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Dickens, Charles / Wakonigg, Daniela – Treibjagd

_Ein beinahe gelungener Versicherungsbetrug_

Die folgende Geschichte wurde von einigen historischen Kriminalfällen inspiriert. – Im Versicherungsbüro von Mr. Sampson erscheint der schwarz gekleidete, geheimnisvolle Mr. Julius Slinkton. Er will eine Lebensversicherung für einen Bekannten abschließen. Doch Sampson misstraut seinem scheinheiligen Klienten. Zu Recht, wie sich herausstellt, denn Slinktons Vergangenheit ist alles andere als lupenrein. Und wie es aussieht, plant er bereits die nächsten Verbrechen. Sampson beschließt, dies zu verhindern, denn schließlich geht es um das Leben einer jungen Frau.

_Der Autor_

Charles Dickens, geboren 1812 bei Portsmouth, ist einer der wichtigsten Schriftsteller des viktorianischen Englands. 1824 wurde Charles‘ Vater wegen Schulden eingebuchtet, und seine Mutter und ihre acht Kinder mussten sehen, wie sie zu Brot kamen. Mit zwölf Jahren erfährt Charles in der Fabrik alles Elend, das Ausbeutung durch Arbeit bereithält (nachzulesen in „Hard Times“ und anderen Romanen).

Erst drei Jahre später kann Charles eine Schule in London besuchen. Er arbeitet tagsüber als Schreiber für eine Anwaltskanzlei und lernt nachts. Seine Studien zahlen sich aus. Er erhält eine Chance als Zeitungsreporter und wird Parlamentsberichterstatter. 1833 beginnt er, eigene Geschichten zu veröffentlichen, und legt sich das Pseudonym „Boz“ zu.

Dickens‘ Durchbruch erfolgt 1837 mit den humoristischen „Pickwick Papers“, die ihn auf einen Schlag berühmt machen. Er heiratet die Tochter seines Verlegers Catherine Hogarth und arbeitet als Schriftsteller. In den folgenden Jahren schreibt er zahlreiche, mitunter recht umfangreiche Romane und etliche Erzählungen, ruft ein wöchentliches Literaturmagazin ins Leben, für das er als Verleger und Autor arbeitet, gründet ein Amateurtheater, in dem er selbst auftritt, und unternimmt ausgedehnte Reisen in Europa und nach Amerika.

1858 trennt er sich von seiner Frau, mit der er zehn Kinder hat, und beginnt eine Beziehung mit der Schauspielerin Ellen Ternan. Er stirbt am 9. Juni 1870 in Gadshill bei Rochster an den Folgen eines Schlaganfalls.

_Die Inszenierung_

Bodo Primus liest die ungekürzte und mit Geräuschen und Musik angereicherte Textfassung.

Regie führte die Übersetzerin Daniela Wakonigg, die Tontechnik und Musikeinspielungen steuerte Peter Harrsch.

_Handlung_

Der ehemalige Versicherungsdirektor Sampson ist im Ruhestand und sinniert über die Fähigkeit des Menschen, einen anderen nach dessen Gesicht und Äußerem zu beurteilen. Auch er hat sich täuschen lassen, obwohl sein erster Eindruck zutreffend war. Man nehme nur mal den Fall Julius Slinkton …

Dieser Mann taucht eines Tages in den Besuchsräumen der Versicherung auf, die Sampson leitet. Sampson kann die Besucher, die Mr. Adams bedient, durch eine Glasscheibe beobachten. Slinkton holt zwei Formulare ab und geht wieder. Sofort fasst Sampson eine instinktive Abneigung gegen den Mann, den Grund kann er nicht sagen, denn Slinkton ist eine elegante Erscheinung, nur der Mittelscheitel ist etwas seltsam.

Zwei Wochen später sieht Sampson ihn wieder, auf einem Abendempfang. Slinkton schleimt sich bei allen möglichen Leuten ein, hat Sampson den Eindruck. Von sich aus bringt Slinkton die Rede auf Mr. Melton, einen Versicherungsstatistiker, der nach dem Verlust seiner Verlobten in Depression verfiel und den Dienst quittierte. Slinkton schluchzt und seufzt zum Steinerweichen, während er berichtet, er habe seine Nichte kürzlich verloren und sorge sich um deren Schwester Margaret Nylah. Sofort bereut Sampson sein Misstrauen und redet sich ein, an Slinkton sei nichts Verdächtiges. Erkundigungen ergeben, dass Slinkton mal Priester werden wollte, bevor er seine Nichte verlor.

In den folgenden Tagen besucht ihn Slinkton in seinem Büro. Eine Freund namens Alfred Beckwith habe doch eine Lebensversicherung über 2000 Pfund beantragt, oder? Mr. Adams bringt den Antrag. Als Leumundszeuge soll Slinkton den Antrag ergänzen. Alles Weitere hat ebenfalls seine Richtigkeit, so dass die Lebensversicherung abgeschlossen und von Sampson genehmigt wird.

Erst im Oktober sieht er Slinkton er wieder, an dessen Seite auch die reizende, aber trauernde Margaret Nylah. Sie fühle sich von einem älteren Gentleman verfolgt. Als ein Rollstuhlfahrer auftaucht und Mr. Slinkton gerade im Meer badet, rät ihr Sampson dringend, sie solle um ihrer eigenen Sicherheit willen dem Rollstuhlfahrer folgen. Das sei Major Banks von der East India Company und der werde sie ebenso wie Sampson vor Slinkton beschützen. Gesagt, getan.

