Schlagwort-Archive: SF

Joe Haldeman – Der Herr der Zeit

Intelligente Wells-Parodie: Zeitreise per Zufall

Hochschulabbrecher Matt Fuller schlägt sich als einfacher Forschungsassistent am Massachusetts Institute of Technology durch. Als er sich gerade mit den Quantenbeziehungen zwischen Gravitation und Licht beschäftigt, verschwindet plötzlich sein Kalibrator – und taucht eine Sekunde später wieder auf. Und jedes Mal, wenn Matt den Reset-Knopf drückt, verschwindet die Maschine zwölfmal länger. Nachdem er mit dem Kalibrator herumexperimentiert hat, kommt Matt zu dem Schluss, dass er nun in Besitz einer Zeitmaschine ist, mit der er Dinge in die Zukunft schicken kann…

Nichts scheint dagegen zu sprechen, dass Matt selbst eine kleine Zeitreise unternimmt. Also landet er in der nahen Zukunft – wo er wegen Mordes am Besitzer des Autos verhaftet wird, welcher tot umgefallen ist, als Matt direkt vor seinen Augen verschwunden ist. Die einzige Möglichkeit, der Mordanklage zu entgehen, besteht darin, weiter in die Zukunft zu reisen, bis er einen Ort in der Zeit findet, an dem er sich in Ruhe niederlassen kann. Doch was ist, wenn solch ein Ort gar nicht existiert? (gekürzte Verlagsinfo)
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Harry Harrison – Soylent Green / New York 1999. SF-Thriller

Zukunftskrimi und Ökothriller

1999 ist die Bevölkerung des Planeten explodiert. Die 35 Millionen Einwohner von New York City bringen ihre Fernseher mit Pedalkraft zum Laufen, randalieren wegen Wasserknappheit, rauben Linsen-Steaks und werden mit Stacheldraht, der vom Himmel fällt, in Schach gehalten.

Als ein Gangster während einer glühenden Hitzewelle in Manhattan ermordet wird, setzt man den Polizisten Andy Rusch unter Druck, das Verbrechen aufzuklären, der wiederum ist aber auch von der wunderschönen Freundin des Opfers fasziniert. Doch in den verrückten Straßen von New York City, vollgestopft mit Leuten, und in einer Welt, die den Bach hinuntergeht, ist es schwer, einen Killer zu fassen, geschweige denn das Mädchen zu bekommen. (Verlagsinfo)

Dieser preisgekrönte Roman war die Vorlage für den Öko-Zukunftsthriller „Soylent Green“, (deutscher Titel: „…Jahr 2022…die überleben wollen…“), in dem Charlton Heston die Hauptrolle des Detectives spielte.
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Uwe Anton – Robert Silverberg. Zeiten der Wandlung (SF Personality 26 )

Gelungenes Porträt eines SF-Titanen

„Uwe Anton liefert einen ausführlichen Überblick zu Leben und Werk dieses außergewöhnlichen Schriftstellers. Abgerundet wird der Band durch ein[e] Ehrengastrede Silverbergs, die er auf der bisher einzigen World Science Fiction Convention (WorldCon) in Deutschland gehalten hat, sowie eine Bibliographie von [Übersetzer und Verleger] Joachim Körber.“ (ergänzte Verlagsinfo) Der WorldCon fand 1970 in Heidelberg statt.
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Harry Harrison – Die Sklavenwelt (Todeswelten 2)

Ein Ingenieur gegen Idealisten & Despoten

Jason dinAlt, der Psi-Mann, Spieler und Abenteurer, wird von Pyrrus, wo er seinen letzten Auftrag ausgeführt hat („Die Todeswelt“), gewaltsam entführt, um auf Cassylia wegen Falschspielerei vor Gericht gestellt zu werden. Unterwegs gelingt es ihm, die Steuerzentrale des Raumschiffs zu demolieren. Er muss auf einem unerforschten Planeten notlanden.

Dort fallen Jason und seine Häscher Wilden in die Hände, die sie in die Sklaverei verschleppen. Aber Jason bemerkt, dass die Eingeborenen Werkzeuge mit sich führen, die einer höheren Kulturstufe entstammen. Sollte es auf dieser Sklavenwelt einen Stützpunkt einer höherstehenden Zivilisation geben? Um dies herauszufinden, muss er zunächst einmal die Sklavenketten loswerden… (korrigierte Verlagsinfo)
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Harry Harrison – Die Todeswelt (Todeswelten 1)

Ein Ökologe unter Beschuss

Als Jason dinAlt, der Psi-Mann, auf die Todeswelt Pyrrus kommt, erkennt er die Sinnlosigkeit des hier seit Jahrhunderten andauernden Krieges der Menschen mit der einheimischen Fauna und Flora. Er durchschaut den Mechanismus, den die Menschen ahnungslos und leichtsinnig in Gang gesetzt haben, als sie in die Ökologie eingriffen. Er beschließt, Pyrrus den Frieden zu bringen, und setzt dabei sein Leben aufs Spiel. (Verlagsinfo)
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Jean-Pierre Andrevon – Neutron. Und andere apokalyptische Erzählungen

Gehörte Warnung

In seinen „apokalyptischen Erzählungen“ schildert der Franzose Jean-Pierre Andrevon, Jahrgang 1937, mit meist makabrem Sinn für Humor und Ironie die vielfältigen, doch stets bedrohlichen Folgen der atomaren Aufrüstung und des Atomkriegs. Diese Visionen sind aktueller denn je, seit die USA und Russland ihren atomaren Wettlauf wieder aufgenommen haben.
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Michael P. Kube-McDowell – Das Wagnis (Trigon-Trilogie 1)

Solide SF: Rendezvous mit den Aliens

Nach dem verheerenden Krieg um die letzten Ressourcen der technischen Zivilisation haben sich die Großmächte in die Rolle isolierter Agrarstaaten zurückgebombt. Die Wissenschaftler, angeblich schuld an der verhängnisvollen Entwicklung, werden verfolgt und auf dem Scheiterhaufen verbrannt. Allen Chandliss riskiert sein Leben, um ein Radioteleskop zu betreiben und nach Signalen außerirdischer Zivilisationen zu suchen, die der Menschheit helfen könnten. Nach siebzehn Jahren vergeblichen Lauschens zahlt sich seine Geduld aus… (Verlagsinfo)

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Richard Morgan – Das Unsterblichkeitsprogramm. Altered Carbon

Verfilmt: Hartgesottener Detektiv räumt in Babel auf

Was wäre, wenn man ewig leben könnte? Wenn das in einem Computer gespeicherte Bewusstsein immer wieder in einen neuen Körper transferiert wird? Was für eine Welt wäre das? Und was würde der Tod in dieser Welt bedeuten? Privatdetektiv Takeshi Kovacs ist kurz davor, es herausfinden. Er kann sich über seinen neuen Auftrag nur freuen – hatte ihn der letzte ja eigentlich das Leben gekostet. Aber der Tod scheint inzwischen kein Problem mehr zu sein. Oder etwa doch? (Verlagsinfo)
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Chris Wooding – Alaizabel Cray

Kampf gegen Hexlinge und Dämonen

Dieses Jugendbuch bietet eine ungewöhnliche Mischung aus Fantasy und Horror, ist aber in einem alternativen Geschichtsverlauf angesiedelt. Ganz schön clever! Das Buch, das den Smartie Awards (Silber-Medaille) für den besten Roman des Jahres erhielt (Verlagsinfo), erschien bereits 2001 auf Deutsch im Hardcover, also noch im Jahr, als das Original erschien. Das nenne ich mal eine schnelle Reaktion. Der Leser dürfte sich freuen, dass es auch die preiswerte Taschenbuchausgabe gibt.

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Alain Dorémieux – Spaziergänge am Rande des Abgrunds. Phantastische Erzählungen

Im Sandmeer dem Liebesvirus verfallen

In seinem gesamten Schaffen vermittelt der Autor auf besondere Weise die Atmosphäre des Unheimlichen und Bedrohlichen, kommt seine Neigung zum Absurd-Phantastischen zum Vorschein – eingebettet in die stets wiederkehrende Thematik des Weltuntergangs, der Vernichtung allen Lebens durch einen unsichtbaren Feind. (Verlagsinfo) Dieser Erzählband versammelt Erzählungen aus den Jahren 1959 bis 1979.

Zitat: “Was das Wort »Glück« betraf, so war es zu einem archischen Ausdruck geworden, sein zeitgemäßes Synonym hieß »Komfort«.” (S.80)

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Marc Agapit – Die Agentur

Die Hölle, das ist die Ewigkeit

Eine etwa 50-jährige Frau findet sich ohne Gedächtnis in einer unbekannten Kleinstadt wieder. Man verweist sie an eine Agentur namens A.V., die ein seltsames, unheimlich wirkendes, aber sichtlich routiniertes Unternehmen ist: Sie stellt binnen kürzester Zeit fest, wer die Frau ist und wo sie wohnt.

Doch daheim erkennt sie die Leute nicht mehr, mit denen sie früher verkehrt haben soll. Stück für Stück kehren Erinnerungen zurück. Sie misstraut ihnen, denn sie besagen, dass sie Zeugin einer grausigen Bluttat gewesen sei. Nur Zeugin?

Ihre Suche nach der eigenen Identität wird zum Horrortrip, der geradewegs in die Hölle führt und immer wieder ins Vergessen – und zu dieser Agentur, die für alle Verbrecher zuständig ist… (aus der Verlagsinfo)
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Jack Campbell – Black Jack (Die verschollene Flotte 2)

Actionreich und spannend: gediegene Military SF

Seit hundert Jahren kämpft die Allianz verzweifelt gegen die Syndikatswelten, und die erschöpfte Flotte ist in Feindgebiet gelandet. Ihre einzige Hoffnung: Captain John Geary. Seit seinem heldenhaften letzten Gefecht hält man ihn für tot. Doch wie durch ein Wunder hat er im Kälteschlaf überlebt. Nun soll er als dienstältester Offizier das Kommando über die Flotte übernehmen, um sie sicher nach Hause zu bringen. In einem Krieg, der nur in einem Fiasko enden kann…

Die Realität: Unzählige Feinde auf dem Weg nach Haus. Und eine Meuterei in den eigenen Reihen, die ihn zunächst mal vierzig Schiffe kostet. Ob das gutgehen kann?
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David Brin – Fremder der fünf Galaxien (2. Uplift-Zyklus Band 2)

Erstkontakt mit verschärften Konflikten

Seit Jahrhunderten leben sechs Rassen unter dem schützenden Blätterdach des Pleneten Jijo zusammen – friedlich, doch voller Furcht, vor der Entdeckung. Sie haben den von ersten Bewohnern verlassenen Planeten einfach besetzt, ohne die Verwaltung der Fünf Galaxien um Erlaubnis zu fragen. Jijo ist ein verbotener Planet.

Eines Tages geschieht es dann doch: Ein fremdes Raumschiff erscheint am Himmel und landet nahe dem goßen Heiligtum. Sollen nun alle Rassen ausgelöscht zu werden? Die Besatzung des Schiffes gibt sich zunächst friedlich, doch sie suchen nach Exemplaren bestimmter Spezies. Sie geben sich als „Wissenschaftler“ aus, doch offensichtlich handeln sie nicht in offiziellem Auftrag der galaktischen Verwaltung. Nun beginnt eine Zeit der größten Gefährdung…
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Frank Herbert – Ein Cyborg fällt aus (Schiff 1)

Der Computer als Gott

Ein gigantisches Raumschiff mit Tausenden von Siedlern im Kälteschlaf, ausgerüstet für die Gründung einer Kolonie, bricht auf in ein fernes Sonnensystem. Nur kleine Teams von Wissenschaftlern überwachen den Flug, der Jahrzehnte dauern soll.

Das Schiff wird von einem Cyborg gesteuert, einem „kybernetischen Organismus“, der nur noch zum Teil organischer, zum größten Teil aber elektronischer Natur ist. Dieser Cyborg fällt aus, als das Schiff sich bereits auf einer Bahn befindet, die aus dem Sonnensystem herausführt…
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Jeschke, Wolfgang (Hrsg.) – Ikarus 2001. Best of Science Fiction

Best of Classic SF, mit seltsamen Lücken

Wolfgang Jeschke, der ehemalige Herausgeber der SF- & Fantasy-Reihe im Heyne-Verlag, hat als seine letzten Herausgebertaten drei Bände mit den besten SF-Erzählungen veröffentlicht:

1) Ikarus 2001
2) Ikarus 2002
3) Fernes Licht

Die Beiträge in diesen drei Auswahlbänden stammen von den besten und bekanntesten AutorInnen in Science-Fiction und Phantastik. In diesem ersten Band sind Beiträge aus den Jahren 1955 bis 1987 vertreten.

Der Herausgeber

Wolfgang Jeschke, geboren 1936 in Tetschen, Tschechei, wuchs in Asperg bei Ludwigsburg auf und studierte Anglistik, Germanistik sowie Philosophie in München. Nach Verlagsredaktionsjobs wurde er 1969-1971 Herausgeber der Reihe „Science Fiction für Kenner“ im Lichtenberg Verlag, ab 1973 Mitherausgeber und ab 1977 alleiniger Herausgeber der bis 2001 einflussreichsten deutschen Science-Fiction-Reihe Deutschlands beim Heyne Verlag, München. Von 1977 bis 2001/02 gab er regelmäßig Anthologien – insgesamt über 400 – heraus, darunter die Einzigen mit gesamteuropäischen Autoren.

Seit 1955 veröffentlicht er eigene Arbeiten, die in ganz Europa übersetzt und z. T. für den Rundfunk bearbeitet wurden. Er schrieb mehrere Hörspiele, darunter „Sibyllen im Herkules oder Instant Biester“ (1986). Seine erster Roman ist „Der letzte Tag der Schöpfung“ (1981) befasst sich wie viele seiner Erzählungen mit Zeitreise und der Möglichkeit eines alternativen Geschichtsverlaufs. Sehr empfehlenswert ist auch die Novelle „Osiris Land“ (1982 und 1986). Eine seiner Storysammlungen trägt den Titel „Schlechte Nachrichten aus dem Vatikan“.

Die Erzählungen

1) Walter M. Miller: Der Darfsteller (The Darfsteller, 1955)

In der nahen Zukunft hat das von programmierbaren Schaufensterpuppen ausgeführte „Autodrama“ das traditionelle Theaterschauspiel abgelöst – und mit ihm auch die menschlichen Darsteller. Thornier, der einst große Mime, hat dadurch seine Berufung verloren, doch er arbeitet immer noch im Theatergebäude: als Reinigungskraft. Dass er sich erniedrigt fühlt, versteht sich von selbst. Sein Kumpel Rick erklärt, wie das Autodrama im einzelnen funktioniert, und ein tollkühner Plan.

Als das neue Stück namens „Der Anarchist“ seine Premiere hat, will er die Puppe der Hauptfigur ausfallen lassen und für sie einspringen. Soweit klappt sein Plan auch hervorragend, denn die Koproduzentin spielt mit, ist sie doch eine alte Bekannte von Thornier. Doch dann taucht auch seine frühere Geliebte Mela auf, die ebenfalls in diesem Stück durch eine Puppe verkörpert wird. Und an diesem Punkt beginnen die Dinge schiefzugehen …

Mein Eindruck

In jeder Zeile verrät der Autor seine genaue Kenntnis des Theaters, und zwar nicht nur von dessen äußerer Mechanik und Verwaltung, sondern auch vom Innenleben der Schauspieler – wie sie „ticken“, was sie motiviert, was sie zum Versagen und zum Weitermachen bringen kann. Diese Psychologie erfüllt den Charakter der Hauptfigur der Geschichte auf glaubwürdige Weise und bringt den Leser dazu, mit ihm zu fühlen: sich zu freuen, mit ihm zu bangen.

Der Autor verschließt auch nicht die Augen vor der Notwendigkeit der Veränderung durch neue Technik: Rechner, Fernsehen, Schreibmaschine, was auch immer – nun ist es eben Autodrama. Doch er sagt auch, dass jede unabwendbar erscheinende Veränderung nicht immer zum Besten ausschlagen muss. Die Hauptsache ist doch meist, dass sie Geld einbringt. Wenn dadurch einige tausend Leute ihren Job verlieren – nun ja, dann müssen sie eben umsatteln. Leichter gesagt als getan.

Was die Geschichte inzwischen antiquiert erscheinen lässt (anno 1982 wohl nicht so sehr als jetzt, 2007), sind natürlich die technischen Details. Die Programmierung der „Mannequins“, die wie frühere Stars aussehen, erfolgt noch mit Lochstreifenbändern wie anno dazumal und noch nicht mit magnetischen (Festplatte) oder optischen Medien (mit Laserabtastung) wie heute. Auch das ein paar verwirrende Druckfehler den Leser stören, gehört zu den Schwächen dieses Textes. Auf Seite 388 muss es z.B. statt „mit einem … Federhütchen und dem Kopf“ natürlich „auf dem Kopf“ heißen.

2) David J. Masson: Ablösung (Traveller’s Rest, 1965)

Der Soldat H kämpft in vorderster Front einen Grenzkrieg, von dem er nicht weiß, wer der Feind ist und wer ihn angefangen hat. Endlich wird er abgelöst und darf zurück in die Heimat. Erst den Berg hinab, weiter unter Beschuss, dann ins Teil, wo er seinen Kampfschutzanzug loswird und Zivilkleidung bekommt. Er kann sich jetzt an seinen Namen erinnern: Hadol oder Hadolaris, richtig? Der Zeitgradient scheint auch seine Erinnerung zu beeinflussen.

