hustet schrecklich. Moll fragt ihn, ob er, als Gott der Wiedergeburt, auch ihre Mutter wieder lebendig machen könne. Er verschwindet. Miss Shelley sagt, der Stechpalmenkönig sei wieder Eichenkönig bzw. der Grüne Mann auch ein Gott. Er sei dessen Gegengewicht und herrsche im Herbst und Winter. Moll findet, dieser König sei böse. Und die Wilde Jagd? Von der gebe es verschiedene Geschichten.

Fortan gilt Molly Alice Brooke offiziell als plemplem. Denn sie ist die Einzige, die den Grünen Mann in der Scheune sehen kann. Aber noch ist das Jahr nicht zu Ende…

Mein Eindruck

Molly wird sogar von ihrem Dad verdächtigt, unerlaubten, ja unmoralischen Verkehr mit einem echten Mann zu haben, und schaltet die Polizei ein. In dieser komischen Episode wird natürlich kein Mann gefunden. Aber Dad ist wütend auf seine Großeltern, die angeblich die Kinder verkommen lassen. Unfreiwillig muss er sich um die Erziehung seiner Töchter kümmern, und das führt zu einer neuen, erfreulicheren Entwicklung. Es besteht also Hoffnung, dass die zwei Mädchen in die Stadt zurückkehren.

Aber wir wollen natürlich wissen, was aus dem Grünen Mann wird. Es ist völlig klar, dass er eine Einbildung Mollys ist, aber was, wenn es ihn tatsächlich gäbe? Für Molly macht es keinen Unterschied, und so stellt sie sich seinen Werdegang vor. Er kämpft im Winter mit seinem Widersacher, dem Stechpalmenkönig, wird alt unterliegt und verschwindet aus der Scheune. Doch zur Tagundnachtgleiche des Frühjahrs ist er wieder da, stark und heiter. Und er ist jetzt der Anführer der Wilden Jagd! Molly steigt auf sein feuriges Pferd, und zusammen jagen jetzt sie zur Abwechslung den Stechpalmenkönig…

Heilender Mythos

Diese Einbindung des Mythos in Mollys subjektives Erleben – alles wird im unmittelbaren Präsens erzählt – kann nur funktionieren, weil wir wissen, dass Molly sehr viel liest und sich deshalb gern in ihre fiktiven Welten verliert. Dort endet alles immer mit einem Happyend und alles hat seine Ordnung, begründet sie ihre Einstellung. Doch im Hinblick auf den Grünen Mann, der ein weitverbreiteter britischer Mythos ist, wird Molly enttäuscht: Er muss erst sterben, um im Frühjahr wiedergeboren zu werden. Man sollte etwas dagegen unternehmen, findet Moll. Denn er ist der einzige Mensch, der sie in ihrer Trauer getröstet hat, so wie es ein richtiger Vater tun sollte.

Der Auslöser für diese Phantasie ist der Tod von Mollys Mutter. Sie liebte ihre Mom Diana Elwanor Brooke sehr, und der Tod kam sehr plötzlich durch ein Aneurysma, also eine Art Gehirnschlag, als Diana gerade mal 39 Jahre alt war. So etwas ist ein enormer Schock für die junge Molly, doch die ältere Hannah reagiert völlig anders: mit Wut auf die Ungerechtigkeit der Welt. Interessanterweise sind es gleichermaßen Hannahs Wutausbrüche wie auch Mollys vermeintliches Fremdgehen mit einem Mann, die ihren Daddy dazu bringen, sich besser um sie zu kümmern.

Die eigentliche Lehre des Mythos besteht darin, dass er zwei Seiten hat. Der grüne Mann, den wir im Herbst zusammen mit Molly bedauern, weil unter dem Angriff des Stechpalmenkönigs sterben muss, ist der gleiche, der im Frühjahr wieder jung auftaucht und nun seinerseits den Stechpalmenkönig erbarmungslos als Anführer der Wilden Jagd verfolgt.

Ewiger Kreislauf

Offensichtlich lässt sich nicht sagen, dieser sei gut und jener sei böse, wenn sich doch ihre Rollen Jahr für Jahr immer wieder umkehren. Molly ist ebenso verwirrt wie wir. Und das ist der Sinn der Sache. Wir können nicht sagen, dass Mom Dianas Tod schlecht oder gut war, denn allein schon diese Kategorisierung ist gegenüber einer Naturgewalt – mythologisiert als Grüner Mann – unsinnig. Daher ist auch nicht sinnvoll, ewig zu trauern. Denn Werden und Vergehen entsprechen dem Lauf der Dinge, der dem ewigen Kreislauf (festgehalten im Mythos) gehorcht.

Der Mythos, den die Autorin in ihre Geschichte gewoben hat, ist nur notwendig, weil er eine Geschichte darstellt, die selbst kleine Kinder verstehen können, und für sie eine wichtige Lehre bereithält. Je einfacher ein Mythos, desto beständiger ist er. So wie der vom Garten Eden und einem Goldenen Zeitalter der Unschuld. So etwas hat es ja auch nie gegeben.