Erst als Sampson Mitte November die Wohnung des bislang unsichtbaren Mr. Alfred Beckwith aufsucht, klären sich die Rätsel um Slinkton, Melton und Miss Nylah auf. Ein echter Showdown – mit tödlichem Ausgang.

_Mein Eindruck_

Diese Kriminalerzählung ist – für heutige Verhältnisse – sehr ungewöhnlich erzählt. Sicher, Agatha Christie mag sich noch an diesem Stil erfreut haben, und auch bei ihr wird erst am Schluss in einer großen Gegenüberstellung alles geklärt (auch noch bei Detektiv Nero Wolfe). Aber zunächst ist die Story vor allem eine Wiedergabe von genauen Beobachtungen, wie sie eines Poes würdig gewesen wären. Leider haben sich aber auch Dickensianische Manierismen eingeschlichen. Dass der Schurke ausgerechnet „Slinkton“ heißen soll – von engl. „to slink = schleichen, sich wohin stehlen“ – wirkt schon wie ein ziemlich großer Zaunpfahl, mit dem der Autor hier winkt: „Achtung, Schurke!“

Außerdem tritt im Showdown-Finale eine weitere Hauptperson auf – ziemlich spät, um das Mindeste zu sagen. Es ist der ominöse Mr. Melton, so viel darf wohl verraten werden, und Slinkton will ihn als Mr. Alfred Beckwith für den Betrug von Mr. Sampsons Versicherungs nutzen. Das findet Mr. Sampson seinerseits ziemlich uncool und hat nicht übel Lust, Mr. Slinkton den Hals umzudrehen. Doch dessen Schicksal wird von anderer Seite besiegelt. Nur auf dieser Schiene wird der Titel „Treibjagd“ erklärlich.

Die Romantik darf in einem Dickens-Text natürlich nicht fehlen, schließlich sollen auch Frauen angesprochen werden. Menschliche Rührung ist bei Dickens immer willkommen und angestrebt, und das finde ich an ihm so unerträglich (bis auf „A Tale of Two Cities“, ein echter Knaller). In dem vorliegenden Text sorgt Miss Margaret Nylah als offenbar verwaiste und dem Tod näher als dem Leben stehende junge Frau für das nötige Element von Rührung und Liebe.

Allerdings ist es jene Szene, in der sie zuerst auftritt, diejenige, die dem Hörer bzw. Leser das größte Rätsel aufgibt. Wie gesagt, verlässt Miss Nylah auf Drängen von Mr. Sampson ihren bisherigen „Beschützer“, um sich einem völlig Unbekannten anzuvertrauen, den sie bis jetzt für einen bedrohlichen „Schatten“ gehalten hat. Sehr merkwürdig. Und nur dadurch zu erklären, dass besagter Mann im Rollstuhl als Major und Geschäftsmann und Freund Mr. Sampsons vorgestellt wird. Aber ist er das wirklich? Stimmt seine Identität? Schließlich können wir uns ebenso wie Miss Nylah nur auf das Wort Mr. Sampsons, des Ich-Erzählers, verlassen. Könnte es sein, dass er uns hinters Licht führt? Man sollte sich fragen, wie die verstorbene Nichte, um die Slinkton angeblich trauert (also Miss Nylahs Schwester), und Mr. Melton zusammenhängen.

Eine mysteriöse Erwähnung eines „Besuchers am Fenster“ trägt ebenfalls nicht gerade zur Erhellung des Sachverhaltes bei. Vielmehr schürte sie in mir den Verdacht, dass etwas vor sich geht, das der Chronist verschweigt, um am Schluss die Bombe umso effektvoller platzen lassen zu können. Dies zumindest gelingt Dickens einwandfrei. Aber es ist nicht gerade die gegenüber dem Hörer / Leser rücksichtsvollste Vorgehensweise.

|Der Sprecher|

Bodo Primus verfügt über jene distinguierte Ausdrucks- und Sprechweise, die einem älteren Gentleman des viktorianischen Zeitalters so wohlansteht. Dieser vertrauenerweckenden Stimme folgen wir gerne – leider zu unserem eigenen Schaden, wie ich gezeigt habe. Man tut gut daran, Mr. Sampson ebenso wenig Vertrauen entgegenzubringen wie Mr. Slinkton und sollte aus den Informationsbrocken, die er uns darbietet, schnellstmöglich eigene Schlüsse ziehen. Dennoch wird die Überraschung am Schluss ziemlich perfekt sein.

Der Sprecher charakterisiert auch Mr. Slinkton und dessen einschmeichelnde, geradezu einnehmende Redeweise, jedenfalls bis zu Slinktons Verwandlung. Ein krasser Kontrast zu Mr. Alfred Beckwith, der einem geradezu wie ein Choleriker vorkommt. Er lallt zunächst wie ein Alkoholiker und haut auf Metall, bevor er schließlich, wuterstickt keuchend, seine Flüche ausstößt.

|Geräusche und Musik|

Die Geräusche sind dezent und zielgerichtet eingesetzt, nur selten ist ein überflüssiges Geräusch zu hören. Obligatorisch sind die Stimmen auf der Dinnerparty, die rauschenden Wellen am Strand von Scarborough (die Begegnung mit Miss Nylah) und schließlich der Showdown in Beckwiths Wohnung. „The wind cries Mary“ könnte man als Überschrift für diese Szene formulieren, denn fortwährend heult und wimmernd der Wind, der durch die Ritzen in Fensterrahmen und Türen hervorbläst. Dieser Laut macht das Finale umso schauriger. Aber es gibt noch einen versöhnlichen Epilog, denn die Geschichte hat ein Happy-End.