Ganz oben an der Bergfront ist die Zeit aufgrund der Konzeleration am dichtesten: Sie vergeht kaum. Je weiter er ins Tal und dann in die Ebene gelangt, desto mehr Zeit vergeht für ihn subjektiv. Deshalb versucht er auch, so weit wie möglich von der Front wegzukommen, um eben mehr Zeit für sein Leben zu haben. Nicht jeder wird abgelöst, das muss er ausnutzen. An der Südostküste findet er einen Job in einer Firma und steigt dort im Laufe der Jahre auf, die nun vergehen. Er gründet eine Familie und zieht drei Kinder groß, für deren Zukunft er mit seiner Frau Mihanya schon Pläne schmiedet.

Doch nach 20 Jahren holen sie ihn wieder: drei Soldaten, die ihm seinen Einberufungsbefehl zeigen. Er muss sofort mitkommen, ohne seine Familie zu benachrichtigen. Alles verläuft wieder umgekehrt. Die Konzeleration schlägt wieder zu: Im Bunker an der Front sind seit seiner Ablösung lediglich 22 Minuten vergangen, rechnet er nach. Jetzt ist er nur noch Had, dann bloß noch H, als er lossprintet, um seine Stellung zu erreichen.

Mein Eindruck

Die Parallelwelt, in der Hadolarison lebt, hat einige Ähnlichkeit mit den Vereinigten Staaten, doch es gibt einen gravierenden Unterschied: die Zeitgradienten zwischen der Grenze in den Bergen und dem Hinterland. Dadurch vergeht die Zeit unterschiedlich schnell und sehr relativ. Das betrifft sogar den Aufenthalt im Nordosten im Gegensatz zum Südosten.

Merkwürdig kommt es Hadolaris vor, dass an der Grenze der Gradient praktisch gegen unendlich geht, so dass dort fast keine Zeit vergeht. Es ist, als wäre die Grenze ein Spiegel. Und wenn das stimmt, dann wären die Geschosse, die der Feind abfeuert, im Grunde die eigenen. Als er diesen ketzerischen Gedanken äußert, wird ihm gesagt, er solle sich nicht lächerlich machen.

Besonders interessant fand ich, dass zusammen mit der Zeitdehnung auch der Name des Soldaten immer länger wird: von H zu Had zu Hadol zu Hadolaris zu Hadolarisón und so weiter. In umgekehrter Richtung verkürzt sich der Name bis hin zum Einzelbuchstaben H. Hadols Bezeichnung allerdings lautet XN2. Die Entpersönlichung, die hier angedeutet wird, ist ein typisches Merkmal militärischer Strukturen, wie sie etwa in Kubricks „Full Metal Jacket“ erschreckend dargestellt wurden. Der Mensch darf nicht als Individuum existieren, sondern muss als Rädchen im Getriebe funktionieren, und das geht nur, wenn er austauschbar ist: eine Nummer.


3) Roger Zelazny: Der Former (He Who Shapes, 1965)

Bedeutende Forschungen auf dem Gebiet der Psychiatrie haben zur Einführung einer neuen Technik, der Neuro-Partizipations-Therapie, geführt. Mit ihrer Hilfe kann der Therapeut direkt in das Unterbewusstsein des Patienten eindringen, von dort aus den Heilungsprozess beginnen und den Patienten langsam umformen. Ein solcher „Former“ ist Charles Render. Er spielt Gott, indem er realistische Traumwelten in der Psyche seiner Patienten modelliert, die, richtig angewendet, zur allmählichen Gesundung führen sollen. Bis eines Tages …

Dr. Eileen Shallot, eine blinde Psychiaterin, bittet Charles Render, ihr über den Umweg der Geistesverbindung das Sehen zu ermöglichen, ein lang gehegter Wunsch der Blinden. Trotz der Gefahren, welche die Therapie bei willensstarken Personen mit sich bringt – die von Geburt an blinde Eileen verfügt über ein Realitätsempfinden, das stark von der tatsächlichen Realität abweicht – ist Render bereit, die Therapie zu beginnen. Um Eileens geistige Gesundheit zu erhalten, muss er ihre ‚idyllische‘ Weltsicht durch das Aufzeigen realer Dinge korrigieren. Aber sie erweist sich als stärker als er und zieht ihn in ihre Traumwelt hinein, bis es für Render kein Entkommen mehr gibt. Der Psychiater endet im Wahn. Aber in einem schönen.

Mein Eindruck

Ist dies nun eine Drogenstory, die sich auf einen Trip begibt, wie ihn Timothy Leary mit Hilfe von LSD verwirklichen wollte und anpries? Oder geht es doch „nur“ um den inner space, also die Bewusstseinswelt, die ähnlich bizarr ausfallen kann wie eine fremde Welt? Darin folgt Zelazny der britischen New Wave und ihrem wichtigsten Autor J. G. Ballard.

Der Autor zieht C.G. Jungs Psychologie heran, um den Leser durch eine Galerie mythischer Elemente zu führen, die teils aus der Artussage, teils aus der nordischen Götterdämmerung stammen. Es ist ein ganz schön bunter Trip, voll faszinierender Erlebnisse, und manchmal wünschte ich mir, auch so einen Former zu kennen, der mal mein eigenes Unterbewusstsein aufräumen würde. Zelazny hat die Novelle zu einem Roman ausgebaut: „The Dream Master“ erschien 1966.

4) Alfred Bester: Die Mörder Mohammeds (The Men Who Murdered Mohammed, 1967)

Henry Hassel, Professor am Psychotic Center der Unknown University irgendwo im Mittelwesten, ist eifersüchtig: Er hat seine Frau Greta in den Armen eines Fremden entdeckt. Doch statt sie beide über den Haufen zu schießen, fällt ihm als verrücktes Genie etwas viel Besseres ein: eine Reise in die Zeit, um Gretas Vorfahrinnen zu töten. Die Zeitmaschine ist rasch erfunden und Großvater sowie Großmutter getötet. Der Effekt? Gleich null. Greta und der Fremde liegen sich weiterhin in den Armen.

Nach einem Anruf bei der Künstlichen Intelligenz Sam ändert Henry seine Methode: Er setzt auf Masseneffekte. Daher erschießt er als nächsten George Washington im Jahr 1775. Die Wirkung? Absolut null. Ebenso auch bei Napoleon, Mohammed, Caesar und Christoph Kolumbus. Woran kann es nur liegen, fragt er sich frustriert.

Ein Anruf bei der Bibliotheks-KI bringt ihn auf die Spur eines weiteren Zeitreise-Genies: Israel Lennox, Astrophysiker, der 1975 verschwand. Zudem erfährt er, dass auch der Liebhaber seiner Frau ein Zeitspezialist ist, William Murphy. Könnte er ihn ausgetrickst haben? Lennox belehrt Henry eines Besseren: Henry Problem liegt nicht an seiner Methode, sondern an der Natur der Zeit: Sie ist stets individuell. Eine Veränderung betrifft stets nur den Zeitreisenden selbst, nicht aber die anderen Zielpersonen. Und weil jeder „Mord“ den Zeitreisenden weiter von seinen Mitmenschen entfernt, ist Henry Hassel jetzt ebenso wie Israel Lennox ein Geist …

Mein Eindruck

Die Story ist zwar völlig verrückt, aber eminent lesbar, wie so häufig bei Alfred Bester. Neu ist hier das Konzept, dass Zeit völlig individuell sein soll. Jedem Menschen ist wie einer Spaghettinudel im Kochtop seine eigene Zeit zugewiesen (von wem, fragt man sich). Das macht die Einwirkung auf andere Zeit-Besitzer, quasi also auf andere Nudeln im Topf, unmöglich. Noch irrsinniger ist die Vorstellung, dass all die Versuche, auf andere einzuwirken, zum Verschwinden des „Mörders“ führen könnten. Aufgrund welcher Gesetzmäßigkeit? Hat es etwas mit Entropie zu tun? Der Autor erklärt mal wieder nichts, obwohl er mit Formeln um sich wirft, was den Spaß nur halb so groß werden lässt.

5) J. G. Ballard: Der Garten der Zeit (The Garden of Time, 1967)

Graf Axel lebt mit seiner klavierspielenden Frau in einer prächtigen Villa, zu der ein See und ein bemerkenswerter Garten gehören: In diesem Garten wachsen die Zeitblumen. Eine Zeitblume speichert in ihrer kristallinen Struktur Zeit und wenn Graf Axel eine Blüte bricht, so dreht er die Zeit ein wenig zurück, mal eine Stunde, mal nur wenige Minuten, je nach der Größe und Reife der Blume.

Diesmal bricht er wieder eine, denn über die Anhöhe des Horizonts drängt eine Lumpenarmee auf die Villa zu, die alles in ihrem Weg zu zertrampeln und zu zerstören droht. Schwupps, ist die Armee wieder auf den Horizont zurückgeschlagen. Aber das nicht ewig so weitergehen. Leider sind nur noch ein halbes Dutzend Zeitblumen im Garten der Zeit verblieben. Seine Frau bittet ihn, die letzte Blüte für sie übrigzulassen …

Als die Lumpenarmee den Garten erobert und die Villa plündert, findet sie nur noch eine Ruine vor, der Garten ist verlassen und verwildert. Nur mit größter Vorsicht umgehen die namenlosen Plünderer ein Dornendickicht, das zwei Steinstatuen umschließt: einen Mann und eine edel gekleidete Frau, die eine Rose in der Hand hält …

Mein Eindruck

Das Szenario des Grafen und seiner Gräfin in ihrem Garten aus konservierter Zeit sind eine elegische Metapher auf die gesellschaftliche Überholtheit der adeligen Klasse. Sie huldigt Idealen von Schönheit, die dem „Lumpenproletariat“ – ein begriff von Marx & Engels – völlig fremd sind. Dieses sucht lediglich materielle Werte, zerstört Bilder und Musikinstrumente ebenso wie Bücher, um Heizmaterial zu erhalten. Der Gegensatz ist klar: Bei den Adeligen bestimmt das Bewusstsein das Sein, bei den Proleten ist es umgekehrt: Der Materialismus triumphiert. Die hinfortgespülte Klasse existiert nur noch als Statuen, genau wie heutzutage.

Ein SF-Autor also, der der Revolution das Wort redet? Wohl kaum, denn sonst würde er den zerbrechlichen Zeitblumen solche schönen Worte widmen, die an Poesie nichts zu wünschen übriglassen. Er trauert den vergangenen Idealen nach, doch der Garten macht seine eigene Aussage: Sobald die letzte Blume vergangen ist, bricht die aufgeschobene Zeit mit aller Macht über die Adeligen herein und lässt sie zu Stein erstarren. Wie immer bei Ballard ist dieser abrupte Übergang überhaupt nicht kommentiert oder gar einer Erwähnung wert. Der Leser muss ihn sich dazudenken.

6) George R. R. Martin: Abschied von Lya (A Song For Lya, 1973)

Robb und Lyanna sind Talente – er kann Gefühle anderer erspüren, sie deren tiefste Gedanken. Auf Bitten des Planetaren Administrators der erst vor zehn Jahren erschlossenen Welt der Shkeen sollen sie herausfinden, was die menschlichen Siedler in die Arme der Religion der Ureinwohner treibt – und wie man dies verhindern kann. Denn bei dieser Religion geht es darum, sich mit einem Parasiten zu verbunden und nach Ablauf weniger Jahre sich in den Höhlen von Shkeen, einem Riesenparasiten, dem Greeshka, hinzugeben – und absorbiert zu werden.

Nicht auszudenken, wenn sich dieser Kult auf andere Welten der Menschheit ausdehnen würde. Immerhin hat sich Gustaffson, einer der Vorgänger des Administrators, diesem Kult angeschlossen. Und immer mehr Menschen scheinen ihm folgen zu wollen.

Robb findet einige Dinge an dieser Welt bemerkenswert. Die Zivilisation existiert hier bereits 14.000 Jahre, ist also weitaus älter als die menschliche, doch sie befindet sich auf dem Niveau unserer Bronzezeit. Zudem glauben die Shkeen weder an ein Jenseits noch an einen Gott, sondern lediglich an das Glück der Verbundenheit mit dem Greeshka und an die abschließende Vereinigung. Aber was haben sie davon? Und warum sind die „Verbundenen“ so glücklich?

Als sich Robb und Lyanna mit dem Seelenleben der Verbundenen befassen und sogar auf Gustaffson selbst stoßen, müssen sie sich mit einem grundlegenden Problem aller denkenden und fühlenden Lebewesen auseinandersetzen: dass das fortwährende Alleinsein nur durch die Liebe oder den Tod überwunden werden kann. Was aber, wenn Liebe und Tod ein und dasselbe sind?

Mein Eindruck

Dieser detailliert geschilderte Kurzroman ist wunderbar zu lesen, denn der Autor befasst sich sehr eingehend mit dem Gefühlsleben des zentralen Liebespaares und dem Dilemma, in dem es sich plötzlich wiederfindet. Denn Lya hat im Geist der Verbundenen von dem Glück gekostet, das die Vereinigung mit dem Greeshka spendet.

Dieses Glück besteht offenbar nicht nur in der grenzenlosen Liebe der Vereinigung, die über die Liebe zu Robb hinausgeht, sondern auch in der Überwindung des Todes und der irdischen Begrenztheit. Kurzum: Sie ist mit einem Gott vereint, wenn sie den Übergang wagt. Aber dafür muss sie Robb verlassen, falls er ihr nicht folgt. Wie wird er sich entscheiden?

Die zunehmend elegische Stimmung ist charakteristisch für die tiefschürfenden Erzählungen des frühen George R. R. Martin. Sie brachten ihm zahlreiche Auszeichnungen und wirtschaftlichen Erfolg ein – bis er dann Drehbuchautor wurde. Aus dieser Erfahrung wiederum erwuchs ihm die Routine, um das gewaltige Epos von Winterfell zu erschaffen, das in der deutschen Ausgabe etwa zehn Bände umfasst – und offenbar immer noch nicht abgeschlossen ist.

7) Ursula K. Le Guin: Das Tagebuch der Rose (The Diary of the Rose, 1976)

Dr. Rose Sobel ist medizinische Psychoskopin und hat die Aufgabe, das Bewusstsein von Patienten ihrer Vorgesetzten Dr. Nades zu untersuchen, d. h. sowohl die bewusste als auch die unbewusste Ebene. Die neuesten Patienten sind die depressive Bäckerin Ana Jest, 46, und der paranoide Ingenieur Flores Sorde, 36, ein angeblich psychopathischer Gewalttäter.

Ana Jest bietet keinerlei Überraschungen, was man von F. Sorde nicht behaupten kann. Nicht nur ist er ein überaus verständiger, friedlicher und intelligenter Mann, sondern bietet Dr. Sobel auch ein besonderes Erlebnis: Aus seinem Bewusstsein generiert er das perfekte Abbild einer großen roten Rose, wie sie Dr. Sobel noch nie gesehen hat. Was hat das zu bedeuten? Doch das weitere Vordringen verhindert Sordes deutliche Blockade: „ZUTRITT VERBOTEN!“

Sobel beschwert sich über dieses Ausgeschlossenwerden und Sorde muss ihr erklären, wovor er Angst hat: vor dem Eingesperrtsein, vor Gewalt, vor Unfreiheit und vor allem vor dem Vergessen, das die Elektroschocktherapie bringen wird. Sie dementiert, dass es eine ETC geben werde, doch er lächelt nur über ihre Naivität. Sie mag ja eine Diagnose stellen, aber die Entscheidung über die Behandlung treffen andere, so etwa Dr. Nades. Oder die TRTU, was wohl die Geheime Staatspolizei ist. Durch Einblicke in seine Kindheit erkennt sie, wonach er sich sehnt: nach einem Beschützer, der ihm alle Angst nimmt. Seine Idee von Demokratie demonstriert er mit dem letzten Satz von Beethovens neunter Sinfonie: Brüderlichkeit, Freiheit usw. Au weia, denkt, Rose, er ist also doch ein gefährlicher Liberaler.

Dennoch schafft sie es, ihn aus der Abteilung für Gewalttäter in die normale Station für Männer verlegen zu lassen. Dort lernt er Prof. Dr. Arca kennen, den Autor des Buches „Über die Idee der Freiheit im 20. Jahrhundert“, das Sordes gelesen hat. Das war, bevor es verboten und verbrannt wurde. Prof. Arca hat durch die Elektroschocktherapie sein Gedächtnis verloren. Sordes befürchtet stark, dass er genauso werden wird wie Arca. Rose ist verunsichert. Sie versteckt ihr Tagebuch. Denn dieses Tagebuch enthält auch ihre eigenen geheimen Gedanken und Gefühle, und wer weiß schon, was die TRTU davon hielte?

Mein Eindruck

Rose Sobel denkt, sie wäre eine unbeteiligte Beobachterin, wenn sie einem Menschen ins Bewusstsein blickt. Aber das ist, wie wir durch Heisenbergs Unschärferelation wissen, eine Selbsttäuschung. Der Beobachter beeinflusst das zu Beobachtende und umgekehrt. Ganz besonders bei Menschen. So kommt Rose nicht umhin, von Sordes beeinflusst zu werden, und sich verbotene Fragen zu stellen. Fragen, die auch die klugen Ratgeber, die ihre Chefin empfiehlt, nicht beantworten: Warum haben alle so viel Angst?

Dass etwas mit ihrer eigenen Welt nicht in Ordnung sein könnte, geht ihr nur allmählich auf. Dass die TRTU ihren Patienten vielleicht völlig grundlos wegen „Verdrossenheit“ eingewiesen hat und ihn schließlich fertigmachen will, entwickelt sich nur allmählich zur schrecklichen Gewissheit. Ebenso wie die Erkenntnis, dass es keine unpolitische Psychiatrie mehr geben kann. Deshalb will sich Rose zur Kinderklinik versetzen lassen. Ob dort die Patienten weniger Angst haben werden?