Die Sprecherin

Ulrike Claudia Tscharre hat eine sehr flexible und ausdrucksstarke Stimme, der man sofort anmerkt, dass sie einer Schauspielerin gehört. Hannah spricht ganz anders als die sanfte Molly, nämlich energisch und vielfach wütend. Wenn ein Mann wie Jack spricht, senkt sie ihre Tonhöhe stark ab. Sprechen die Schulkinder, gibt es immer was zu lachen.

Sie kann auch ihr Sprechtempo unvermittelt steigern oder verlangsamen, stockend oder gar im Stakkato hetzend – das ist spannend. Mit Hilfe eines Filters klingt ihre Stimme verzerrt wie durch ein altes Telefon. Kurzum: Dieser Vortrag erweckt die Geschichte und ihre Figuren zum Leben.

Die Musik

Die Musikbeiträge bilden einen wesentliche Bestandteile des Hörbuchs. Sie füllen die Pausen zwischen Szenen, erklingen aber manchmal auch im Hintergrund des Vortrags. Die Beiträge bestehen meist aus schottischen, irischen und nordenglischen Volksmusikstücken. Im Booklet sind folgende Stücke aufgeführt:

– „John Barleycorn must die“ (englisch)
– „Sally Gardens“ (irisch)
– „The Trees They Grow So High“ (englisch)
– „The Harvest Home“ (Hornpipes, irisch)
– „Molly Brannigan“ (irisch)
– „Annie Laurie“ (schottisch)
– „Bonnie At Morn“ (schottisch)
– „Peggy Gordon“ (schottisch)
– „In the Bleak Midwinter“ von Gustav Holst (1974-1934)
– „O Little Town of Bethlehem“ von Lewis H. Redner (1831-1908)

Die Musik erklingt in der Regel zwischen den Szenen des Hörspiels. Vielfach ist die Wirkung erleichternd, weil sie so heiter und beschwingt ist, manchmal aber auch besinnlich und ruhig. Als integraler Bestandteil des Hörbuchs ergänzt sie den Vortrag ideal, quasi komplementär, aber auch kontrastiv.

Unterm Strich

Wer nun meint, nur weil es um die Verarbeitung eines Todesfalls gehe, müsse die Geschichte ebenfalls todtraurig und melancholisch sein, der irrt gewaltig. Denn Molly und Hannah müssen sich mit vielen neuen Dingen auseinandersetzen und gewinnen Freunde in der Schule, die ihnen viel Spaß bereiten – oder sie total abnerven. Dazu bietet die Geschichte viele lustige Szenen, vor allem wenn sie das Thema des Grünen Mannes ironisch durch die Brille der zynischen Vernunft beleuchten.

So bilden Humor, Phantasie, Musik und Mythos ein unterhaltsames und lehrreiches Gewebe aus vielerlei Themen. Man sollte allerdings ein wenig Aufgeschlossenheit gegenüber alten geschichten und Phantasie aufbringen, sicherlich auch gegenüber britischer Folk Music – die im Übrigen ausgezeichnet dazu passt. Am Schluss ist Moll gewachsen, körperlich wie auch seelisch, und wir begleiten sie bei diesem Prozess und ihrer seelischen Reifung.

Das Hörbuch

Die als Schauspielerin ausgebildete Sprecherin erweckt die Figuren zum Leben und kann ebenso gut dynamische Szenen schaffen, die den Hörer in ihren Bann schlagen. Soe muss ein Vortrag sein. Die ideale Ergänzung bildet die Musik. Sie besteht vielfach aus nordenglischen (dem Schauplatz der Handlung), schottischen und irischen Volksweisen, ergänzt durch zwei weitere Stücke.

Im Lied „John Barleycorn Must Die“ steckt eine weitere Verkörperung des Grünen Mannes. Es gibt unzählige Aufnahmen davon, doch diejenige, die die Gruppe Traffic (mit Steve Winwood als Sänger) in den Siebzigern aufnahm, ist eine der besten und längsten.

4 Audio-CDs mit 233 Minuten Spieldauer
Originaltitel: Season of Secrets
Aus dem Englischen übersetzt von Birgitt Kollmann
ISBN-13: 978-3893533381

http://www.oetinger.de

_Sally Nicholls bei |Buchwurm.info|:_
[„Wie man unsterblich wird – Jede Minute zählt“ (Hörspiel)]http://buchwurm.info/book/anzeigen.php?id__book=6118

[NEWS] Sally Nicholls – Eine Insel für uns allein

»Irgendwann habe ich meinem Bruder Jonathan erzählt, dass ich über das, was wir im letzten Jahr erlebt haben, ein Buch schreiben will. Ein Buch über selbst gebaute Raumschiffe, Spezialisten im Schlösserknacken und Thermolanzen, über die Spülmaschinen- Katastrophe und die Insel, die schon zu Wikingerzeiten alt war, über Tante Irenes Schatz …Das hier ist das Buch.« (Verlagsinfo)

Taschenbuch: 224 Seiten
Originaltitel: An Island of Our Own
dtv