Das Hauptmotiv für den Einsatz von Musik ist die eindeutige Charakterisierung einer Szene oder einer Person hinsichtlich Stimmung oder Entwicklung. Intro und Outro werden von einem flotten Stück bestritten, in dem die Streicher ein Pizzicato zupfen, worüber eine romantisch klagende Oboe ihr Lied singt. Sowohl Oboe als auch Cello erklingen immer wieder, meist um gefühlvolle Momente zu unterstreichen, besonders wenn Melancholie angesagt ist.

_Unterm Strich_

Auf seine trickreiche Weise erzählt der bekannte Autor von „Oliver Twist“ und „David Copperfield“ die Story des Julius Slinkton, der unseren Chronisten, den Versicherungsdirektor Mr. Sampson, betrügen will. Da gerät er aber an den Falschen. Obwohl sich Sampson von seinem ersten negativen Eindruck Slinktons abbringen lässt, scheint er doch seine Vorbehalte nicht über Bord zu werfen, sondern rettet vielmehr eine junge Frau aus den Klauen diese schmierigen Typen.

Damit nicht genug, versucht er auch dem versuchten Betrug, der als solcher noch nicht erkennbar geworden ist, auf den Grund zu gehen. Wie man sieht, ist die Begründung der Handlungen Mr. Sampsons etwas wackelig. Ein Showdown mit Todesfolge löst alle Rätsel auf – klassischer Krimistil. Normalerweise werden für diese Drecksarbeit Detektive eingesetzt. Dass sich Sampson selbst engagiert, hängt mit gewissen persönlichen Beziehungen zusammen, die uns zunächst noch nicht verraten werden.

Das alles ist recht schlau und geschickt erzählt, doch ich fühlte mich ein wenig düpiert und hinters Licht geführt. Das ist aber reine Geschmackssache. Ebenso übrigens wie der Auftritt einer weiteren Hauptfigur, die bislang im Dunkeln geblieben ist. Am Ende entsteht ein vollständiges Bild, aber es ist aus einer so stückwerkhaften und verdrehten Perspektive präsentiert, dass die daraus entstehenden Rätsel bis zum Schluss für Spannung sorgen.

|Das Hörbuch|

Das Hörbuch wurde von Daniela Wakonigg und Peter Harrsch gewohnt eindrucksvoll produziert und mit einem informativen Booklet ausgestattet. Sprecher, Geräusche und Musik sind von der bei |Stimmbuch| gewohnten guten Qualität. Orchesteruntermalung darf man allerdings nicht erwarten. Aber ein kleines Streicherquartett ist ja auch mal ganz nett.

|Hunted Down, 1859
Aus dem Englischen übersetzt von Daniela Wakonigg
64 Minuten auf 1 CD|
http://www.stimmbuch.de

Charles Dickens – Das Spukhaus. Inszenierte Lesung

Unheimlich: Der Geist im Spiegel

So ein Spukhaus ist eine famose Sache: Es gibt immer was zu tun. Das denkt sich auch unser Ich-Erzähler, als er davon hört, und beschließt, es für sechs Monate zu mieten. Doch den Spuk gibt es wirklich, und nacheinander nehmen seine Bediensteten Reißaus, alle bis auf einen, der stocktaub ist. Es gibt also noch Chancen. John, der Erzähler, und seine Schwester Patty laden ihre ebenso famosen Freunde ein, sich die Sache mit dem Spuk mal genauer anzusehen: furchtlose Zeitgenossen allesamt. Doch in Master B.s Dachstube will trotz aller Mühen der Spuk nicht enden.

Der Autor
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G. K. Chesterton / Wakonigg, Daniela – Mann, der zu viel wusste; Der

_Geniale Spürnase mit Macken_

Während eines friedlichen Angelausflugs fällt Horne Fisher ein Auto direkt vor die Füße. Das Auto ist von einem Abhang gestürzt. Der Fahrer ist tot. Was ist geschehen? Zusammen mit seinem Begleiter, dem Journalisten Harold March, geht er der Spur des Autos nach und stellt fest: Es war gar kein Unfall …

_Der Autor_

Gilbert Keith Chesterton wurde 1874 geboren und starb 1936. Nach seiner Ausbildung arbeitete er als Journalist, doch bekannt wurde er mit seinen Romanen, den anarchistischen Phantasien „The Napoleon of Notting Hill“ (1900) und „The Man who was Thursday“ (1908). Insgesamt veröffentlichte er mehr als hundert Werke. Da er ein Liberaler war, geißelte er in seinen Schriften Dekadenz und Nihilismus und kritisierte Imperialismus, Konservativismus, Skeptizismus und Sozialismus, also praktisch alles, was damals in Mode war. Zu seinen Gegnern gehörte der Sozialist und Dramatiker George Bernard Shaw.