Die Erzählung ist typisch für Le Guin: Sie zeigt die politische, ethische und zwischenmenschliche Verantwortung der Mitarbeiterin in der staatlichen Psychiatrie auf. Diese Verantwortung ist auf heutige Verhältnisse zu übertragen, falls es dazu kommt, dass in den USA ein Polizeistaat errichtet wird. Und wenn man den Patriot Act von 2001 mal genau durchliest, dann kann es sehr leicht dazu kommen. Ich liebe solche warnenden Geschichten. Sollen sie mich doch dafür einsperren und „therapieren“ …

8) John Varley: Die Trägheit des Auges (The Persistence of Vision, 1977)

Ende des 20. Jahrhunderts herrscht in den USA mal wieder Wirtschaftskrise, zumal der Raktor von Omaha in die Luft geflogen ist und eine verstrahlte Zone erzeugt hat, den China-Syndrom-Streifen. Unser Glückssucher, der sich von Chicago gen Kalifornien aufgemacht hat, passiert die Flüchtlingslager von Kansas City, die nun als „Geisterstädte“ tituliert werden. In der Gegend von Taos, New Mexico, lernt er zahlreiche experimentelle Kommunen kennen, wo man leicht eine kostenlose Mahlzeit bekommen kann. Von den militanten Frauenkommunen hält er sich klugerweise fern.

Auf dem Weg nach Westen stößt er mitten im Nirgendwo auf eine Mauer. So etwas hat er im Westen höchst selten gesehen, so dass er neugierig wird. Ein Navaho-Cowboy erzählt ihm, hier würden taube und blinde Kinder leben. Eisenbahnschienen führen um das ummauerte Anwesen herum, so dass er ihnen einfach zum Eingang folgen kann. Dieser ist offen und unbewacht, was er ebenfalls bemerkenswert findet. Gleich darauf erspäht er mehrere Wachhunde.

Um ein Haar hätte ihn die kleine Grubenbahn überfahren, die von einem stummen Fahrer gesteuert wird. Dieser entschuldigt sich überschwenglich und vergewissert sich, dass dem Besucher nichts passiert ist. Dieser versichert ihm, dass dem so ist. Der Fahrer schickt ihn zu einem Haus, in dem Licht brennt. Der Besucher bemerkt, wie schnell sich die blinden und tauben Bewohner der Kuppelgebäude bewegen. Sie tun dies aber nur auf Gehwegen, von denen jeder seine eigene Oberflächenbeschaffenheit aufweist. Unser Freund nimmt sich vor, niemals einen solchen Gehweg zu blockieren.

In dem erleuchteten Gebäude gibt es etwas zu essen. Er muss sich jedoch von vielen Bewohnern abtasten lassen. Sie sind alle freundlich zu ihm. Ein etwa 17-jähriges Mädchen, das sich weigert, wie die anderen Kleidung zu tragen, erweist sich als sprech- und sehfähig, was ihm erst einmal einen gelinden Schock versetzt. Sie nennt sich Rosa und wird zu seiner Führerin und engsten Vertrauten, schließlich auch zu seiner Geliebten.

Im Laufe der fünf Monate seines Aufenthaltes erlernt er die internationale Fingergebärdensprache, aber er merkt, dass die anderen noch zwei weitere Sprachen benutzen. Das eine ist die Kurzsprache, die mit Kürzeln arbeitet, die nur hier anerkannt sind. Die andere, viel schwieriger zu erlernende ist die Einfühlungssprache, die sich jedoch von Tag zu Tag ändert.

Als er sie schließlich entdeckt, ahnt er, dass er sie nicht wird völlig erlernen können. Denn dazu müsste er ja selbst blind und taub sein. Und dass die Sprache des Tatens auch den gesamten Körpers umfasst, versteht sich von selbst. Deshalb gehört auch die körperliche Liebe dazu.

Eines Tages erfährt er, welche Stellung er in der Kommune einnimmt. Er stellt aus Gedankenlosigkeit einen gefüllten Wassereimer auf einem der Gehwege ab und widmet sich seiner Aufgabe. Als ein Schmerzensschrei ertönt, dreht er sich um, nur um eine weinende und klagende Frau am Boden liegen zu sehen. Aus ihrem Schienbein, das sie sich am Eimer gestoßen hat, quillt bereits das Blut. Es ist die Frau, die ihn als Erste in der Kommune begrüßt hat. Nun tut es ihm doppelt leid, und er ist untröstlich. Doch Rosa informiert ihn, dass er sich einem Gericht der ganzen Kommune von 116 Mitgliedern stellen muss …

Mein Eindruck

Die vielfach ausgezeichnete Erzählung stellt dar, wie sich allein aus der Kommunikation eine utopische Gemeinschaft entwickeln lässt. Dass natürlich auch ökonomische, legale und soziale Randbedingungen erfüllt sein müssen, versteht sich von selbst, aber dass Außenseiter ihre eigene Art von Überlebensstrategie – in einer von Rezession und Gewalt gezeichneten Welt – entwickeln, schürt die Hoffnung, dass nicht alles am Menschen schlecht und zum Untergang verurteilt ist.

Der Besucher, ein 47-jähriger Bürohengst aus Chicago, findet in der Gemeinschaft der Taubblinden nicht nur sein Menschsein wieder, sondern auch eine Perspektive, wie er in der Außenwelt weiterleben kann. Er arbeitet als Schriftsteller, und dessen Job ist die Kommunikation.

Neben den drei Ebenen der Sprache, die die Taubblinden praktizieren, gibt es noch eine Ebene der Verbundenheit, die er nur durch die Zeichen +++ ausdrücken kann. Auf dieser Ebene findet mehr als Empathie statt, weniger als Telepathie. Aber es ist eine Ebene, erzählt ihm Rosa bei seiner Rückkehr, die es den Taubblinden (zu denen sie und die anderen Kinder nicht zählen) erlaubt hat, zu „verschwinden“. Wohin sind sie gegangen, will er wissen. Niemand wisse es, denn sie verschwanden beim +++en.

Es handelt sich also eindeutig um eine SF-Geschichte, nicht etwa um eine Taubblindenstudie, die in der Gegenwart angesiedelt ist. Für ihre Zeit um 1977/78 war die Geschichte wegweisend. Nicht nur wegen des Gruppensex und die Telepathie, die an das „Groken“ in Heinleins Roman „Fremder in einem fremden Land“ erinnert. Auch Homosexualität wird behandelt – und in der Geschichte praktiziert.

Wichtiger als diese Tabuthemen ist jedoch der durchdachte ökologische Entwurf für die Kommune und die Anklage gegen die Vernachlässigung bzw. Fehlbehandlung der Taubblinden – nicht nur in den USA.

9) James Tiptree alias Alice Sheldon: Geteiltes Leid (Time-Sharing Angel, 1977)

Die 19-jährige Jolyone Schram liebt die Natur und arbeitet in Los Angeles beim Rundfunksender. Dieser Sender ist neu, liegt auf einem hohen Berg und verfügt über die stärkste Sendeleistung der Stadt. Wahrscheinlich deshalb kann es an diesem zu dem ungewöhnlichen Ereignis kommen.

Erst hat Jolyone, die in einer Zahnfüllung einer Sender empfängt, eine schreckliche Vision: Die Erdoberfläche wird unter Massen von Menschen begraben. Als ein SF-Autor im Sender die finstere Zukunft der Menschheit ausmalt, hält Jolyone gerade ein Stromkabel in der Hand. Erschüttert fleht sie zu Gott, er möge all dies aufhalten. Eine unbekannte Stimme antwortet ihr auf ihrem gefüllten Zahn, dass das in Ordnung gehe.

Schon bald machen sich die ersten Anzeichen des Wirkens des Engels bemerkbar. Von jeder Familie, und sei sie noch so groß und verbreitet, bleibt nur das jüngste Kind bei Bewusstsein, alle anderen fallen in Tiefschlaf. Weltweite Panik! Doch nach ein paar Tagen verbreitet sich die Kunde von einem wieder erwachten Kind irgendwo in West-Virginia. Ein Mathegenie berechnet die Arithmetik: Wenn Mrs. McEvoy 26 Kinder hat, dann jedes davon nur etwa 14 Tage im Jahr wach sein (weil zweimal 26 genau 52 Wochen = 1 Jahr ergibt). Wer zwei Kinder hat, der kann sich an sechs Monaten Wachsein der Kinder erfreuen und so weiter. Dieser Effekt hat eine verblüffende Folge: Da nur das Wachsein als Lebenszeit zählt, können die Schläfer bis zu 3000 Jahre alt werden!

Die Welt verändert sich beträchtlich, das Wachstum kommt zu einem knirschenden Halt, Wirtschaften brechen fast zusammen, doch die Ressourcen bleiben erhalten. Die Ich-Erzählerin trifft eines Tages Jolyone im Park, und diese erzählt ihr alles. Endlich darf sich Jolyone auf die Zukunft freuen.

Mein Eindruck

Die Autorin Alice Sheldon hat die Erde schon viele Male untergehen lassen. Hier gewährt sie ihr wenigstens eine Gnadenfrist, eine Art Nothalt. Die Geschichte mit den Schläfern erinnert an die Romane von Nancy Kress, in denen eine Schläfer-Generation dem alten Homo sapiens Konkurrenz macht. Allerdings handelt es sich um Leute, die keinen Schlaf benötigen, also pro Tag acht Stunden mehr zur Verfügung haben. Auch daraus ergeben sich diverse Folgen.

10) Dean R. Lambe: Tefé Lauswurz (Damn Shame, 1979)

Die zwei amerikanischen Studienfreunde Albert und Frederick haben verschiedene Wege in der Medizin eingeschlagen. Al wurde Allgemeinarzt in Wisconsin, Fred ist in Kalifornien in die Krebsforschung gegangen. Nun meldet Fred in einem Brief den Durchbruch: Die Versuchsreihe mit dem Präparat AC337 führt zu sagenhaften Remissionen bei den Krebszellen! Das haut Al noch nicht vom Hocker. Erst als er zwei Patienten mit Krebs im Endstadium bekommt, wendet er sich an Fred. Die nicht ganz legal gelieferte Menge reicht aus, um eine vollständige Heilung zu bewirken.

Al ist hin und weg. Doch dann schreibt er Fred, dass seine Frau Ruth Brustkrebs im Anfangsstadium habe. Er brauche mehr von AC337. Fred schreibt seinen Lieferanten an, doch der muss passen: von dem pflanzlichen Grundstoff werde aus Brasilien nichts mehr geliefert, v. a. wegen der anti-amerikanischen Unruhen. Es gebe aber noch einen Arzt …

Leider ist auch dieser Arzt verstorben, erfährt Fred. Dr. Linhares habe sich umgebracht, als der große Amazones-Staudamm geflutet wurde – und damit auch das winzige Vorkommen des pflanzlichen Wunderstoffs von AC337 …

Mein Eindruck

Die Moral von der Geschicht‘ ist einfach: Die Menschheit opfert ihre Gesundheit dem Gott des Fortschritts. Ein soeben entdecktes Krebsheilmittel wird für immer unter den Fluten des Amazones-Stausees verschwinden. Die bittere Ironie dieser Erkenntnis wird konterkariert von der freundschaftlichen Verbindlichkeit, die sich im Schriftverkehr der beiden Freunde spiegelt. Dort scheint die Welt in Ordnung zu sein. Doch draußen, wo fremde Kräfte walten, ist sie es nicht. Eine Geschichte, die uns zur Warnung dienen sollte. Denn weiterhin werden Wälder vernichtet – und mit ihnen Heilmittel.

11) Michael Swanwick: Der blinde Minotaurus (The Blind Minotaur, 1984)

Der blinde Minotaurus ist ein Unsterblicher auf einer Menschenwelt in ferner Zukunft. Nachdem er seinen Freund, den Harlekin bei einer Gauklertruppe, in der Arena aufgrund einer Hormonmanipulation getötet hat, reißt er sich zur Selbstbestrafung die Augen heraus. Geblendet nimmt ihn seine Tochter Schafgarbe an der Hand. Doch wo ist ihre Mutter?

Er sitzt von nun an als Bettler am Straßenrand. Doch die Herrschaft der Adligen wankt. Vorbei sind die Zeit, da sie von allen als überlegen angesehen wurden, und seltsame Sekten und Rebellen gedeihen im entstehenden Chaos. Unter den Attacken junger Tunichtgute und seltsamen Sekten leidend, richtet sich der blinde Unsterbliche zum Protest auf. Er ruft die Bürger dazu, ihre Freiheit zu verteidigen. Im Hafenviertel erzählt er seiner Tochter und den anderen Bürgern der Stadt, was mit ihm geschah und wie es dazu gekommen konnte.

Mein Eindruck

Der Autor Michael Swanwick erzählt häufig Geschichten von Außenseitern. Hier schildert er in Rückblenden die Geschichte eines Unsterblichen, der in eine Art Umsturzbewegung gerät. Aus den Momentaufnahmen muss sich der Leser selbst ein Bild dessen zusammensetzen, was eigentlich passiert. Die Handlung verläuft aufgrund der Rückblenden auf zwei verschiedenen Zeit-Ebenen, und so heißt es aufpassen, auf welcher man sich gerade befindet.

Einer der wichtigsten Aspekte des Minotaurus ist seine sexuelle Potenz. Deshalb beglückt er auch in seinem sehenden Leben zahlreiche Frauen. Das eigentliche Rätsel besteht nun in dieser Hinsicht darin, wie es zur Zeugung seiner Tochter kommen konnte, wenn er doch, wie er sagt, stets „vorsichtig“ war. Könnte die Lady mit der Silbermaske, die ihm zweimal begegnet, die Mutter Schafgarbes sein?

Auch die Sache mit den Hormonen und Pheromonen bildet ein interessantes Element. Und für den Blinden ist das Riechen einer der wichtigsten Sinne geworden. So führt uns die Geschichte in zwei Welten, in die vor und die nach der Blendung der Hauptfigur.

12) David Brin: Thor trifft Captain Amerika (Thor Meets Captain America, 1986)

Man schreibt den Spätherbst des Jahres 1962, und noch immer wütet der Zweite Weltkrieg zwischen den Nazis und den Alliierten. Der Grund: anno ’44, kurz vor der Invasion der Normandie, als der Krieg bereits gewonnen schien, erschienen die Fremdweltler in Gestalt der nordischen Götter, der Asen. Der Gott der Stürme fegte die riesige Armada von der Oberfläche des Ärmelkanals. Thor zerschlug die vorgerückten Armeen der Russen, so dass sich in Israel-Iran das Zentrum des Widerstands bildete.

Doch es gibt seit 1952 einen Helfer auf Seiten der Alliierten, mit dem man nicht gerechnet hat: Loki, der Gott des Trugs. Er war es, der die Amis vor dem Einsatz der H-Bombe warnte, denn der Nukleare Winter würde auch sie vernichten. Nun haben die Amis in einer letzten verzweifelten Aktion ein Dutzend U-Boote ausgesandt, um die Asen in ihrem Zentrum anzugreifen, auf der schwedischen Insel Gotland. Vier sind davon noch übrig, und in einem davon sitzt Loki neben Captain Chris Turing, dem Leiter dieses Himmelfahrtskommandos. Sie haben eine zerlegte H-Bombe bei sich, um die Unsterblichen ins Jenseits zu blasen.

Doch die zusammengewürfelte Truppe des Kommandos wird entdeckt, und die Dinge entwickeln sich völlig anders als geplant. Hat Loki sie etwa verraten?

Mein Eindruck

Dieser Alternativgeschichtsentwurf ist an die Marvel-Comics angelehnt, deren Verfilmungen wir ironischerweise jetzt erst in den Kinos besichtigen dürfen – ein Vierteljahrhundert nach dieser Pastiche. Oder sollte ich sagen „Persiflage“? Denn weder Thor ist der aus den Comics, sondern ein echter Alien, der nicht mal ein Raumschiff brauchte, um zur Erde zu gelangen. Und wer ist der „Captain America“ des Titels? Natürlich Catain Chris Turing – ein Kerl, der von Dänen abstammt statt von echten Amis.

Allerdings ist das Szenario angemessen grimmig. Nazis überall, vor allem Totenkopf-SS, die dem Asen- wie dem Todeskult anhängt, und natürlich nordische Priester – für die Blutopferzeremonie. Aber diese Wichte haben bei den Asen, die sie gerufen haben, nichts mehr zu melden. Sie machen dementsprechend säuerliche Mienen zur Opferzeremonie.

Da die Lage sowieso aussichtslos ist, kommt es für Chris Turing auf einen guten Abgang an. Er überlegt sich, was es sein könnte, das die Asen so mächtig macht. Als er auf den Trichter kommt – dank eines kleinen Hinweises von Loki -, fällt ihm auch das einzige passende Gegenmittel ein, das dagegen hilft: Gelächter …

Entfernt man all diesen mythologischen Überbau, bleibt eine zentrale Szene übrig: Ein jüdischer KZ-Insasse, der den sicheren Tod schon vor Augen hat, lässt die Hose herunter und zeigt seinen Mörder den Hintern und ruft: „Kiss mir im Toches!“ Na, das nenn ich mal Todesverachtung.

13) Kim Stanley Robinson: Der blinde Geometer (The Blind Geometer, 1987)

Carlos Nevsky ist von Geburt an blind und hat sich mit seiner „Behinderung“ ausgezeichnet eingerichtet, ja, er ist sogar Professor für Geometrie an einer Washingtoner Universität geworden. Sein räumliches Vorstellungsvermögen ist ausgezeichnet. In letzter Zeit fällt ihm auf, dass sein Kollege Jeremy Blasingame ihn auffällig aushorcht, wie dieser glaubt. Dann tauchen Carlos‘ Ideen in dessen Veröffentlichungen auf – sicher kein Zufall, oder?

Carlos ist ein begieriger Leser alter Detektivgeschichten, insbesondere über Carrados, den blinden Detektiv. Was also lässt sich aus Jeremys Verhalten deduzieren? Dass er in jemandes Auftrag handelt? Carlos weiß, dass Jeremy mit dem militärischen Geheimdienst im Pentagon zu tun hat. Aber was hat das Pentagon, das sich ja vor allem für Waffen interessiert, mit n-dimensionaler Vervielfältigungsgeometrie am Hut?