Ein bedeutender Einfluss ist seinem Freund John O’Connor zuzuschreiben, einem Priester, der ihn dazu brachte, 1922 zur römisch-katholischen Kirche überzutreten. (Deshalb rechnet ihn die Inklings-Gesellschaft zur Gruppe um J. R. R. Tolkien und C. S. Lewis.) O’Connor lieferte auch das Vorbild für einen von Chestertons größten Erfolgen: den gleichermaßen liebenswerten wie schlauen [Father Brown. 2362 Als einer der fleißigsten Schreiber aller Zeiten veröffentlichte Chesterton von 1925 bis zu seinem Tod seine eigene Zeitung, die „G. K.’s Weekly“. G. K. Chesterton war kinderlos verheiratet mit Frances Blogg. Er hatte ein große Vorliebe für Zigarren und gutes Essen, Letzteres ließ sich auch an seiner stattlichen Leibesfülle ablesen.

„The man who knew too much“ eröffnete 1922 die Serie mit Geschichten um Fischer und March. Das Ungewöhnliche an Fisher ist, dass er eigentlich gar kein Detektiv ist. Die kriminalistischen Geheimnisse kreuzen einfach zufällig seinen Weg und werden von ihm mit charmanter Trägheit enträtselt. Untertitel dieser ersten Episode: „Das Gesicht auf der Zielscheibe“.

_Der Sprecher_

Karlheinz Tafel liest die ungekürzte und mit Geräuschen und Musik angereicherte Textfassung.

Regie führte die Übersetzerin Daniela Wakonigg, die Tontechnik und Musikeinspielungen steuerte Peter Harrsch.

_Handlung_

Die 1920er Jahre: Der Journalist Harold March wandert zu dem Landsitz Torwood Park, um einer Einladung des Finanzministers nachzukommen. Der Minister will einige Sozialreformen initiieren, was einige politische Folgen haben dürfte. Doch die wunderbare Naturszenerie lenkt March von dem Objekt seiner beruflichen Neugier ab.

Die Schlucht eines Baches neben der Straße ist so malerisch, dass er sie sich genauer anschaut. Sein Blick fällt auf einen Zeitgenossen, der sich einer merkwürdigen Beschäftigung hingibt. Er fängt Fische mit einer Art Kescher, wirft sie aber alle wieder zurück ins Wasser. Der Mann bemerkt March und antwortet in einem sonderbar teilnahmslosen Tonfall, dass er das Phänomen der Phosphoreszenz untersuche, also die biologische Leuchtkraft bei Fischen usw. Dass er gebildet ist, belegt er durch einen kenntnisreichen und kritischen Vortrag über die Kubisten.

Allerdings wird sein Redeschwall jäh unterbrochen, als ein Quietschen, Scheppern und Krachen ertönt, erst oben von der Straße, dann den Steilhang herab, um sodann in einem Mordskrach zu ersterben. Das Auto verfehlt Mr. Fisher, wie er sich vorstellt, nur um Meter. Gleichmütig schaut er sich die Sache genauer an. Ein Toter liegt im Auto, so, so, offenbar Schädelfraktur, hm. Der Visitenkarte entnimmt Fisher unschwer den Namen des geräuschvoll zu Tode gekommenen Opfers: Sir Humphrey Turnbull, seines Zeichens ehemaliger Richter in London, der sich besonders für die Verfolgung von Ausländern einsetzte.

Fisher ersteigt den Steilhang und verfolgt oben die Spuren des Autos zwischen Felsen. Handelt es sich um Selbstmord oder um einen Unfall, fragt sich March. Haben die Bremsen versagt – oder wollte Turnbull seinem Leben ein Ende setzen? Weder das eine noch das andere, meint Fisher, erläutert das aber nicht weiter. Die Frage sei vielmehr, was Turnbull – oder „Puggy“, wie er neckisch genannt wurde – in Torwood Hall wollte. Der Landsitz gehört nämlich nicht dem Finanzminister, sondern einem der von Turnbull gehassten Ausländer, dem Kanadier Jefferson Jenkins, der sich für eine Grundstücksreform einsetzt.

Fisher geht auf das Haus zu, aber das ist eine Meile entfernt. Sie passieren einen Großwildjäger, der zur Jagd hier ist: John Burke. An dem Jäger und einem Wäldchen vorbei betreten sie eine Wirtschaft. Hier ließ sich der Verunglückte ein Paket Sandwiches machen. Warum, so fragt sich March, wenn Turnbull doch erwarten musste, dass er auf Torwood Hall ein Abendessen bekommen würde? Fisher gibt March Recht, aber was, wenn Turnbull nicht damit rechnete und die Sandwiches für den Notfall einpackte?

Der Finanzminister tritt ein. Auch er war auf der Jagd und lästert über seinen Gast Jenkins (wohlgemerkt: den Hausbesitzer), der ein miserabler Schütze sei. Doch die Beispiele, die er anführt, legen eher das Gegenteil nahe, findet Fisher. Zu Marchs Erstaunen behauptet Fisher dann ein Stück weiter die Straße hinauf: „Hier wurde Puggy wohl erschossen“. Auf Schleichwegen begibt sich Fisher sodann nicht zum Haupteingang, sondern in den hinteren Garten des Landsitzes, wo die zwei Besucher auf einen seltsam antiquierten Anblick stoßen: eine uralte Zielscheibe. So etwas benutzten nur die längst verschwundenen Viktorianer.

Aber etwas ist merkwürdig daran. Die Einschusslöcher sind frisch – und sie ergeben ein Muster: ein Gesicht. March beobachtet verdutzt, wie Fisher ein Fläschchen aus seiner Tasche holt und eine chemische Substanz in eben diese Einschusslöcher schmiert. Sodann begibt sich Fisher dahin, wo auch Marchs Bestimmungsort liegt: ins Innere des Hauses. Er benutzt jedoch nicht die Tür, sondern ein Fenster. Kuck an: eine Waffenkammer voller Gewehre. Was mag Fisher wohl noch alles finden, fragt sich March. Und wann er wohl endlich damit anfängt, ein paar Erklärungen für sein sonderbares Benehmen zu liefern.

_Mein Eindruck_

Henry Fisher ist zwar ein genialer, aber auch ein rätselhafter Schnüffler. Er scheint jede der hochgestellten Persönlichkeiten selbst zu kennen, und diese reden auch ungeniert mit ihm, doch welchem Beruf Fisher nachgeht, erfahren wir nicht. Auch scheint er ungewöhnlich teilnahmslos gegenüber den kriminellen Machenschaften auf Torwood Hall zu sein. Das hindert ihn aber nicht daran, dem Journalisten genau nachzuweisen, dass Humphrey Turnbull a) ermordet, b) gezielt erschossen, c) der Mord aber von niemandem bemerkt wurde und d) von niemandem aufgeklärt werden wird – außer von ihm. Und er könne nichts beweisen. Kein Wunder also, so Fisher, wenn er angesichts der Unantastbarkeit des Mörders – und seiner Komplizen? – jedes Interesse an dieser Klasse, diesem Fall und der Politik im Allgemeinen verloren habe.

Es ist schon ein trauriges Los, das Fisher gezogen zu haben scheint. Er verfügt über den nötigen Scharfsinn, um den Verbrechern auf die Schliche zu kommen, kann aber nichts gegen sie unternehmen, genauso wenig wie die Polizei, falls man sie einschaltet. Doch die Verbrecher sind nicht irgendwer. Es handelt sich um einen Sozialreformer und um den Finanzminister, der ebenfalls – wohl nicht ohne Grund – eine Reform plant. Beides sind Politiker, die sich vordergründig der Verbesserung der wirtschaftlichen und sozialen Verhältnisse verschrieben haben, aber im Hintergrund offenbar nicht vor der skrupellosen Beseitigung eines lästigen Kritikers zurückschrecken. Das lässt nichts Gutes für die Zukunft der politischen Klasse erwarten.

Der Liberale Chesterton hatte für Sozialisten (s. o.) wie George Bernard Shaw und H. G. Wells (beide Mitglieder der Fabian Society) nichts übrig, er selbst befürwortete die Bodenreform und Umverteilung des Eigentums aus einer katholischen Perspektive (und stand deshalb gedanklich den Inklings um Tolkien und Lewis nahe, wenn er auch nicht zum Kreis dieser Autoren gehörte).

Andererseits stellt er aber Humphrey Turnbull, das Mordopfer, als einen Kritiker – er war Ex-Richter – dieser feinen Herrschaften hin. Warum beschreibt er ihn aber dann so negativ, indem er ihm das Gesicht eines „intellektuellen Affen“ verleiht? Chestertons Sympathien scheinen bei niemandem zu liegen, und das ist der hauptsächliche Schwachpunkt der Story.

Chestertons bekannteste Spürnase ist Father Brown, doch anders als Fisher hat Brown wenig mit Politikern zu tun, sondern mehr mit ganz „gewöhnlichen“ Bürgern (obwohl sich dazu ebenfalls Gegenbeispiele finden ließen). Unter seine verirrten Schäflein gerät aber ab und zu auch mal ein gestandener Verbrecher, z. B. in „Das blaue Kreuz“. Brown hat zwar keine Bekehrungsabsichten, aber doch eine enge Beziehung zu Moralvorstellungen der christlichen Lehre.

Dies geht Horne Fisher offenbar völlig ab. Er scheint im Gegenteil ein richtiger Nihilist zu sein. Und gegen diese Leute hatte Chesterton ebenfalls etwas. Es ist ziemlich ungewöhnlich, dass ein Autor seinen Schnüffler der Kritik preisgibt. Aber nicht Fisher liefert die Perspektive auf diesen Fall, sondern ein Journalist. Dieser hält sich zwar mit kritischen Bemerkungen zurück, aber seine Distanziertheit ist nicht zu übersehen. Wenn Fisher abschließend sagt: „So laufen die Dinge eben“, so dürfte March und dem Hörer fast der Kragen platzen. Genau dies liegt in der Absicht des Autors.

|Der Sprecher|

Da in dieser Geschichte keinerlei weiblichen Figuren auftreten, hat der Sprecher Karlheinz Tafel relativ leichtes Spiel. Er muss lediglich den diversen männlichen Figuren eine jeweils markante Sprech- und Ausdruckweise verleihen, damit der Hörer sie auseinanderhalten kann. Klingen der Finanzminister und John Burke eigentümlich wie „alte Knaben“ à la Sir John in den Edgar-Wallace-Verfilmungen, so bietet Horne Fishers Stimme das Kontrastprogramm: Er spricht langsam, müde, schwach und völlig teilnahmslos, als habe er gerade einen Schlaganfall überlebt. Das ist aber gerade das Trügerische an ihm. So verdeckt er seinen Scharfsinn und überlistet besagte Herrschaften, indem er sie aus der Deckung lockt. Bis er dann den Schockeffekt einsetzt, und sie sich verraten. Eine raffinierte Taktik, die man diesem teilnahmslosen Schnüffler nicht zugetraut hätte.