Eines Tages gibt ihm Jeremy eine geometrische Zeichnung. Sie stamme von einer Frau, die gerade verhört werde. Alles gedruckte kopiert Carlos mit seinem Spezialkopierdrucker in Braille-Schrift. Die Zeichnung ist nichts besonderes, nur etwas Grundlegendes. Er besteht darauf, die Frau persönlich zu sprechen. Jeremy bringt sie und stellt sie als Mary Unser vor, eine angebliche Astronomin. Ihre Ausdrucksweise ist ungrammatisch. Ist das Absicht? Kann er ihr trauen? In einem unbeobachteten Augenblick, als Jeremy Trinkwasser holt, gibt Mary Carlos Signale per Handdruck. Was will sie ihm sagen?

Allmählich weiß Carlos, dass etwas nicht stimmt, und entdeckt zwei Abhörgeräte in seinem Büro. Er kauft sich selbst eine Wanze, die er in Jeremys Büro platziert. Dieser telefoniert mit einem Mann in Washington, der sich nie identifiziert. Um mehr herauszufinden, macht sich Carlos an Mary heran. Aber auch jetzt muss er sich fragen, ob sie verdrahtet ist. Erst während eines heftigen Gewitters, das alle Abhörgeräte außer Gefecht setzt, kann sie ihm die erstaunliche Wahrheit anvertrauen …

Mein Eindruck

Dieser Blinde ist so ziemlich das Gegenteil von der Blindenkolonie in John Varleys Erzählung „Die Trägheit des Auges“. Sogar dessen Heldin Helen Keller (1880-1968) wird als textbesessene Träumerin kritisiert, die viktorianische Wertvorstellungen nachhing. Dagegen nimmt sich Carlos Nevsky doch ziemlich modern aus. Wenn er auch eine eigene virtuelle Welt in seinem Kopf errichtet hat, so weiß er sich doch in der sogenannten Realität ausgezeichnet zu bewegen, denn auch davon hat er ein geometrisch exaktes Abbild in seinem Gedächtnis gespeichert.

Doch all dies gerät durcheinander, als ihm Jeremy eine Wahrheitsdroge verabreicht, die ihn dazu bringen soll, seine kühnsten Entwürfe offenzulegen. Das passiert zwar nicht, aber Carlos wankt dennoch völlig desorientiert durch Washingtons Straßen. Und dann ist da ja noch Mary, die ihn seelisch schwer aus dem Gleichgewicht bringt. Mir ihr zu schlafen, ist nicht schwer, doch kann er ihr auch sein Leben anvertrauen?

In einem dramatischen Showdown zeigt sie ihm, was sie drauf hat: Zwei Blinde gegen drei bewaffnete Männer – ob das wohl gut geht? (Denn dass auch sie blind sein muss, ahnen wir von Anfang an.)

14) Bruce Sterling & Lewis Shiner: Mozart mit Spiegelbrille (Mozart In Mirrorshades, 1985)

Die Zeitreisenden aus der Zukunft haben die Festung Hohensalzburg als Stützpunkt eingenommen, um von hier die Stadt Salzburg in den Griff zu bekommen. Rice, der Ingenieur, hat eine Ölraffinerie hingestellt, so dass nun Pipelines durch die Gassen bis ins Zeitportal führen – in die Zukunft. Im Gegenzug haben die Zeitreisenden den Einheimischen alle Segnungen amerikanischer Kultur zugutekommen lassen: Bars, Klubs, Elektronik, Drinks, Klamotten, Musik – einfach alles. Das 18. Jahrhundert wird nie mehr sein, wie es mal war. Sogar die Französische Revolution ist fast unblutig verlaufen, und Thomas Jefferson ist der erste Präsident der USA – von Zukunfts Gnaden.

Wolfgang Amadeus Mozart ist der spezielle Schützling Rices und übt schon mal, seine Art von Pop mit den Mitteln der Zukunft herzustellen. Parker wird sein Manager und sagt ihm eine große Zukunft voraus. Mozart schwärmt Rice von Maria Antonia alias Antoinette vor, der Tochter der Kaiserin Maria Theresia, die jetzt, nach der Revolution, wohl in Versailles ein bisschen sein könnte. Prompt macht sich Rice auf den Weg und verliebt sich in das Luxus-Hippie-Girl.

Doch zehn Tage später kommt ein Video-Anruf von Mozart: In Salzburg sei die Kacke am Dampfen, die Raffinerie unter Beschuss, die Trans Temporal Army verteidige die Festung, deren Kommandantin Sullivan unter Kuratel gestellt worden sei. Als sich Rice in panischer Hast auf den Weg von Versailles nach Salzburg macht, trickst ihn Marie Antoinette aus und so fällt er den Masonisten-Freischärlern in die Hände. Wird Rice es jemals zurück in die Zukunft schaffen?

Mein Eindruck

Auch diese Story über einen alternativen Geschichtsverlauf bringt richtig Schwung in die Lektüre. Da trifft das bekannte Inventar des ausgehenden 18. Jahrhunderts auf die modernen USA, abgesehen mal vom Zeitportal, und im fröhlichen Culture Clash entstehen skurrile Szenen. Diese Story nimmt Sophia Coppolas Film über Marie Antoinette schon um Jahre vorweg. Und Mozart wird zum Popstar der Zukunft, so wie er das ja schon zu seiner Zeit war.

Zeitparadoxa – was soll damit sein? Der Zeitverlauf, erfahren wir, hat sowieso zahlreiche Verzweigungen, wie ein Baum Äste. Deswegen mache die Kontamination DIESES 18. Jahrhunderts den vielen anderen 18. Jahrhunderten gar nichts aus. Klar soweit? Und man kann sogar zwischen verschiedenen Zeitzweigen wechseln. Daher auch das Auftauchen der Trans Temporal Army.

Im Grunde jedoch zeigen die Autoren anhand der Kulturinvasion der modernen USA, wie ja vielfach in den Achtzigern zu beobachten, verheerende Auswirkungen auf die lokale Kultur – auch im soziopolitischen Bereich. So entsteht etwa die Widerstandsbewegung der Freimaurer alias Masonistas, gegen die Thomas Jefferson schon wetterte. Und es gibt die Trans-Temporalarmee, die sich als eine Art Sechste Kolonne der Manager aus der Zukunft engagiert – und so Rices Hintern rettet. Insgesamt also ein richtiger Dumas’scher Abenteuerroman, auf wenige Seiten komprimiert.

15) Karen Joy Fowler: Der Preis des Gesichts (Face Value, 1986)

Der Alien-Forscher Taki und seine Frau, die Dichterin Hesper, sind auf die neu entdeckte Welt der Meine gekommen, um diese rätselhaften Wesen zu erforschen. Unter dem Doppelsternsystem ist es heiß und staubig, doch den insektenartigen Menen macht das nichts aus. Die fliegenden Wesen mit den Flügelzeichnungen, die wie Gesichter aussehen, leben in unterirdischen Tunnelsystemen, deren Mittelpunkt Taki noch nicht hat erreichen können. Das frustriert ihn. Die Art und Weise ihrer Kommunikation könnte Telepathie sein.

Ebenso frustriert ist er vom Verhalten seiner Frau. Sie weint der Erde hinterher, besonders ihrer längst verstorbenen Mutter, die sie sehr liebt. Sie schreibt kaum noch Gedichte, und auch lieben will sie sich nicht mehr lassen. Nach einem weiteren zudringlichen Besuch eines Mene-Schwarms verliert sie nicht nur die Beherrschung. Sie verliert buchstäblich den eigenen Verstand. Aus ihrem Mund sprechen nun die Mene: „Wir haben sie. Wir können verhandeln …“

Mein Eindruck

Mit in der SF seltener Feinfühligkeit stellt die amerikanische Autorin den Prozess dar, wie einer sensiblen Frau der Verstand geraubt wird. Das geht überhaupt nicht gewaltsam vor sich, sondern ganz sachte, fast unmerklich für Taki. Bis es auf einmal zu spät ist. Die Kommunikation verläuft in beide Richtungen, sagt er, deshalb müssen die Menschen für die Mene zugänglich sein.

Doch die Identität einer Frau scheint sich von der eines Mannes zu unterscheiden. Eine Frau wie Hesper stört es, wenn die Mene ihre Fotos, Gedichte, ihren Schmuck und ihre Kleider durchwühlen. Nicht so bei Taki, der gleichmütig hinnimmt, wenn Mene seine Bänder mitnehmen und bald wieder in den Staub fallen lassen. Ding für Ding, Stück für Stück nehmen die telepathischen Mene also die Identität Hespers an sich. Dadurch wird die Geschichte zu einer Demonstration über den Geschlechterunterschied, vor allem in psychologischer Hinsicht.

16) Lucius Shepard: R & R (R & R, 1986) = [Life During Wartime]

Diese mehrfach mit Preisen ausgezeichnete Novelle bildet das Mittelstück von Shepards Roman „Das Leben im Krieg“ (Life During Wartime, 1987).

Es geht um kein triviales Thema, sondern quasi um „Apocalypse Now“ in Mittelamerika, im Dschungel Nicaraguas und El Salvadors, als die Reagan-Truppen die kommunistischen Sandinistas bekämpften. David Mingolla ist einer der amerikanischen Soldaten, Durchschnitt, er versucht, die Hölle des Krieges zu überleben. Seinesgleichen versucht mit Drogen vollgepumpt und im Direktkontakt mit ihrer Elektronik ihrer Waffen, gleichen sie eher Kampfmaschinen als Menschen. Die Grenzen zwischen Gut und Böse, zwischen Liebe und Haß und zwischen Mythos und Realität lösen sich auf – alles wird möglich, alles ist relativ.

Was von den Soldaten übrig bleibt, falls sie die sinnlosen Gefechte und Massaker an der Zivilbevölkerung überleben, sind leergebrannte Zombies. Sie werden nie mehr fähig sein, in ein normales bürgerliches Leben zurückzukehren, es sei denn, sie springen rechtzeitig ab und desertieren. Mingolla aber desertiert nicht, sondern schlägt sich durch. Bis er schließlich zu seinem Entsetzen herausfindet, dass der Krieg nur die Fortsetzung einer jahrhundertelangen Blutfehde zweier verfeindeter mittelamerikanischer Familien ist, zwar mit anderen Mitteln, aber immerhin: Die Weltmacht USA als Handlanger von Provinzfürsten mit privaten Rachegelüsten!

Mein Eindruck

Shepards Interesse gilt nicht so sehr den (waffen-) technischen, militärischen oder wirtschaftlich-sozialen Aspekten dieses speziellen Krieges, den er schon 1984 in seiner Story „Salvador“ verarbeitete. Es geht um die Psyche, die sich in diesem Hexenkessel verändert – bis zur Unkenntlichkeit. Hier findet der amerikanische Traum sein Ende: im Dschungel, im Drogenrausch, im Kampf mit einem Jaguar, unter dem Einfluss eines Voodoo-Magiers, kurz: im Herzen der Finsternis.

17) Walter Jon Williams: Dinosaurier (Dinosaurs, 1987)

Der irdische Botschafter Drill landet auf dem Planeten der Shar, um Friedensverhandlungen zu führen. Die Shar, mit denen er sich per Übersetzungsgerät verständigt, sind pelzige, dreibeinige Wesen mit großen Augen, spitzer Schnauze und einer komplexen Sozialstruktur. Ihre Präsidentin Gram begrüßt Drill. Der massige Zweibeiner mit seiner schwarzen Haut und dem langen Penis zwischen den Beinen hört auf seine zwei eingebauten Gehirne, das Metahirn im Beckenbereich und die Erinnerung im Kopf. Die Erinnerung sagt ihm, dass er sich diplomatisch verhalten soll.

Und bald stellt sich in den Verhandlungen heraus, dass die Shar bereits Millionen Opfer auf ihren Welten zu beklagen haben. Der Grund sind die Terraformerschiffe der „Menschen“, die nicht intelligent genug sind, um die Shar als intelligente Rasse zu identifizieren nund zu respektieren. Daher wurden sie als Schädlinge „exterminiert“.

Als die Präsidentin, die mehr Geduld als ihre Minister aufbringt, nachhakt, was denn diese Unterscheidung zwischen intelligent und nicht-intelligent zu bedeuten habe, antwortet ihr Drill in aller Unschuld, dass dies eine Folge der Spezialisierung sei. Nach acht Millionen Jahren habe sich die menschliche Rasse eben zwangsläufig in spezialisierte Unterspezies aufgespalten. Manche davon, wie die Terraformer, benötigen für ihre Tätigkeit nur einfach Instruktionen, andere, wie die Diplomaten, benötigten beispielsweise auch eine komplexe Erinnerung, also die gesammelten Erfahrungen der Menschheit.

All diese Erklärungen reichen nicht, um die Koalition der Präsidentin zusammenzuhalten. Ihre Regierung zerbricht, als Drill – wieder in aller Unschuld – berichtet, woher er die Koordinaten für die Shar-Welt habe. Na, von gefangenen Shar. Und was wurde aus denen? Sie wurden liquidiert, weil man den Garten brauchte, in dem sie untergebracht waren. Dieser erneute Beweis der ahnungslosen Grausamkeit der Menschen führt dazu, dass sich General Vang an die Macht putscht und den Menschen den Krieg erklärt …

Mein Eindruck

„Menschen“ ist in sieben Millionen Jahren ein sehr relativer Begriff geworden: Drill ist ein Abkömmling der Saurier, und zwar ein ganz besonders hässlicher. Dagegen sind die Shar ja richtig putzige Menschlein, mit denen wir uns identifizieren können. Drill jedoch hält sie für primitiv, weil sie noch an seltsame Dinge wie Moral glauben. Als ob dies im Laufe der Evolution irgendeine Rolle spielen würde. Sie sind wie einst die Saurier, zum Aussterben verurteilt. Was schon ziemlich ironisch ist.

Die eigentliche Kritik des Autors, der im Grunde keine Seite einnimmt, ist jedoch das, was den Shar so widerwärtig erscheint: die ahnungslose Grausamkeit der „Menschen“. Da diese keine Vorstellung mehr von Moral und Prinzipien haben, sondern vor allem durch Protein und Sex – Drills Metahirn quengelt regelmäßig danach – befriedigt werden, muss es etwas anderes sein, das das Verhalten der „Menschen“ steuert. Am Ende ihres letzten Zwiegesprächs erkennt Präsidentin Gram mit bitterer Trauer, um was es sich handelt: Instinkt und Reflex. So weit hat sich also die prächtige „Menschheit“ entwickelt!

Die Übersetzungen

Auf Seite 508ff. ist mehrfach von der iranischen Stadt „Tehran“ die Rede. Sie heißt bei uns Teheran. Man kann diese Schreibweise aber stehen lassen, weil es sich um eine alternative Welt handelt.

Auf der Seite 509 ist von dem „Gott der Trugs“ die Rede, aber gemeint ist Loki, also der „Gott des Trugs“!

Auf Seite 770 heißt es: „Die Welten auf beiden Seiten sind der Sicherheitspfand.“ Also, bei uns in der Schule war DAS Pfand immer sächlich, nicht männlich.

Unterm Strich

Diese Best-of-Auswahl wird ihrem Anspruch durchaus gerecht – was ja nicht selbstverständlich ist. Alle Texte sind durchweg top, ganz besonders die herausragenden Novellen von Robinson, Zelazny, Shepard, Martin und Miller. Alle anderen sind meist sehr bekannt und vielfach abgedruckt, ausgenommen die Stories von Fowler, Lambe und Masson, die man nur selten findet.

Zwei Aspekte fallen auf: Alle Erzählungen sind von nicht-technischen Themen charakterisiert, also meist psychologischer, soziologischer oder biologischer Natur. Das heißt, wenn nicht gerade wieder mal ein alternativer Geschichtsverlauf eine Rolle spielt, wie etwa bei Brin oder Williams. Durch dieses Übergewicht unterscheidet sich diese Auswahl von vielen, die man heute in den USA finden würde. Keine einzige Story von Bear, Benford oder Niven ist hier zu finden, Autoren, die für Hard SF stehen, also naturwissenschaftlich orientierte Science-Fiction.

Was betrüblich zu konstatieren ist, ist das Fehlen jeglicher Beiträge von Philip K. Dick und John Brunner, zwei im Heyne SF Programm nicht gerade unterrepräsentierten Autoren. Heyne hat fast das komplette Werk von Brunner veröffentlicht sowie einige der wichtigsten Arbeiten von Dick. Wieso fehlen sie hier? Vielleicht sind sie ja in „Ikarus 2002“ oder „Fernes Licht“ zu finden. Stay tuned.

Taschenbuch: 782 Seiten
Aus dem Englischen übertragen von diversen Übersetzern
ISBN-13: 978-3453179844|
http://www.heyne.de

_Wolfgang Jeschke (als Herausgeber) bei |Buchwurm.info| [Auszug]:_
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Wahren, Friedel (Hrsg.) – Isaac Asimovs Science Fiction Magazin, 38. Folge

Trügerische Utopien und andere Herausforderungen

Dieser Auswahlband aus dem Jahr 1991 enthält Erzählungen von Kim Stanley Robinson, George Alec Effinger, Mike Resnick, Michael Kallenberger, Megan Lindholm (= Robin Hobb), James Patrick Kelly und dem deutschen Autor Peter Frey.

Drei Novellen ragen heraus. Effingers Novelle bildet den Anfang seines Roman „Das Ende der Schwere“, Resnicks Novelle „Manamouki“ wurde mit dem begehrten HUGO Award ausgezeichnet und Kelly glänzt mit der Novelle „Mr. Boy“.

Die Herausgeber

Friedel Wahren war lange Jahre die Mitherausgeberin von Heynes SF- und Fantasyreihe, seit ca. 2001 ist sie bei Piper verantwortlich für die Phantastikreihe, die sowohl SF als auch Fantasy veröffentlicht.