Ein erhebliches Verständnisproblem konnte auch der ausgezeichnete Vortrag nicht verhindern. Wie heißt denn nun der Finanzminister? Mal heißt er Hoggs, dann wieder Howard Horn. Und mal heißt Turnbull „Puggy“ und John Burke einmal „Jack“. Wenigstens Jenkins bleibt stets Jenkins. Und was ich als „Tallwood Park“ notierte, heißt eigentlich laut Booklet „Torwood Park“. So habe ich es auch in der Inhaltsangabe geschrieben.

|Geräusche und Musik|

Der Vortrag wird von klassischen Instrumenten untermalt, die aber ungewöhnlich eingesetzt werden. Oboe oder Klarinette spielen ruhige, melancholische Kadenzen, aber die Streicher zupfen Pizzicati. Dann gibt es noch ein Instrument – vermutlich ein elektronisches – das ich mal als „Glasharfe“ bezeichnen möchte und das für die Erzeugung einer geheimnisvollen Stimmung zuständig ist.

Die Geräusche sind teils der Natur entnommen und teils der Technik. Der Kontrast ist zutiefst symbolisch und vom Autor sicherlich gewollt. Die idyllische Szenerie aus Insektengezirpe und Froschgequake wird jäh unterbrochen durch ein Quietschen, Scheppern und Krachen. Dabei fällt mir auf, dass das Qietschen – vermutlich von Bremsen – völlig unlogisch ist. Wenn Turnbull nämlich schon tot war, als sein Wagen in einer Kurve die Straße verließ, geradeaus weiterfuhr und den Abhang hinabraste, kann er auch keine Bremsen getreten haben. Auch die Reifen scheiden aus, weil sie nur quietschen, wenn eine Auto in die Kurve geht. Genau dies tat es aber nicht. Wie können sie also quietschen?

Sehr hübsch wird das Vergehen des Tages durch die sich ändernde Geräuschkulisse der Natur nachgebildet. In der Schlucht sind kaum Vögel zu hören, oben im Wald um Torwood herum aber jede Menge, insbesondere die diebischen Elstern (sehr passend). Als es Abend wird, ruft in der Dämmerung – reichlich früh – das Käuzchen. Sobald Fisher und March wieder in die Schlucht zurückgekehrt sind, sind wieder keine Vögel zu hören, weil es Nacht ist. Stattdessen erschallen das Quaken von Fröschen und das Zirpen von Insekten.

|Das Booklet|

Das vierseitige Booklet erfreut mit umfassenden Informationen über den Autor Chesterton (s. o.) und einer Inhaltsangabe, die nicht zu viel verrät. Als i-Tüpfelchen verrät das Booklet auch, wann und wo der Text zuerst erschien und gedruckt wurde – so viel Service findet man bei 1-CD-Hörbüchern selten. Ob der Text etwas mit der von Hitchcock zweimal verfilmten Story „Der Mann, der zu viel wusste“ zu tun hat (hat er nicht), wird nicht einmal der Erwähnung für würdig befunden.

Die Titelillustration zeigt einen Mann, der mit Pfeil und Bogen auf eine bemalte Zielscheibe zielt. An diesem Bild stimmt so einiges nicht. Der Mann zielt meilenweit vorbei, und der Winkel, in dem die Zielscheibe zu ihm steht, ist zu weit nach links gedreht. Der Bogen erscheint mir zu klein und die Sehne zu dick – allerdings fällt dies unter „künstlerische Freiheiten“.

_Unterm Strich_

Diese inszenierte Lesung hat mir wenig Spaß gemacht und einige Probleme bereitet – mehr dazu in den obigen Ausführungen. Horne Fisher ist allerdings ein Schnüfflername, den man sich merken sollte. Der Mann ist als Spürnase genial und in seinem Charakter ziemlich einmalig, wenn ich mich auch ein wenig an den behäbigen Nero Wolfe erinnert fühlte. Aber Wolfe verkriecht sich in seiner Wohnung und lässt seine(n) Assistenten die Fußarbeit erledigen – Fisher kraucht selbst durchs Unterholz und steigt in Häuser ein, die ihm nicht gehören. Dafür, dass er, wie er behauptet, „zu viel weiß“, wirkt er aber noch relativ ungefährdet. Vielleicht liegt es an seinem Nihilismus. Sympathisch ist er mir jedenfalls nicht. Aber der Autor hat es ja sowieso auf kritische Distanz zu ihm angelegt.

Das Hörbuch mit der inszenierten Lesung hat zwar einen hervorragend Sprecher zu bieten, aber verstanden habe ich den wirklichen Namen des Finanzministers dennoch nicht auf Anhieb. Und das Geräusch quietschender Bremsen oder Reifen ist völlig unlogisch, weil im Stück niemand lebendig genug ist, um auf das Bremspedal treten oder die Reifen in eine Kurve lenken zu können. Das Einzige, was inhaltlich für das Hörbuch spricht, sind der Fall, der Ermittler und der Sprecher, sonst aber wenig.

|Originaltitel: The man who knew too much, 1922
Aus dem Englischen übersetzt von Daniela Wakonig
60 Minuten auf 1 CD|
http://www.stimmbuch.de

Wakonigg, Daniela / Harrsch, Peter – Mythos & Wahrheit: Sherlock Holmes. Eine Spurensuche mit Musik und Geräuschen

_Shilling Shocker Sherlock_

Sherlock Holmes ist ohne Zweifel der größte Meisterdetektiv aller Zeiten. Seine Beobachtungsgabe ist berühmt, sein überlegener Verstand legendär. Mit ihrer Hilfe und der moralischen Unterstützung seines Freundes John H. Watson löst Holmes im düsteren, nebligen London des ausgehenden 19. Jahrhunderts Fälle, um deren Aufklärung sich Scotland Yard vergeblich bemüht.

Wie begann die Freundschaft zwischen Holmes und Watson? Wie steht es mit Holmes und den Frauen? Und vor allem: Hat der Meisterdetektiv tatsächlich gelebt oder ist er „nur“ eine literarische Erfindung?

Das vorliegende Hörbuch gehört zu der Sach-Hörbuch-Reihe „STIMMBUCH Mythos & Wahrheit“ und will dem Hörer „spannende historische Spurensuche, untermalt von Musik und Geräuschen“ bieten. Ob das so hinhaut, wie gedacht, wird sich herausstellen.

_Der Autor Arthur Conan Doyle_

Sir Arthur Conan Doyle lebte von 1859 bis 1930 und gelangte mit seinen Erzählungen um den Meisterdetektiv Sherlock Holmes zu Weltruhm. Dabei begann der Mediziner, der eine eigene Praxis hatte, erst 1882 mit dem Schreiben, um seinen Einkommen aufzubessern. Neben mystischen und parapsychologischen Themen griff er 1912 auch die Idee einer verschollenen Region (mit Dinosauriern und Urzeitmenschen) auf, die von der modernen Welt abgeschnitten ist: [„The Lost World“ 1780 erwies sich enorm einflussreich und wurde schon 13 Jahre später von einem Trickspezialisten verfilmt.

|Arthur Conan Doyle bei Buchwurm.info (Auswahl):|

[„Die geheimnisvolle Kiste“ 3756
[„Im Zeichen der Vier“ 2285
[„Die vergessene Welt“ 1780
[„Der Hund der Baskervilles“ 1896
[„Eine Studie in Scharlachrot“ 2066
[„Der griechische Dolmetscher“ 2427
[„Der Patient“ 3609

_Die Inszenierung_

|Die Sprecher|

Die Stimme des Erzählers gehört Bodo Primus, den Holmes spricht Matthias Haase, den Dr. Watson spricht Axel Gottschick und Arthur Conan Doyles Stimmbandvertretung ist Hans-Gerd Kilbinger.

|Die Macher|

Daniela Wakonigg wirkte als Autorin, Übersetzerin, Regisseur und Sounddesignerin an diesem Hörbuch mit. Die Musik und Teile des Sounddesigns steuerte Peter Harrsch bei.

_Inhalte_

1. Die Wahrheit über Mr. Sherlock Holmes
2. Holmes, Watson und wie alles begann
3. Die Wissenschaft der Deduktion
4. Der erste Fall (Eine Studie in Scharlachrot)
5. Holmes‘ dunkle Seite (Im Zeichen der Vier)
6. Erfolg in London
7. Holmes und die Frauen (Irene Adler, Eine Affäre in Böhmen)
8. Wundersames und Wunderliches
9. Sherlock Holmes muss sterben (die Reichenbachfälle)
10. Die Wiederauferstehung (Das leere Haus)
11. Veränderungen (Der Hund der Baskervilles)
12. Vielleicht das letzte Mal

_Handlung_

Man schreibt das Jahr 1893 und das ganze Königreich trauert: Sherlock Holmes ist tot! Das GANZE Königreich? Nicht ganz: Holmes‘ Schöpfer Arthur Conan Doyle atmet erleichtert auf. Endlich ist er seinen Helden los. Denn eigentlich betrachtet sich der Augenarzt Doyle als seriöser Schriftsteller und nicht als Verfasser von Storys für die Massenblätter. Das hat etwas Degoutantes an sich.

Doch Doyle freut sich zu früh. Seit fünf Jahren, genauer: Seit dem März 1886 schreibt er über seine berühmteste Schöpfung und dessen Biographen Dr. John Watson, einen Militärarzt. Doch die Geschichte „Eine Studie in Scharlachrot“ wird erst im Dezember 1887 gedruckt: als „Shilling Shocker“. Dann folgen 1890 „Das Zeichen der Vier“ und 1891 im berühmten „Strand“-Magazin (Auflage: 300.000 Exemplare!) schließlich der Durchbruch mit „Ein Skandal in Böhmen“. Danach folgen viele weitere Storys wie etwa „Das Musgrave-Ritual“ und „Die fünf Orangenkerne“, insgesamt 24 Geschichten. Doyle ist ausgepumpt. Holmes muss sterben.