Isaac Asimov, geboren 1920 in Russland, wuchs in New York City auf, studierte Biochemie und machte seinen Doktor. Deshalb nennen seine Fans ihn neckisch den „guten Doktor“. Viel bekannter wurde er jedoch im Bereich der Literatur. Schon früh schloss er sich dem Zirkel der „Futurians“ an, zu denen auch der SF-Autor Frederik Pohl gehörte. Seine erste Story will Asimov, der sehr viel über sich veröffentlicht hat, jedoch 1938 an den bekanntesten SF-Herausgeber verkauft haben: an John W. Campbell. Dessen SF-Magazin „Astounding Stories“, später „Analog“, setzte Maßstäbe in der Qualität und den Honoraren für gute SF-Stories. Unter seiner Ägide schrieb Asimov nicht nur seine bekannten Robotergeschichten, sondern auch seine bekannteste SF-Trilogie: „Foundation“. Neben SF schrieb Asimov, der an die 300 Bücher veröffentlichte, auch jede Menge Sachbücher, wurde Herausgeber eines SF-Magazins und von zahllosen SF-Anthologien.

Die Erzählungen

1) Kim Stanley Robinson: Das Ende der Traumzeit (Before I Wake)

Der Wissenschaftler Fred Abernathy erwacht aus einem wunderschönen Traum, weil sein Kollege Winston ihn anbrüllt, er solle gefälligst aufwachen. Aber er ist doch wach, oder etwa nicht? Winston erklärt, dass die Menschen, wie Fred, Wachen nicht mehr von Träumen unterscheiden können, weil ihre Wach- und Schlafphasen völlig durcheinandergeraten sind. Das Magnetfeld der Erde muss in ein starkes Feld kosmischer Strahlung geraten sein, die dies verursacht.

Flugzeuge sind abgestürzt, Auto- und Schiffsverkehr zusammengebrochen. Abernathy holt seine träumende Schwester Jill aus dem niedergebrannten Zuhause ab und bringt sie ins Labor zu Winston und anderen Mitarbeitern des Instituts. Hier versucht Abernathy, unter ständiger Verabreichung von Schmerz, Aufputschmitteln usw., ein Abschirmgerät zu entwickeln. Es gelingt ihm. Doch dankt man es ihm? Nein: Auf einmal gehen alle auf ihn los: Er sei schuld. Aber an was? Als er stürzt, glaubt er eine Treppe hinabzustürzen, doch dann erwacht er. Wirklich?

Mein Eindruck

Der Autor hat die Schlafforschung von 1990 gründlich studiert, und auch heute forscht man eifrig weiter, was im Schlaf passiert. Er geht aber weiter, indem er fragt, wie Bewusstsein entstand, als das Gefühl, wach zu sein und sich zu fragen: „Wer und was bin ich?“ Wozu dient dann aber das Träumen? Möglicherweise kann in diesem Zustand das menschliche Bewusstsein in die Unendlichkeit hinausreichen und sich so seiner spirituellen Seite bewusst werden.

Der Rest der Handlung lässt sich durchaus vernünftig verfolgen, da dies keine Story von Philip K. Dick oder J. G. Ballard ist. Fred erkennt das Problem, bekämpft es und sucht, wie ein guter Wissenschaftler, die Lösung dafür: die Abschirmung des Kopfes gegen die Magnetstrahlung. Der Träger des Helms würde also aufwachen. Ironischerweise ziehen seine Arbeitskollegen es vor weiterzuträumen …

2) George Alec Effinger: Marîd lässt sich aufrüsten (Marîd Changes His Mind)

Der etwa 30-jährige christliche Algerier Marîd Audran lebt als Privatdetektiv im Budayin, dem Rotlichtbezirk einer nordafrikanischen Stadt im 21. Jahrhundert. In den Strip-Klubs findet er seine Kumpel, seine diversen Freundinenn – und leider auch seine Feinde. Die Halbwertszeit eines Lebens ist hier stark reduziert. Seine derzeitige Freundin ist Yasmin, eine Oben-ohne-Tänzerin, aber auch mit Tamiko und Nikki hat er schon nähere Bekanntschaft geschlossen. Marîd ist ein wenig exotisch und wirkt arrogant, weil er sich standhaft weigert, ein Software-Add-on für die Persönlichkeitsmodifikation zu benutzen. Er hat nicht mal eine Schädelbuchse dafür und zieht stattdessen Tabletten vor. Yasmin kennt solche Skrupel nicht, und deshalb ist sie die populärste Tänzerin bei Frenchy’s.

Die Mordserie

Dass die Moddys und Daddys – die Persönlichkeitsmodule und Software-Add-ons – auch Gefahren bergen, zeigt sich, als ein neuer Kunde Marîds vor seinen Augen vor einer James-Bond-Kopie umgenietet wird. Wie taktlos. Leider bleibt es nicht bei diesem Mordopfer. Auch Tamiko und eine ihrer Freundinnen, die sich als Killeramazonen auftakeln, erleiden einen vorzeitigen Exitus. Und ihre und Marîds Freundin Nikki verschwindet spurlos. Schleunigst begleicht Marîds Nikkis Schulden bei Hassan und Abdullah, doch auch dies bewahrt ihn nicht vor einem bösen Verdacht, als Abdullah ebenfalls die Kehle aufgeschlitzt wird.

Diesen Verdacht hegt jedoch nicht die Polizei unter Kommissar Okking, mit dem Marîd schon öfters zu tun hatte, sondern der Obermacker des Rotlichtviertels, Friedlander Bei. Marîd bekommt eine „Privataudienz“ mit der Option auf sofortige Exekution durch die zwei Gorillas dieses Paten. Doch er kann ein hieb- und stichfestes Alibi für Abdullahs Tod vorweisen und springt dem Tod noch einmal von der Schippe. Er erfährt, dass alle Ermordeten in Diensten Friedlander Beis standen, sei es als Kunden oder als Auftragskiller wie Tamiko. Offensichtlich will jemand die Geschäfte des Beis erheblich stören, und das kann dieser nicht zulassen.

Ein neuer Chef

Und an dieser Stelle kommt nun Marîd ins Spiel. Er sei der Einzige, so der Bei, der es schaffen könnte, schlauer als die Polizei und schneller als der Killer zu sein. Der Bei bittet Marîd daher, für ihn den Schuldigen zu finden. Und wenn er bittet, dann hat Marîd das als Befehl aufzufassen. Die Bezahlung ist fürstlich, doch die Sache hat einen Haken: Marîd muss sich aufrüsten lassen. Das schmeckt ihm überhaupt nicht, aber was bleibt ihm anderes übrig? Umsonst ist nur der Tod, und der kostet das Leben. Die eigenen Ärzte des Beis sollen die OP vornehmen. Na schön, willigt Marîd ein, froh, mit dem Leben davongekommen zu sein. Auch seine Freundin Yasmin überredet ihn, sich „verdrahten“ zu lassen.

Verdrahtet

Drei Wochen später – es ist Ramadan – erwacht Marîd mit einem Brummschädel und merkt, dass er im Bett eines recht angenehm aussehenden Krankenhausbettes liegt. Es unterscheidet sich von den Armenzimmern, die er nach einer Blinddarm-OP kennenlernte. Offenbar hat sein neuer Mäzen dafür gesorgt. Der Arzt, Herr Yeniknani, ist sehr besorgt um das Wohl und Wehe von Marîd und erklärt ihm die neuen Implantate. Marîd kann jetzt nicht nur Persönlichkeitsmodule und Software-Add-ons hochladen, um jemand anderes zu sein und zusätzliches Wissen zu erlangen. Nein, er kann noch viel mehr, weil Dr. Lîsani ihm winzige Drähte in tiefe Regionen seines Hirns eingeführt hat, damit Marîd Gefühle wie Hunger, Durst, Schlaf und sexuelle Erregung direkt kontrollieren kann. Allerdings kann er sich nicht selbst einen Orgasmus verschaffen, denn das wäre kontraproduktiv gewesen. Marîd ist beeindruckt.

Sobald er wieder entlassen worden ist, hört er, dass dieser James-Bond-Verschnitt verschwunden ist und dass seine eigene Freundin Nikki tot aufgefunden wurde – in einem Müllsack. Bei ihr findet er ein selbstgebasteltes Moddy, einen Ring und einen Skarabäus, möglicherweise Hinweise auf Herrn Leipolt, einen deutschen Kaufmann, mit dem Nikki zu tun hatte. Als er das Moddy von einer Moddy-Ladenbesitzerin testen lässt, verwandelt sich diese daraufhin in eine reißende Bestie. Marîd ist erschüttert. Aber dieses satanische Moddy kann nicht den oder die Mörder gesteuert haben, denn dafür sind die Morde zu sorgfältig durchgeführt worden. Als er Tamikos Freundin Selima, die dritte ihres Killertrios, hingeschlachtet vorfindet, warnt ihn eine mit Blut geschriebene Botschaft, dass er der Nächste sei.

Mein Eindruck

Auf den ersten Blick entspricht der Roman „Das Ende der Schwere“, den diese Story eröffnet, dem typischen Klischee für einen Cyberpunk-Roman: Modernste Technik steht im krassen Gegensatz zu dem illegalen oder zwielichtigen Milieu, in dem es eingesetzt wird. In der Regel ist der Grund für solchen Technikeinsatz aber der, dass im Untergrund und auf dem schwarzen Markt die moderne Technik – hier Persönlichkeitsmodule – erst voll ausgereizt werden. Das ist bis heute so, wenn man sich zum Beispiel Gadgets, Hacker, Designer-Drogen und das Internet ansieht.

Was den Roman über das Niveau der meisten Cyberpunk-Romane, die zwischen 1983 und 1995 erschienen (also bis zum Start der Shadowrun-Serie, als die Klischees endgültig in Serie gingen), hinausgeht, ist die Hauptfigur. Marîd Audran ist kein jugendliches Greenhorn mehr und hat bereits einige Lebensphasen hinter sich. Er lebt außerhalb der bürgerlichen Lebensgrenzen auf einem Areal, das zwar auf dem Friedhof liegt, aber als Rotlichtbezirk und Vergnügungsviertel genutzt wird. Touristen und Seeleute toben sich hier aus und, wie Audran erfährt, auch zunehmend Politflüchtlinge aus Europa.

Audran hat einen Horizont, den er ständig erweitert, und ein Händchen für Damen und Freunde. Beide sind ihm gleichermaßen treu, denn er weiß, dass er ohne sie nicht in diesem Milieu überleben kann. Er hat sich wie ein Chamäleon der Umgebung angepasst. Obwohl er, wie Friedlander Bei feststellt, Christ ist, befleißigt er sich doch bei jeder sich bietenden Gelegenheit der arabischen Höflichkeits-Floskeln, zitiert den Koran, ruft Allah an und weiß mit arabischen Geschäftsleuten umzugehen, selbst wenn es sich um die größten Halunken handelt. Kurzum: Er ist ein Überlebenskünstler, noch dazu einer mit einem Gewissen und einem (gut versteckten) Herz aus Gold. Sonst würde er nicht nach verschwundenen Freundinnen fahnden.

Das macht ihn aber noch nicht zu einem guten Detektiv. So brüstet er sich zwar mit seiner Fähigkeit, jeden geschlechtsumgewandelten Mann, der nun als Stripperin auftritt, erkennen zu können, doch als er selbst einer hübschen langbeinigen Blondine in der Villa eines Deutschen begegnet, nimmt er sie dummerweise für bare Münze und schläft mit der Hübschen. Am nächsten Morgen klärt ihn „ihre“ Abschiedsnotiz über seinen Irrtum auf: „Sie“ heißt Günther Erich von S. Marîd stöhnt, weil ihm übel wird. Schließlich war er bis jetzt strikt hetero. Und seine Menschenkenntnis hat offenbar schwer nachgelassen. Was, wenn dies auch bei Nikki der Fall wäre?

Die Austauschbarkeit von Körpern und Persönlichkeiten ist mittlerweile völlig geläufiges Standardmotiv in der Science-Fiction. Dazu muss man nur mal Richard Morgans fulminanten SF-Detektivroman „Das Unsterblichkeitsprogramm“ ansehen (siehe meinen Bericht). Diese Motive waren aber anno 1987, also drei Jahre nach der Veröffentlichung von Gibsons epochalem „Neuromancer“ noch an der vordersten Front der SF-Ideen.

3) Michael Kallenberger: Weißes Chaos (White Chaos)

Der Journalist Alan Endridge hat die Aufgabe angenommen, die Biografie des großen Mathematikers Abraham Soleirac zu verfassen. Alan steht der Aufgabe zwiespältig gegenüber. Einerseits hat Soleirac innerhalb der angestaubten Chaostheorie aufregende neue Gleichungen aufgestellt. Andererseits hat er prophezeit, dass sich der Große Rote Fleck des Planeten Jupiter binnen 20 Jahren auflösen werde. Das findet Alan absurd. Und in seinen Interviews mit dem Forscher entzieht sich dieser stets irgendwelcher Festlegung.

Wie auch immer: Alan befindet sich mit seiner Frau Jean, die bei Soleirac Physik studiert, an Bord einer Raumstation, die den Jupiter umkreist. Von hier aus lässt sich Soleirac an einem Stahlseil in einem Tauchboot in den Großen Roten Fleck hinab. Alan fragte den Forscher, was er damit beweisen wolle. Mehr oder weniger den Einfluss des menschlichen Willens auf die Gleichungen, die den Fleck bestimmen. Auch das hält Alan für zweifelhaft.

180 Tage später lässt sich Soleirac im Tauchboot wieder an Bord holen. Offensichtlich hat der geniale Mathematiker den Verstand verloren. Aber seine Exkursion war nicht umsonst: Der Große Rote Fleck in Jupiter-Atmosphäre hat sich nämlich verändert …

Mein Eindruck

Die Geschichte von Soleirac und seinem Biografen Alan schildert auf feinfühlige, kenntnisreiche und psychologisch interessante Weise die Diskrepanz zwischen dem Tun eines Wissenschaftlers und seiner Wahrnehmung in der Öffentlichkeit. Soleirac wird als neuer Einstein und Hawking gefeiert, und Alan hat nicht wenig dazu beigetragen. Doch der Mensch Soleirac selbst ist enigmatisch, vielleicht als Schutzmechanismus. Seit seinem 31. Lebensjahr, so entdeckt Alan, hat Soleirac nichts mehr geleistet.

Davon abgesehen gibt es noch eine weitere Ebene, die sich generell mit der Bedeutung von Theorien zur Erklärung des Universums beschäftigt. Auf dieser Ebene erhält Soleiracs Exkursion zum Großen Roten Fleck einen Sinn: als Kunstwerk. Und als Ausdruck des Aufeinandertreffens von Wille und Gleichung.

4) James Patrick Kelly: Mr. Boy (OT dito)

Die lange Novelle (ca. 80 Seiten) erzählt von ein paar Jungs in einer Zukunft, in der sich jedermann genmanipulieren lassen kann. Der titelgebende Mr. Boy heißt so, weil er, der als Peter Cage vor 25 Jahren geboren wurden, sich hat verjüngen – stunten – lassen. Jetzt hängt er mit anderen 13-Jährigen rum und himmelt eine neue Schülerin an. Seine Mutter hat sich in eine Kopie der Freiheitsstatue verwandeln lassen. In ihrem riesigen Innern isst Mr Boy und hat sein Zimmer. Ein „Genosse“ bzw. Androide erfüllt ihm alle seine kleinen Wünsche.

Der Genosse gibt ihm das Foto einer Leiche: Ein Manager der Firma Infoline wurde von seiner Frau per Kopfschuss getötet. Peter steht auf Leichen, weil sie so „extrem“ sind, ihm also einen Kick verschaffen – und seine Mutter schocken. Allerdings kriegt er genau wegen dieses Fotos mächtig Ärger mit einer Firma namens DataSafe, die es unbedingt zurückhaben möchte.

Die Spur des Fotos zieht sich durch die Story, aber auch die Geschichte von Peters Liebesgeschichte mit Treemonisha. Als er deren Familie kennenlernt, ist das ein Damaskuserlebnis: Die vierköpfige Familie lebt nackt in einem Gewächshaus. Aber das ist noch gar nichts gegen den Augenblick, als er die Wahrheit über seine Mutter erfährt …

Mein Eindruck

Zunächst wirkt der Text, der nun hin und wieder einen Absatz aufweist, als wäre es anstrengend, ihn zu lesen. Aber schon nach wenigen Seiten wird klar, dass es ganz leicht ist, ihm zu folgen. Okay, man muss hinnehmen, dass die Szene mitten im Absatz wechselt, aber das ist in Ordnung, denn auf diese Weise hält die Geschichte ihr Tempo aufrecht, und dieses Tempo ist enorm hoch. In nur 80 Seiten lernen wir eine ganze Jugendkultur kennen und die Entwicklung eines verjüngten Mr. Boy zu einem erwachsenen Mann.

Denn ein Junge kann nicht ewig ein Kind sein, nur um seiner Mutter den Gefallen zu tun, stets von ihr (und ihrem Geld) abhängig zu sein. Nein, ein Junge lernt auch mal ein Mädel kennen, das selbst ebenso wie ihre Familie ganz anders drauf ist als er. Werte verschieben sich, die Realität wird eine andere.

Zur Krise kommt es auf der Geburtstagsparty eines weiteren Schulmädchens, die sogar bis nach Japan übertragen wird. Antike Dinge wie Schallplatten aus Vinyl sowie ein altes Klavier werden hier der Zerstörung zugeführt, auf dass die Vergangenheit vernichtet werde. Ebenso wie das Stunten geht es also um den Umgang mit Alter. Alter ist relativ, und diese Kultur hat das Altern an sich zum Tabu erklärt. Bis Peter den ganzen Betrug dahinter entdeckt …

Diese Kultur ist natürlich die amerikanische und Peters Mutter ist die Verkörperung Amerikas. Daher die Gestalt der Freiheitsstatue. Doch Miss Liberty erweist sich als das genaue Gegenteil von Freiheit, nämlich als die ultimative Kontrolleurin. Auf diesem Umweg kritisiert der Autor seine Kultur, und an dieser hat sich seit 1990 nur wenig verändert. Allenfalls sind die Kontrollen nach der Verabschiedung des Patriot Act 2002 noch strenger geworden.

5) Bruce Sterling: Manamouki (OT dito)

Der kenianische Stamm der Kikuyu hat auf einer künstlichen Welt namens Kirinyaga ein neues Zuhause gefunden und lebt nun nach den alten Traditionen, die in Kenia auf der Erde schon längst durch die westliche Lebensweise abgelöst worden ist. Dies weiß Koriba, der Medizinmann des Dorfes, der auch den einzigen Computer bedient. So erfährt er, dass zwei Neuankömmlinge eintreffen werden. Sie kommen aus Kenia.

Nkobe und seine Frau Wanda entsteigen der Fähre, die sie von der Raumstation heruntergebracht hat. Eigentliche Nkobe ein reicher Mann, überlegt Koriba und fragt sich, warum er auf einer so primitiven Welt leben will, wo es nicht mal fließend Wasser gibt, geschweige denn Wasserklosetts. Es war Wanda, seine hochgewachsene Frau, die ihn dazu überredet hat, stellt sich heraus. Nun, macht Koriba ihr klar, sie muss lernen, wie ein Manamouki zu leben, wie ein weibliches Besitzstück ihres Mannes. Wanda verspricht, es zu versuchen und nimmt sogar einen anderen Namen an, den einer kürzlich Verstorbenen: Mwange.

Aber mit Mwange kommen auch neue Ideen in das Dorf Koribas, und als Erste protestiert die Erste Frau des Häuptlings. Mwanges Kleider seien viel prächtiger als ihre und würdigten sie herab. Sie ist nicht die Letzte, die sich über Mwange beschweren wird, selbst wenn Koriba noch so häufig mit Mwange redet, um sie dazu zu bringen, die Traditionen der Kikuyu zu befolgen. Doch er scheitert letzten Endes an zwei einfachen Gesetzen: Mwange ist unbeschnitten, das ist gegen das Gesetz, und zunächst duldet sie keine zweite Frau in der Hütte Nkobes. Das beschämt die anderen Frauen.

Als Koriba Nkobe und Mwange, die Manamouki, verabschiedet, hat er eingesehen, dass es zwei verschiedene Dinge sind, ein Kikuyu zu sein und einer sein zu wollen. Mwange, die sich wieder Wanda nennt, sagt ihm, dass dies zwar Utopia sein mag, aber dennoch die Stagnation in Reinkultur ist. Koriba seufzt. Und als hätte er es geahnt, beginnen die verrückten Ideen Wandas bereits Wurzeln zu schlagen – die Plagen haben begonnen.

Mein Eindruck

Diese Erzählung aus Resnicks Episodenroman „Kirinyaga“ erhielt 1991 den angesehenen Hugo Gernsback Award von den amerikanischen Lesern. Der Autor macht in anschaulichen Szenen das grundlegende Problem einer Utopie deutlich: Sie muss entweder eine radikale Abkehr vom Vorhergehenden sein, oder ein Rückfall in eine Reinform, die der Stagnation verpflichtet ist, soll sie sich nicht wieder zu jenem ursprünglichen Stadium entwickeln, das die Utopie ja gerade überwinden will.

Wie schon in seinem Roman „Elfenbein“ (siehe meinen Bericht) belegt Resnick, dass er sich mit den Traditionen der drei kenianischen Stämme Massai, Wakamba und Kikuyu bestens auskennt. Jede Szene ist glaubwürdig und leicht verständlich geschildert. Selbst wenn die Probleme der Klienten lachhaft erscheinen, so sind es die Gründe und Folgen keineswegs. Mwange, die Manamouki, wird als verflucht bezeichnet, denn sie ist kinderlos. Schon bald wird sie als Hexe bezeichnet und muss entweder vom Mundumugu, dem Medizinmann, geheilt oder erschlagen werden. Stets geht es um grundlegende Bedingungen des Lebens, also um Leben und Tod.

6) Megan Lindholm: Silberdame und der Mann um die Vierzig (Silver Lady and the Fortyish Man)

Die Silberdame ist Verkäuferin im Kaufhaus Sears. Die 35-jährige Exschriftstellerin verdient gerade mal vier Dollar die Stunde, und keineswegs Vollzeit. Das ist also zu wenig zum Leben und zu viel zum Sterben. Da fällt ihr ein Mann um die Vierzig auf, der einen Seidenschal kauft, den er gar nicht braucht. Aber er kommt wieder, und nennt sie „Silberdame“. Er hinterlässt ihr zwei Ohranhänger in Form einer eleganten Dame in Silber.

Beim dritten Mal lädt er sie ins mexikanische Restaurant ein, nennt sich Merlin, lässt sie aber sitzen, als er auf die Toilette geht. Immerhin: Sie bekommt drei Teebeutel von ihm, und ein Tee davon, „Verlorene Träume“, entführt sie ins Traumreich. Dort tritt sie als Silberdame auf und er erklärt ihr, dass ein Rivale ihn hinweggezaubert habe. Na, wer’s glaubt. Aber als sie am nächsten Tag die Kristallkugel, in der eingesperrt zu sein er behauptet hatte, durch ein Missgeschick zu Boden wirft, steht er gleich wieder neben ihr. Na, wenn das keine Magie ist!

Sie lässt sich zu ihm fahren, wo sie miteinander auf dem Boden schlafen. Schon wieder verschwindet er spurlos – nur um in ihrem Badezimmer aufzukreuzen. Schon wieder Magie? Sie glaubt nicht daran, aber sie geht gleich noch mal mit ihm ins Bett. Wer weiß, wann er wieder verschwindet …

Am nächsten Tag ist ihre Muse, die sie schmählich im Stich gelassen hatte, zurück und fordert sie neben der Schreibmaschine sitzend ungeduldig zum Schreiben auf. Vielleicht wird’s doch noch was mit der Schriftstellerkarriere.

Mein Eindruck

In der wunderbar witzig erzählten Story um die Frau ca. 35 und den Mann um 40 geht es natürlich um Singles, die es nicht in eine Ehe geschafft haben, aber nicht das Glück oder den Mumm haben, eine lukrative Stellung zu ergattern. Ziemlich gnadenlos beurteilt die Autorin die ein wenig traurige Lebenssituation ihrer Titelheldin, die kaum ihre Rechnungen bezahlen kann, nachdem ihre Muse sie im Stich gelassen hat.

Ist Merlin wirklich DER Obermagier, fragen wir uns. Natürlich nicht. Er behauptet, die Magie sei auch nicht mehr das, was sie mal war. Wie wahr – und dann lässt er die Dame sitzen. Aber vielleicht ist ja doch was dran an seinen Flunkereien. Die Autorin hält diesen Aspekt stets in der Schwebe, denn genau darum geht es ja: Vielleicht sieht die Magie heutzutage ganz anders aus als in den Fantasy- und Ritterepen von anno dunnemals.

Am Schluss hat unsere Lady etwas gewonnen, aber sie kann nicht benennen, was es ist. Ein Glaube, ein Lebensmut? Und wenn man schon von Magie spricht, so ist eine Muse auch nichts anderes als ein magisches Wesen. Und dieses existiert unleugbar. Wie der Text beweist.

7) Peter Frey: Abenddämmerung

Jarosch und seine Tochter Miriam wandern in den Wald, wo sie vor dem Ereignis zu wandern pflegten. Doch seitdem hat sich hier einiges geändert. Während die Vegetation so üppig gedeiht wie eh und jetzt, sind die Nacktschnecken auf Bananengröße angewachsen, die Steinpilze sind widerstandsfähig wie Hartgummi und in einer feuchten Kuhle leuchtet es schwefelgelb …

Mein Eindruck

Welches Ereignis das gewesen sein muss, kann man sich unschwer vorstellen: der Atom-GAU von Tschernobyl aus dem Jahr 1986. Die Wolke des radioaktiven Fallouts zog auch über weite Gebiete der Bundesrepublik hinweg. Die Isotopen reicherten sich in Pilzen und anderen Waldgewächsen an, so dass vor deren Verzehr öffentlich gewarnt wurde. Der Autor extrapoliert lediglich diese Folgen ein wenig und zeigt, welche unheimliche Zukunft auf die kleine Miriam warten könnte.

Die Übersetzung

Die Texte sind durchweg korrekt und gut lesbar übersetzt worden, doch wie so oft tauchen hie und da ulkige Druckfehler auf. So lesen wir auf Seite 7 von einer „Stürmbö“ und auf Seite 17 von einer „Dünnung“ (statt „Dünung“). Auf Seite 219 steht der seltsame, kurze Satz. „Er zielt inne.“ Erst wenn man das Z durch ein H ersetzt, erhält der Satz einen Sinn: „Er hielt inne.“

Unterm Strich

Drei bedeutende Novellen stehen in dieser 38. Auswahl teils herausfordernden, teils erheiternden Texten. Diese drei Novellen sind Effingers „Marîd lässt sich aufrüsten“, das später den Auftakt zu seinem Roman „Das Ende der Schwere“ bildete und einen Abgesang auf den Cyberpunk darstellt. Marîd ist zwar „verdrahtet“, doch er ist kein Rebell, sondern Handlanger eines Mafioso. Wo ist der „Neuromancer“, wenn man ihn braucht?

Der zweite zentrale Text ist für mich Resnicks „Die Manamouki“, das später ein wichtiges Kapitel seines noch unübersetzten Episodenromans „Kirinyaga“ (siehe meinen Bericht dazu) bildete. Hier versucht eine Kenianerin Teil der utopischen Gesellschaft auf Kirinyaga zu werden, aber ihr Ansinnen erweist sich als unmöglich umzusetzen – aber aus unerwarteten Gründen.

In der dritten Novelle entdeckt „Mr. Boy“, dass nicht nur seine Jugendlichkeit eine selbstbetrügerische Lüge ist, sondern dass seine Mutter, das fürsorgliche Monster, gute Gründe gehabt hat, ihn in seiner Jugend zu belassen. Mutter, dass ist Amerika und das eigentliche „Alien“, wie schon Lt. Ellen Ripley auf der „Nostromo“ erkennen musste.

Die Texte von Kim Stanley Robinson und Michael Kallenberger sind in ihrer Nichtlinearität und Komplexität Herausforderungen an den Leser, aber dennoch lohnenswert. Die einzige Fantasy-Story könnte Megan Lindholm alias Robin Hobb beigesteuert haben – falls es darin wirklich um Magie geht. Das muss jeder für sich selbst entscheiden.

Der letzte Text, obligatorischerweise von einem deutschsprachigen Autor/Autorin, warnt vor den Folgen der Super-GAUs in Tschernobyl: Der ach so urdeutsche Wald nimmt inzwischen unheimliche Erscheinungsformen an und wirkt wie von einem anderen Planeten. Die Idee ist zwar bieder, aber ökologisch engagiert – und handwerklich einwandfrei, ohne jedes Pathos ausgeführt.

Kurzum: Dieser Auswahlband lohnt sich für jeden Freund von hochwertiger Phantastik, insbesondere aber für Kenner des Genres. Neueinsteiger könnten mit Robinson und Kalllenberger ein wenig Mühe haben, aber besonders die Resnick-Story entschädigt sie dafür vollauf. Lindholm und Frey bieten hingegen leicht verständliche Kost.

Taschenbuch: 301 Seiten
Originaltitel: Asimov’s Science Fiction Magazine (1989-91)
Aus dem Englischen von diversen Übersetzern
ISBN-13: 978-3453053779

Heyne:http://www.heyne.de

Friedel Wahren als Herausgeber bei |Buchwurm.info|:
[„Tolkiens Erbe – Elfen, Trolle, Drachenkinder“]http://buchwurm.info/book/anzeigen.php?id__book=2893

Sterling, Bruce – Visionary in Residence. Erzählungen

Visionen der nahen Zukunft und der Vergangenheit

Die jüngste Erzählungssammlung des interessantesten amerikanischen SF-Autors der letzten 30 Jahre präsentiert 13 Beiträge. Bis auf zwei sind alle Storys für jeden deutschen Leser mit mittleren Englischkenntnissen leicht lesbar. Doch besagte zwei Storys haben es wirklich in sich.

– Die Story einer verbotenen Liebe
– Storys über Design und Architektur der nahen Zukunft
– Über das Ende der Welt und der Menschheit
– Über die Zukunft, die jetzt Vergangenheit ist: in Alt-Ägypten, in der Türkei und in Palästina
– Über die Zukunft des Schwarzen Kontinents
– Über die Zukunft des Silicon Valley
– Und vieles mehr.

Der Autor

Bruce Sterling, der Mitbegründer der Cyberpunk-Bewegung der achtziger Jahre, ist der Autor von neun Romanen, wovon er einen, „Die Differenz-Maschine“, zusammen mit William Gibson schrieb. Er veröffentlichte drei Storysammlungen (darunter „A Good Old-fashioned Future“) und zwei Sachbücher, darunter das bekannte „The Hacker Crackdown“ (1992) über die Verfolgung von Hackern und Crackern.

Er hat Artikel für die Magazine Wired, Newsweek, Fortune, Harper’s, Details und Whole Earth Review geschrieben. Den Hugo Gernsback Award für die beste Science-Fiction-Novelle gewann er gleich zweimal, u. a. für „Taklamakan“. Er lebt in der Universitäts- und Industriestadt Austin in Texas und hat schon mehrmals Deutschland besucht. Eine seine Storys spielt in Köln und Düsseldorf. Ich habe ihn 2007 persönlich in München bei einem Interview kennengelernt.

Die Erzählungen

1) In Paradise (2002)

Felix Hernandez, ein junger Klempner, sieht das Muslimmädchen das erste Mal an der Sicherheitsschleuse zum Gebäude, in dem er einen Auftrag erledigen soll. Während ihre zwei erwachsenen Begleiter – Vater und Onkel? – auf sie warten, fällt der Strom und ihr Akku streikt. Felix ist so nett, ihr den Akku seines eigenen Handys der gleichen Marke zu geben und erhält dafür ihren. Dabei merkt er sich nicht nur ihre Telefonnummer, sondern auch ihr wunderschönes Gesicht. Sein Herz ist entflammt.

Später ruft er sie wieder an und – oh Wunder der Technik – ihr finnisches Handy übersetzt seine poetische Liebeserklärung automatisch in Farsi, also die persische Sprache. So schöne Worte hat der 19-jährigen Perserin noch niemand gesagt, und sie ist bereit, mit ihm auszureißen. Zehn paradiesische Tage im Bett und am Handy folgen. Dann kommt die kalte Dusche, sozusagen die Schlange.

Ein Agent des Heimatschutzministeriums meint es gut mit Felix, doch seine zwei Begleiter vom iranischen Geheimdienst weniger. Enttäuscht darüber, dass das Mädchen nicht da ist, stellen sie Felix’ Wohnung auf den Kopf, bevor sie wieder abziehen. Der DHS-Agent macht Felix klar, dass das Mädchen, die Tochter eines Mullahs, sich illegal in den USA aufhält und alle Ausgänge und Transportwege sowie Kreditkarten überwacht werden. Der Agent schaltet sich später sogar in das Gespräch zwischen Felix und seiner Herzensdame ein – und schaltet per Fernsteuerung ihre Handys aus!

Nun ist guter Rat wahrlich teuer, doch wahre Liebe findet stets einen Weg, sogar in einer Republik der totalen Überwachung …

Mein Eindruck

Eine warnende und ironische Story über Liebe in Zeiten der totalen Überwachung. Wenn sogar die Handys per Fernsteuerung ausgeschaltet werden können (vom Abhören ganz zu schweigen), dann haben es Adam und Eva nicht leicht, der Schlange in ihrem Eden zu entkommen. Aber es geht – mit Hilfe primitiver Mittel, auf die die Agenten nie im Leben kommen würden.

Im Übrigen ist die automatische Sprachübersetzung im Handy durchaus eine Technik der nahen Zukunft, und die Fernabschaltung sowie Speicherlöschung lässt sich bereits heute bei vielen Smartphones und Handys realisieren.

2) Luciferase (2004)

Vinnie ist ein Leuchtkäferchen, das in der Nacht hell leuchtet. Jedenfalls solange es nicht gefressen wird, und diese Gefahr lauert überall. Da wäre beispielsweise sein alter Bekannter Peck, die Spinne. Peck ist hungrig, aber auch unglücklich. So ein einsamer Wolf hat’s eben nicht leicht bein den Frauen. Da ist der helle Vinnie schon besser dran: Die Frauen fliegen auf ihn! Nach ein paar Ratschlägen für Peck saust er weiter.

Auf einer Nesselblüte erspäht er eine kesse Braut, die ihn besonders hell anstrahlt. Zu spät erkennt er, dass es sich um eine Falle handelt. Sie ist eine Photuris, die auf das Fressen von Photinussen wie Vinnie spezialisiert ist. Zunächst balgen sie sich, doch dann herrscht Stillstand: Matt beide. Sie heißt Dolores und ist scharf ihn. Natürlich nur auf seine Fleisch. Aber er bringt ihr bei, dass es mehr gibt als nur fleischliche Gelüste, nämlich Kunst.

Als ein männlicher Photuris eintrifft, der von Dolores verlangt, sie solle Vinnie töten und ihm die Hälfte abgeben, weil er ja so toll ist, hat Vinnie ein ausgezeichnetes Ziel, um Dolores zu demonstrieren, was er meint. Dieser Geck ist ein Dampfplauderer – und gleich darauf ein Opfer von Peck, der Spinne …

Mein Eindruck

Man könnte die witzige Geschichte für eine Fabel halten, wenn sie bloß auch eine Moral hätte, Aber davon ist weit und breit nichts zu sehen. Vielmehr unterhalten sich die Tierchen so, als befänden sie sich in einer texanischen Bar (der Autor ist Texaner) über die Frauen, das Leben und den ganzen Rest. Das tun sie im typisch amerikanischen Umgangston. Vinnie behält die Oberhand, was uns richtig aufbaut – er ist ein authentischer Künstler, nicht wie die anderen Imitatoren und Epigonen. Möge ihm eine lange Nacht vergönnt sein!

Luciferase ist übrigens eine im Text vorkommende chemische Substanz, die der biologischen Lichterzeugung dient.

(3 kurze Stücke für die Zeitschrift NATURE)

3) Homo sapiens declared extinct (1999, „Menschen für ausgestorben erklärt“)

Im Jahr 2350 wird die Menschheit für ausgestorben erklärt – na und? Kein Grund sich aufzuregen, finden die posthumanen KIs und Entitäten, schon gar nicht die Blutbader in der Oort’schen Wolke, die seit jeher auf die „federlosen Zweibeiner“ herabgeschaut haben. Eine Grabrede wäre jedoch angebracht, findet die Poetware: „Sie waren sehr, sehr sonderbar und nicht sonderlich mit Weitsicht gesegnet.“

Mein Eindruck

Nicht gerade eine Story, aber wenigstens ein Nachruf auf die Menschheit. Allerdings erfahren wir nicht, was zum Aussterben des Menschen geführt hat.

4) Ivory Tower (2005, Elfenbeinturm)

Im Jahr 2050 stürzen sich die Net-Geeks auf das Gebiet der Quantenphysik – natürlich in ihrer typischen Manier. Erst googeln sie alles Wissen zusammen, speichern alles in Storage-Einheiten, tauschen sich in sozialen Netzwerken und Blogs aus. Schließlich errichten sie irgendwo in Rajastan, Indien, ihre eigene Forschungseinrichtung, einen Teilchenbeschleuniger. Ihre Programme sind Open-Source und kostenlos, ihre Hardware ist Abfall, ebenso wie die Technik, die sie für die Errichtung des Supercolliders nutzen. Ihr Essen ist ebenso recycelt wie ihre Möbel und alles andere.

Man sollte erwarten, dass eine derart auf Lösungen fixierte, geradezu mönchische Männergemeinschaft die Frauen abschrecken würde, aber weit gefehlt! Die Ladys finden die Sache cool und machen schon bald einen großen Teil der Kolonie aus – natürlich nicht unter den Physikern. Das war ja schon immer so. Und was nachts passiert, geht keinen was an.

Das Einzige, was man hier nicht haben will, sind Typen, die an der Atombombe forschen. Diese 100 Jahre alte Technik ist nun wirklich nicht cool.

Mein Eindruck

So ein moderner Elfenbeinturm ist auch nicht mehr das, was er mal war. Diesmal haben sich die Geeks die Hochtechnologie der Teilchenbeschleunigung vorgenommen, sozusagen den teuersten Bereich der Physik – siehe CERN bei Genf. Dass man solch eine Forschungseinrichtung auch ganz anders aufziehen kann als bisher, zeigen die modernen Geeks aus Kalifornien. Dass sie das erst 2050 tun sollen, ist das einzige Unwahrscheinliche an der Geschichte.

5) Message found in a bottle (2006)

Diese „Flaschenpost“ stammt aus dem Tank eines Warmwassersboilers aus einer Bibliothek in Schottland, gefunden unter dickem Eis. Geschrieben hat sie ein Klimawissenschaftler, der uns berichtet, dass er Wissenschaftsmagazine wie NATURE verbrannt hat, um heizen zu können. Denn über Europa ist durch den Treibhauseffekt nicht die Hitzewelle gekommen, sondern die Eiszeit.

Der Grund für die Eiszeit ist ebenso simpel wie tödlich: Die Wälder Russland und Brasiliens sind niedergebrannt und haben dabei Unmengen von Ruß und CO2 freigesetzt, so dass sich daraus eine dicke Wolkendecke ergab, die keinen Sonnenstrahl mehr durchlässt – ähnlich wie ein Nuklearer Winter. Deshalb gibt es in Schottland Eis, von Deutschland ganz zu schweigen. Der wärmende Golfstrom scheint völlig versiegt zu sein, wird aber nicht erwähnt.

Die geistige Verfassung der Überlebenden sieht jetzt offenbar so aus, dass der kleine Stamm, dem der Klimawissenschaftler angehört, inbrünstig zu Gott um Vergebung seiner Sünden betet. Ein bisschen spät, findet er. Denn die Sünden wurde ja schon weit in der Vergangenheit begangen, als man den Klimawandel noch hätte dämpfen können.

Mein Eindruck

Sterling ist ein Schelm: Er schrieb diesen Text für das Magazin NATURE und lässt doch den Urheber der Flaschenpost, Magazine wie NATURE verbrennen, um heizen zu können. Ein weiteres ungewöhnliches Merkmal dieses Textes ist die Theorie, dass uns der Klimawandel nicht die große Hitzewelle bringt, sondern die Eiszeit.

Diese Prophezeiung hat durchaus etwas für sich, wenn man die ungeheuren Rußmengen bedenkt, die das Abfackeln der Wälder des Amazonas, Indonesiens und der Taiga Russlands bedenken. Dieser Prozess hat bereits begonnen, wie im Sommer 2010 in Russland beobachtet werden konnte, als dort die Wälder brannten und über 1700 Kilometer hinweg den Himmel verdunkelten. Das gleiche Schicksal könnte das Amazonesbecken ereilen, das ja ebenfalls schon unter ein oder zwei Dürren hat leiden müssen – ungewöhnlich für eine so regenreiche Region.

Obwohl die „Flaschenpost“ mit 2,5 Seiten ziemlich kurz ist, bietet sie doch eine Menge Stoff zum Nachdenken.

6) The Growthing (2004)

Im Jahr 2045 steht irgendwo im ausgetrockneten West-Texas eine sehr sonderbare Anlage: Der einzige Ort weit und breit, wo sich Feuchtigkeit findet, denn sie wird von genetisch veränderten Bakterien im Treibhaus erzeugt, der Wind wird gefangen und die Feuchtigkeit im ganzen Wohngebäude verteilt. Die ganze blasenförmige Architektur erhebt sich über einem Brennstoffreservoir, dessen Hüter Milton ist, ein Architekt und Designer.

Heute ist der letzte Tag, an dem seine Tochter Gretel ihn besuchen darf, die sonst in New Jersey bei seiner geschiedenen Frau leben muss. Der Zeppelin holt sie ab, ohne zu landen. Aber wenig später taucht ein weiteres Mädchen auf, dem Gretel eine E-Mail geschickt hat. Dieses Mädchen gehört zu einem wandernden Stamm von Westtexanern, die Wasser suchen, und sie sucht das blasenförmige Gebäude Miltons. Hier will sie Schafe züchten. Milton ist nicht abgeneigt, den Stamm aufzunehmen.

Mein Eindruck

Die Zukunft von West-Texas, die der Texaner Sterling hier entwirft, ist wahrlich nicht wünschenswert: die unterirdischen Wasserläufe sind versiegt, ebenso das Erdöl (deshalb der Zeppelin), und deshalb muss es neue Wege geben, die geringen Ressourcen zu nutzen und neue zu erzeugen. Ganz nebenbei stellt er die Objekte seines Bekannten, des Öko-Architekten greg Lyn vor. Denn dieser Text wurde für das Architekturblatt „Metropolis“ geschrieben.

7) User-Centric (1999, „Benutzerorientiert“)

Das 21. Jahrhundert lässt eine bestimme US-Firma sich fragen, was sie mit der neuen MEMS-Technologie anfangen könne. MEMS sind heute besser als RFID-Funketiketten bekannt, also als Chips, die per Funk Daten liefern, empfangen und speichern können. Das siebenköpfige Designteam wird vom Chefkoordinator dazu angehalten, an den Nutzer zu denken: Welche Nutzung wäre welchem Nutzer am liebsten – und welche Vorteile könnte man daraus ziehen? Dazu muss man erstmal eine geschichte erfinden sowie zwei Nutzertypen – nennen wir sie Al und Zelda. Er ist etwa 34 und technikorientiert, sie ist über 65 und haushaltorientiert. Zusammen sind sie daran interessiert, alle ihre Besitztümer mit Funkchips zu versehen und zu überwachen.

Soweit, so schön, doch dann setzt der Autor den Entwurf in die fiktionale „Realität“ um. Al muss eine Maske aufsetzen, die ihn älter macht als seine Zelda. Sie hat zwar einen göttlichen und stark verjüngten Body, doch wer würde ihr den jungen Gatten abnehmen, wenn sie schon Enkelkinder hat? Er spielt den Sugardaddy, der sie aushält, aber nur mit Maske. Zusammen sorgen sie dafür, dass das Haus in Tiptop-Zustand ist und alles per Funkchips überwacht wird. Al verzweifelt, hat Albträume, doch Zelda tröstet ihn: Es gibt keine Happy-Ends, Lieber, es gibt nur Methoden, mit den Dingen fertigzuwerden.

Mein Eindruck

Das Brainstorming per E-Mail zeigt eine typische amerikanische Hitschmiede, komplett mit Marketing, Programmierer, Rechtsberater, Designerin, Grafikerin und sogar einer Sozialanthropologin. Doch der ganze Prozess führt lediglich zu einem Entwurf, dessen Absurdität und Inhumanität sich sofort anhand der fiktionalen Umsetzung zeigt. Das ist Satire in Reinkultur, ohne den belehrenden Zeigefinger zu heben. Die Botschaft ist deutlich: Wer im Elfenbein entwirft, braucht sich nicht zu wundern, wenn Müll herauskommt, den niemand kaufen will, ja, der sogar antihuman ist.

8) Code (2001)

Die Gegenwart, Austin, Texas. Louis, der Hauptprogrammierer der Softwarefirma Vintelix, hat den Löffel abgegeben: Herzinfarkt. Kein Wunder bei 150 Kilo Lebendgewicht, denkt sich Van, sein wichtigster Stellvertreter. Was soll er jetzt bloß mit der Leiche machen? Da tritt das Mädchen vom Empfang ein, Julie, sie denkt praktischer: Er soll die Cops rufen. Ach ja, und den Vorstandsvorsitzenden (CEO) informieren. Aber vorher durchsuchen sie noch Louis’ massiven Schreibtisch: Bingo – Tabletten von LSD, vulgo: Acid. Sie teilen sich die 400 Trips.

Der CEO gibt ihnen frei, aufgrund besonderer psychischer Belastung. So können sie sich per Webcam und Telefon unterhalten. Julia ist wagemutig. Wie viele Trips soll sie einwerfen – vier oder fünf? Van ist eher vorsichtig und vernünftig: einer dürfte erstmal reichen. Und tatsächlich: Schon bald schüttet ihm Julia ihr Herz aus. Und wie romantisch sie ist! Liest und empfiehlt Liebesratgeber. Sie wird richtig aufgedreht. Dann muss er ins Fitness-Studio. Als er zurückkehrt, steht sie vor seiner Tür. Klar darf sie mir reinkommen. Aber sie schlafen nicht miteinander. Noch nicht.

Am nächsten Tag befördert der CEO Van zum Chefprogrammierer, was zwar mehr Aktienoptionen einbringt und einen neuen, wertlosen Titel, aber auch mehr Arbeitsbelastung. Und der Code, den Louis hinterlassen, ist ein Tohuwabohu – sein Baby. Und keiner blickt da durch. Alles auslagern, nimmt sich Van vor, bevor ihm die zwei bestellten Ehe-Ratgeber geliefert werden. „The Code“ – wertloser Schmonzes, doch „The Rules“ ist bitter und grimmig, eine wahre Gebrauchsanleitung zur Selbstbehauptung der geplagten, unterdrückten Frau gegen das brutale Regime des Mannes.

Genau das Richtige, um ein neues Betriebssystem zu schreiben und Julia zu seiner wichtigsten Mitarbeiterin zu machen, auch privat.

Mein Eindruck

Die Story könnte direkt aus einem Kapitel von Douglas Couplands Klassiker „Mikrosklaven“ stammen, so exakt werden die Arbeitsverhältnisse in der Softwarefirma beschrieben. Aber dann kommt der praktische Sterling-Touch hinzu: Wie sich menschliche Beziehungen nutzbringend mit der Arbeit verbinden lassen. Arbeit und Liebe müssen einander nicht ausschließen, ganz im Gegenteil.

(Kollaborationen)

9) The Scab’s Progress (mit Paul Di Filippo, 2001)

Nach dem Zusammenbruch der planetaren Ökosphäre und der Ölindustrie mussten die Überlebenden andere Technologien finden, um erstens Ernährung sicherzustellen und zweitens Informationstechnik. In der Verbindung aus beiden Anstrengungen entstand die fortgeschrittenste Biotechnologie, die man sich vorstellen kann.

Natürlich haben auch die Halb- und Unterwelt sowie die semilegalen Selbständigen ihren Anteil an der „Immunosance“, wie die Gesamtheit aller Bio- und Gentechniker jetzt genannt wird. Fearon und Malvern sind zwei solche halblegale „Scabs“, und als Malvern an Fearons Tür klopft, herrscht Alarmstufe Rot: In dem Slum Liberty City am Rande von Miami ist ein Biotechlabor explodiert, das ihren Kunden gehörte. Sie müssen schnell hin, um zu retten, was noch zu retten ist, bevor die Cops und Behörden Asche daraus fabrizieren, um eine Kontamination der Umgebung zu verhindern.

Wie sich schnell zeigt, ist das interessanteste Objekt bei Mixogen die Chefin. Ihr Gehirn ist, wie man an dem angeschwollenen Schädel erkennen kann, genetisch aufgemöbelt worden. Sie entnehmen dem Gehirn eine Gewebeprobe und verduften, denn schon ist der erste Cop-Späher eingetroffen. Leider ist Fearons Labor nicht in der Lage, aus der Gehirn-DANN einen Sinn herauszulesen. Deshalb schlägt Malvern, den alten Kemp Kingseed zu konsultieren. Er lebt in einer aufgelassenen Erdölraffinerie, bewacht von seiner Riesenspinne Shelon (aus „Herr der Ringe“).

Kemp Kingseed erinnert die beiden Möchtegern-Genies an jene heroischen Zeiten, als Linux, Napster und Freenet erfunden wurden – lang ists her. Aber Kemp kann die Botschaft aus der Hirn-DANN der Mixogen-Chefin lesen, mit Hilfe eines entsprechenden Raben. Demzufolge wurde die wertvollste DNA des Planeten, nämlich die der letzten Wildtiere des im Chaos untergegangenen Kontinents Afrika, in einem geheimnisvollen Gebilde namens Panspecific Mycoblastula. Sie müsse sich in Sierra Leone befinden.

Weil Fearon die Datenverbindung zu seinem gentechnisch aufgemotzten Hausschwein Weeble offengelassen hat, konnte jedoch sein härtester Konkurrent, Ribo Zombie, alles, was der Rabe sprach, mithören. Mist! Wegen Fearons Blödheit könnte ihnen der Rivale den DNS-Schatz vor der Nase wegschnappen. Kemp, der alte Kämpe, beruhigt die beiden junge Biotechkämpfer: Sein Mann vor Ort erwartet sie bereits und werde ihnen helfen.

Fearon und Malvern machen sich auf in ein Wettrennen um einen Schatz, der in einer der unzivilisiertesten Gegenden des Planeten liegt: im Herzen der Finsternis, wo unbekannte Gefahren lauern …

Mein Eindruck

Die turbulente Novelle spielt in einer radikal veränderten Welt, die vielleicht aber nur 30 oder 40 Jahre entfernt liegt und beängstigende Umwälzungen ahnen lässt. Der Treibhauseffekt hat voll zugeschlagen, die Ölindustrie ist nur noch Erinnerung, dafür hat die Biotechnologie die Informationstechnik abgelöst. Vor diesem Hintergrund rackern sich unsere zwei wackeren Helden redlich ab, um sich über Wasser zu halten – obwohl: Fearon hat mit seiner Frau Tupper, einer reichen Erbin, wirklich das große Los gezogen.

Und dennoch will er alles aufs Spiel setzen? Auf der Jagd nach etwas, was der Leser nur als eine Art MacGuffin bezeichnen kann, begegnet Fearon nicht nur Fossilien wie Kemp Kingseed und dessen afrikanischem Klon Herbie Zoster, sondern, viel schlimmer, einem Despoten, der alle Albträume von afrikanischen Tyrannen in sich vereint: menschliche DNS ist kaum noch vorhanden, sondern dominiert von Ameisen-Erbgut, ebenso wie bei seinen Untergebenen. Denn wenn eine Spezies das aufgegebene Afrika erobert hat, dann ist es die Ameise. (Diese Idee erinnert an gewisse postviktorianische „Tarzan“-Abenteuer.)

Diese Welt ist post-human, aber auch post-natürlich – komplett überarbeitet von Biotechnologie, die aus dem Ruder gelaufen ist. Die einzigen, die damit noch gut zu Rande kommen werden, sind die Kinder von Fearon und Tupper. (Siehe dazu auch die schöne Geschichte über die Nekropole von Theben.) Ach ja – Ribo Zombie! Er hat seinen großen medienwirksamen Auftritt. Mehr darf darüber nicht verraten werden.

10) Junk DNA (mit Rudy Rucker, 2003)

Silicon Valley ist auch nicht mehr das, was es mal war: das Tal der vergoldeten Träume eines digitalen Goldrauschs. Selbst Leute mit Ideen müssen sich jetzt als sterbliche Angestellte ausbeuten lassen, klagt Janna Gutierrez, die informationelle Gentechnik studiert hat. Sogar ihr Dad muss sich in der Wetware-Industrie abrackern. Der einzige Freund, den Janna abzubekommen schien, war ein Koreaner – jedenfalls solange, bis dessen Mutter eine nordkoreanische Erbin als Braut anschleppte. Die Zukunft sieht trübe aus.

Da schneit Veruschka Zipkin aus St. Petersburg in Jannas Firma herein. Obwohl Veruschkas Angebot eines gemeinsamen Gentechnikprojekts abgelehnt wird, tut sie sich doch mit ihrer neuen Freundin Janna zusammen, um eine neue Firma aufzuziehen. Veruschka zieht bei Janna und ihrem Dad ein, und als sie entdecken, dass Dad eine halbe Million Dollar für seine Rente zurückgelegt hat, dauert nicht sehr lange, bis sie den Start einer eigenen Firma finanzieren können. Alle drei sind gleichberechtigte Teilhaber.

Veros Idee besteht in folgendem: Sie kann eine formbare Biomasse mit menschlicher DNS und dem patentierten Universellen Ribosom imprägnieren und auf diese Weise süße kleine Wonneproppen erschaffen, die beliebige Eigenschaften haben können. Mit Dads Hilfe lassen sich die „Pumptis“ färben und verformen, wie es dem Benutzer gefällt. „Tamagotchis“ und „Pokémons“ sind Hühnerdreck dagegen! Das beste ist jedoch, dass die benutzte menschliche Erbsubstanz nicht diejenige ist, die einen Menschen formen – das wäre ja illegal und unmoralisch – sondern aus den unterdrückten und ungenutzten Stücken des Erbguts besteht, wie der homo sapiens sie aus seiner Evolution übrigbehalten hat: Junk-DNS. Wie sich zeigt, wird diese Art der Neuschöpfung von den Behörden genehmigt.

Nach einem vielversprechenden Start durch Straßenverkauf, Mundpropaganda und virales Marketing kommt es allerdings zu fatalen Geschäftsfehlern: Die Qualität stimmt nicht, Betrüger und Raubkopierer schnappen sich die Ideen und Profite, schon bald steht die kleine Firma Magic Pumpkins vor dem Aus. Doch wer könnte ihnen aus der Patsche helfen, wenn sich kein Risikokapitalgeber dazu bereitfindet? Die Antwort besteht in Ctenephore Industries. Janna und Vero müssen sich verkaufen – und werden nach allen Regeln der Kunst über den Tisch gezogen. Ihnen bleibt die Aussicht auf ein Angestelltengehalt mit einem nichtssagenden Titel.

Haben sie das verdient, fragen sie sich. Niemals! Dieses Unrecht schreit nach RACHE. Und Veruschkas, stets die praktische und unverwüstliche des Dynamischen Duos, hat die Lösung: Gentherapie für die beiden Feinde, Revel Pullen und Tug Mesoglea. Und nach ein paar Wochen der Rekonvaleszenz ihrer Firma – die Pumptis können auch digitale Daten empfangen, senden und verarbeiten – ist der Moment der Vergeltung gekommen. Die Wirkung ist jedoch nicht ganz die erwartete. Junk-DNS folgt eben ihren eigenen Gestzmäßigkeiten …

Mein Eindruck

Keine Angst, dieses Märchen geht wie alle Märchen gut aus, nur eben nicht auf die erwartete Weise. Denn es ist ein Silicon-Valley-Märchen, in dem Valley-Träume auf eine Russin treffen, die Erfahrung mit der russischen Mafia hat. In Russlands Genetiker-Schwarzmarkt werden die Dinge etwas anders gehandhabt als im Goldenen Westen.

Die Novelle weiß den entsprechend beschlagenen Leser, der sich mit Biotechnologie, Genetik, Mathematik und Software auskennt, mit etlichen witzigen Einfällen zu erfreuen. Dazu gehört die Idee mit der Junk-DNS, dem Universellen Ribosom und den süßen kleinen Pumptis. Der Schauplatz San Francisco ist mir bestens vertraut: Wer es hier nicht schafft, um den neuesten technischen Schnickschnack zu erschaffen, der wird es weder an der Ostküste noch in Hongkong schaffen – das sind die Orte, auf die es heutzutage ankommt. (Von Europa ist kaum die Rede, außer eben als Veruschkas Herkunft.)

Richtig bizarr sind die Ideen, die den beiden Inhabern von Ctenophore einfallen. Der eine, Pullen, will eine Hochsicherheitszone für das bürgerliche Zuhause verwirklichen; der andere will berührungsempfindliche Geldnoten entwickeln, die von ihren Benutzern DNS-Proben nehmen – wunderbar in der Verbrechens- und Terrorismusbekämpfung, oder? Zu blöd, dass heute kaum noch mit Geldscheinen bezahlt wird.

Der groteske Höhepunkt der Entwicklung, dem Janna mit Grausen entgegensieht, besteht in der Gentherapie für Tug und Revel, die beiden vermeintlichen Feinde. Hier zeigt die Junk-DNS, was sie wirklich draufhat. Mehr darf hier nicht verraten werden, um nicht das Vergnügen zu schmälern. Rudy Rucker, von Haus aus Mathematiker, lässt aber auch die Sau raus, und das gibt der Story eine unverwechselbare Note. Ich habe sie mit großem Spaß gelesen.

(Historische Fiction)

11) The Necropolis of Thebes (2003)

Am Westufer des Nils liegt die Totenstadt von Theben, und der alte Shabti-Figurenschnitzer Apepi fährt mit einem Streitwagen zum Pharaonengrab, um es wie stets seines Metalls zu berauben. Denn Apepi ist zum Steuereintreiber der Eroberer, der Hyksos, ernannt worden und muss sein Soll erfüllen. Da sein Volk aber schon längst bis zum letzten ausgequetscht ist, muss er nun auch die Toten berauben.

Das Gold ist längst fort, ebenso das Silber, aber die Shabti-Figuren wird er niemals anrühren. Nicht nur, weil sonst der Pharao niemanden hat, der ihm Jenseits dient, sondern weil die Hyksos für die ägyptischen Totenriten nur Verachtung übrig haben. Und eines Tages wird Apepis Sohn eine Shabti-Figur schnitzen, die einen Wagen und seinen Lenker zeigt und dann …

Mein Eindruck

Die Erzählung ist ein Beispiel dafür, wie der Zukunftsschock den Historiker getroffen hat, sagt der Autor in seiner Anmerkung. Die historische Erzählung zeigt nicht nur dies, sondern den Weg, wie man den Zukunftschock, den die Hyksos bedeuteten, durch eine neue Generation Kinder überwindet: Sie kennen nichts anderes. Und sie werden die neue Technologie der Eroberer dereinst gegen sie verwenden (und so geschah es auch).

12) The Blemmye’s Stratagem (2005)

Im Heiligen Land ist Jerusalem gefallen, und Saladins Krieger jagen die Kreuzritter, bis diese sich nur noch in ihren Festungen verkriechen können. Der Oberste der Assassinen, der Alte vom Berge, trägt seinen Teil dazu bei, die Christen zu verjagen, die fast 90 Jahre lang Palästina besetzten. Deshalb ist es umso bemerkenswerter, dass seine engste Vertraute eine Christin ist, die Äbtissin Hildegart. Sie ist nicht nur das Oberhaupt des Ordens der Hospitaller (nicht der Templer), sondern auch eine Kauffrau, die Investitionen von Sevilla bis Sumatra ihr Eigen nennt. Mit Zahlen kann sie viel besser umgehen als Sinan, der Assassine, doch der bessere Poet ist sicherlich er.

Beide stehen in Diensten jenes seltsamen Diplomaten und Kaufmanns, der ihnen vor vielen Jahrzehnten den Trank des langen Lebens zuteilwerden ließ: der Blemmye. Gerüchte besagen, dieses Wesen komme aus dem afrikanischen Königreich von Prester John. Es trägt keinen Kopf, sondern sein Gesicht im Oberkörper, mit Augen, Nase und Mund. Da es nicht sprechen kann, schreibt es alle Botschaften auf, und Hildegart ist die beste Leserin dieses Gekritzels. Mit seinen ausgedehnten Handelsniederlassungen verständigt sich der Blemmye per Brieftaube, genau wie es seine Diener Hildegart und Sinan tun.

Das Ende des Alien

Er hat sie zu sich gerufen, denn sein Ende sei gekommen, schreibt er. Was seine zwei Diener verstört, ist der Befehl, die Pferde zu töten – sie hätten dann kein Mittel mehr, aus der Wüstenei am Toten Meer, wo der Blemmye seine Oase geschaffen hat, wegzukommen. Doch das Rätsel wird gelöst, als er ihnen offenbaren will, was ihn all die Jahre hier gehalten hat: seine Geliebte von den Sternen und ihre Brut. Sie hat das Zeitliche gesegnet, doch ihre Brut vermehrt sich – unter anderem durch Futter in Form von Pferdefleisch. Hildegart traut sich nicht ins Innere der Bruthöhle, doch Sinan beschreibt es als eine Art Hölle, voller Skelette und Dämonen. Dämonen mit Panzern, scharfen Zangen und giftigen Schwänzen. Nach dieser Enthüllung seiner außerirdischen Herkunft begibt sich der Blemmye in die giftigen Wasser des Toten Meeres zum leeren Panzer seiner Geliebten.

Aber Hildegart hat ein gefährliches Problem erkannt: Die Dämonenbrut werde sich über die Erde verbreiten, sollte man ihr nicht Einhalt gebieten. Sinan ist ganz ihrer Meinung. Er kennt die alte Sage vom König, der zuließ, dass ein Schachbrett mit einer sich verdoppelnden Menge von Reiskörnern bedeckt wurde. Für das letzte Feld des Bretts wurde das ganze Königreich geplündert. Eine letzte Schlacht soll die Dämonenbrut vernichten. Doch wer wird sich bereitfinden, solch einen Kampf zu wagen? Eigentlich bloß die verzweifelten Glücksritter unter den Kreuzfahrern, oder? Aber Sinan hat einen Trumpf im Ärmel …

Mein Eindruck

Auf gänzlich unerwartete Weise behandelt der Autor in dieser Novelle das Problem des Fremden und des Fremdlings. Im Heiligen Land treffen die unterschiedlichsten Völkerschaften aus Okzident und Orient aufeinander, ohne einander zu verstehen. Und doch gibt es abseits der Schlachten und Gemetzel eine funktionierende Infrastruktur für die Telekommunikation: Brieftauben. Sie gehören dem Blemmye und seinen zwei Dienern. Sie ermöglichen Handel und Reichtum trotz des Krieges. Und dabei stört es gar nicht, dass der Blemmye ein Außerirdischer ist. Er kann sich immerhin wie ein Mensch verständigen.

All dies ändert sich mit dem Ende des Aliens. Der Handel bricht zusammen, die Investitionen lösen sich in Luft auf, die Ernten werden vernichtet und so weiter. Offenbar hat er geahnt, was der Welt fehlt. Kein Wunder, denn er ist selbst vor einem Krieg mit einer Alienrasse zur Erde geflohen, und seine Geliebte gehörte eben dieser Rasse an, quasi wie Romeo und Julia. Doch ihre Dämonenbrut, die eine Metapher für den fehlenden Frieden darstellt, droht nun die Welt zu verschlingen. Es liegt nahe, dass die Sachwalter des Blemmyes die Aufgabe ihrer Vernichtung übernehmen, damit der Erde wenigstens die Heimsuchung der gefräßigen Aliens erspart bleibt.

Die Erzählung ist leicht zu lesen, aber es lohnt sich, die Geschichte des Heiligen Landes und der Kreuzzüge wenigstens rudimentär zu kennen, um die zahlreichen Namen zuordnen zu können. Erstaunlich, welche detaillierte Sachkenntnis der Autor an den Tag legt, der doch früher für abegfahrene SF-Ideen bekannt war. Die Story unterhält selbst den SF-Freund und ist spannend bis zum Schluss.

13) The Denial (2005, „Die Leugnung“)

Die Türkei im 15. oder 16. Jahrhundert, nur wenige Jahrzehnte nach der Eroberung Konstantinopels. In Yusufs kleiner Stadt leben Muslime neben Juden, Katholiken und orthodoxen Christen friedlich zusammen. Nur die Gnostiker, christliche Ketzer, wurden in die Berge getrieben und fristen ein kümmerliches Dasein.

Als eine große Flut das Dorf überschwemmt, gelingt es Yusuf, den Fassmacher, seine Kinder auf den höhergelegenen Grund von Onkel Mehmets Hütte zu bringen und so zu retten. Doch seine Frau hat ihm den Gehorsam versagt und wurde von den Fluten mitgerissen. Er findet sie danach im Uferschlamm und bringt sie zurück ins Dorf. Dort schlägt sie plötzlich Augen auf und ist wieder quicklebendig. Sofort macht sie sich an den Wiederaufbau des Hauses und seines Unternehmens.

Doch Yusuf wird trotz des erneuten Aufschwungs immer unglücklicher. Diese Frau ist offensichtlich nicht seine Frau, denn die erste Frau war eine zeternde Furie, diese aber ist sanft und lieb wie ein Lämmchen. Diese Frau hier muss eine Wiedergängerin sein. Was ist zu tun? Nur der jüdische Rabbi weiß Rat: Yusuf soll die Gnostiker in den fernen Hügeln aufsuchen. Sie sind die einzigen, die sich mit Geistern auskennen.

Nachdem ihm der Pastor der Bogomil-Familie erklärt hat, wie der gnostische Glaube aussieht, rät er ihm, seiner Frau einen Pflock durchs Herz zu treiben. Das lehnt Yusuf kategorisch ab. Der Pastor erklärt, wie es sich mit der Trennung von Körper und Seele verhält und gibt ihm einen Talisman: eine hölzerne Handfessel.

Nach seiner Rückkehr führt Yusuf seine Frau auf den Gottesacker, der einzige Ort, wie sie ungestört sind. Er legt ihr die Fessel an, die sie wie verbrannt wieder abstreift – ein gutes Zeichen. Aber er legt sie sich aus Trotz ebenfalls an: keine gute Erfahrung. Denn nun schwant ihm, was er längst hätte erkennen müssen und was ihm seine tote Frau nun wütend unter die Nase reibt: Er ist nämlich in jener Flut ebenfalls gestorben. Tja, und wie kommen sie aus diesem Schlamassel wieder raus?

Mein Eindruck

Ist dies eine Geistergeschichte, fragt man sich. Möglicherweise, denn um Magie geht es ebenfalls. Aber die Wahrheit liegt tiefer: Das eigentliche Thema ist nämlich die Entfremdung von einer Unperson, die man nicht als sich selbst zugehörig wahrnimmt. Diese Entfremdung kann in tödlichen Hass umschlagen, wenn die richtigen Faktoren und Mittel hinzukommen. Aber hätte Yusuf einmal sein Herz erforscht, dann hätte er den Splitter im eigenen Auge erkannt – dass er genauso ist wie seine Frau.

Unterm Strich

Diese Erzählungssammlung des bekannten Autors und Beraters umfasst eine große Vielfalt von Themen und Stilen, aber die verschiedenen Sektionen sind folgerichtig aufgebaut. Von „Science Fiction“ geht die Fahrt zu „Fiction about Science“ und „Fiction for Scientists“. Danach widmet sich Sterling seinen Interessensgebieten, insbesondere Architektur und Design.

Nach einer Verschnaufpause im Mainstream dreht er jedoch voll auf: „Cyberfunk to Ribofunk“ heißt die Überschrift für seine zwei großen Kollaborationen mit den Kollegen Paul Di Filippo und Rudy Rucker. Diese zwei Storys sind sowohl in der Sprache als auch hinsichtlich ihres geistigen Hintergrunds höchst anspruchsvoll für den deutschen Leser.

Lediglich ihr Plot und ihre Aussage könnte simpler nicht sein. „The Scab’s Progress“ schildert eine Expedition in ein zukünftiges Afrika, und „Junk DNA“ ist ein Märchen über die biotechnische Zukunft des Silicon Valley, das bis dahin schon seine besten Tage gesehen hat. Auch wenn dies die beiden sprachlich anspruchsvollsten Texte der Sammlung sind, so haben sie mir doch am meisten Spaß gemacht: das Vergnügen des Intellektuellen an abgefahrenen Ideen.

Die letzte Sektion trägt den Titel „The Past Is a Future That Already Happened“. Hier finden sich also Erzählungen über die Vergangenheit. Neben der Geschichte über Apepi und Yusuf beeindruckte mich besonders die Novelle über die Kreuzfahrerzeit, in der ein Alien eine offenbar segensreiche Role spielt. Die Aussage lautet mehr oder weniger, dass richtig organisierte Kommunikation für ein gewisses Maß an Frieden sorgt. Ganz gleich, ob diese Kommunikation von einem unabhängigen Fremdwesen oder von einem parteiischen Menschen organisiert wird.

Unterm Strich liefert die Collection dem SF-Interessierten und dem, der neugierig auf neue Ideen ist, einen bunten Strauß von meist gelungenen Erzählungen, in denen Unterhaltung, Einfallsreichtum und vor allem Humor und Menschlichkeit (sogar bei Leuchtkäferchen) spannend und anrührend präsentiert werden. Obwohl der Preis mit 16 US-Dollar ziemlich hoch ist, so habe ich doch den Kauf zu keiner Zeit bereut.

Der Autor vergibt: (4.5/5) Ihr vergebt: SchrecklichNa jaGeht soGutSuper (No Ratings Yet)

Taschenbuch: 294 Seiten
Originaltitel: Visionary in Residence
ISBN-13: 978-1560258414

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Cory Doctorow – Backup. SF-Roman

Mord und Absturz in Disney World

Vor seiner Ermordung hätte sich der Komponist und Designer Julius nicht träumen lassen, wie wichtig ein zeitnahes Backup der eigenen Erinnerungen ist. Aber da dies schon sein vierter Tod ist, hat er allmählich eine Vorstellung davon, wie wichtig eine Sicherungskopie ist. Daher ist er wenige Tage später schon wieder in einem neuen Klonkörper einsatzbereit. Seine Freunde Dan und Lily helfen ihm, den Verantwortlichen ausfindig zu machen und zur Rechenschaft zu ziehen.
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