Doch auf welche Weise befördert man ein Genie ins Jenseits? Jemanden, der schon im Voraus alle Schliche kennt und Kniffe vorausahnt? Die Antwort: Dafür ist ein ebenso großes Genie vonnöten, eines des Verbrechens. Ein Superschurke. Auftritt Professor Moriarty, Genie des Bösen, in der Erzählung „Das letzte Problem“. Der diabolische Mathematiker hat ein globales Syndikat gegründet, das seine Schergen überallhin schicken kann. Am 4. Mai 1891, fast genau zehn Jahre nach Watsons erster Begegnung mit Holmes, stürzen beide Gentlemen die Schweizer Reichenbachfälle hinab.

Britannien trauert. Das heißt: natürlich nicht nur die Insel an sich, sondern das British Empire – und die ehemaligen Kolonien jenseits des Atlantiks ebenso. Dort war „Das Zeichen der Vier“ erstmals in Philadelphia gedruckt worden. Die Leser sind entsetzt. Das „Strand“-Magazin bekommt auf einen Schlag 20.000 Abonnementkündigungen ins Haus geschickt. Selbst die königliche Familie zeigt sich bestürzt, und das will was heißen. Doyle zeigt sich erstaunt, bleibt aber standhaft. Er zieht in den Krieg gegen die südafrikanischen Holländer („Buren“ genannt) und kehrt erst acht Jahre später zurück.

Mit einer genialen Geschichte: „Der Hund der Baskervilles“, die 1901/02 erscheint. Die Auflage ist ratzfatz ausverkauft. Holmes muss leben! Im Jahr darauf (1903) erklärt Doyle die Wiederauferstehung seines Helden in „Das leere Haus“. Holmes erscheint unangekündigt in Watsons Praxis, und dieses eine Mal fällt sein Freund tatsächlich in Ohnmacht. Holmes erklärt: Totsein ist eine Chance. Eine Chance, etwas ganz anderes zu tun, denn man wird weder beobachtet noch von Moriartys Ganoven verfolgt. Holmes bereiste die Welt, sah Tibet und den Orient.

Mehr Geschichten erscheinen, doch 1904 ist England stark verändert. Die Königin ist tot, Edward regiert. Alles ist elektrifiziert, die Welt schnelllebiger geworden. Viktorianische Tugenden wie Beständigkeit sind nicht mehr gefragt. Während Doyle einen Hang zum Spiritismus und Elfenglauben entwickelt, setzt sich Holmes in Sussex zur Ruhe und züchtet Bienen. Watson, nunmehr Witwer (er heiratete Miss Mary Morston aus „Das Zeichen der Vier“), kommt einmal in der Woche zu Besuch.

Von 1908 bis 1917 und dann wieder bis 1927 schreibt Doyle noch weitere Geschichten, die bis alle bis auf eine vor Holmes‘ Ruhestand spielen. In der letzten, „Die letzte Vorstellung“, wird Holmes ein Spion für die Krone und besiegt einen perfiden deutschen Agenten. Der Weltkrieg hat alle und alles verändert. Doyle verlor einen Sohn und seinen Bruder. Am 2. August 1914 endet die Freundschaft zwischen Holmes und Watson nach 33 Jahren für immer …

Nach Doyles Tod 1930 schreiben die Imitatoren bis heute Erzählungen mit und im Geiste von Sherlock Holmes. Er trifft sogar Alice im Wunderland und taucht im 22. Jahrhundert auf.

_Mein Eindruck_

Ich habe diese biographische Werkschau mit fasziniertem Interesse verfolgt. Zum einen deshalb, weil ich keineswegs der totale Holmes-Kenner und absolute Fan bin, und zweitens, weil die Zusammenhänge zwischen Leben und Holmes‘ Entstehung und Entwicklung mit zahlreichen Fakten unterfüttert werden, die selbst gestandene Holmes-Kenner noch interessieren könnten.

So wird die Frage geklärt, wieso Holmes so schrecklich Geige spielt (Doyles Onkel Richard spielte Geige), warum er so eine seltsame Deerstalker-Mütze trägt (Sidney Pagets Bruder trug sie; Paget zeichnete Holmes‘ Gesicht für das Strand-Magazin) und woher überhaupt sein Hauptmerkmal, die Fähigkeit zur logischen Deduktion, stammt. Sie rührt von Prof. Dr. Joseph Bell her, einem Medizindozenten, den Doyle persönlich kannte und für diese seine Fähigkeit endlos bewunderte. Die weltberühmte Adresse Baker Street 221B existiert erst seit 1931, davor war sie rein fiktiv.

Witzig fand ich die Untersuchung von Holmes‘ Verhältnis zu den Frauen. Der Detektiv findet sie unberechenbar und stuft sie als nicht vertrauenswürdig ein. Dies ist nicht die einzige abstoßende Seite seines Charakters. Aber nur einmal bietet ihm eine Frau Paroli und besiegt Holmes sogar: Irene Adler in „Ein Skandal in Böhmen“. Holmes bewundert seine Gegenspielerin sogar, zumindest die Art und Weise, wie sie ihn ausgetrickst hat. Sie schlug ihn mit seinen eigenen Waffen. Allerdings bleibt dies der einzige Fall von Heldin in Holmes‘ Leben. Ob Doyle auch heldenhafte Frauen in seinen historischen Romanen (die heute alle vergessen sind) auftreten ließ, entzieht sich meiner Kenntnis und wird auch in dieser Biografie nicht erwähnt.

|Das Booklet|

Eine kurze Zusammenfassung von Doyles Biografie findet sich zudem im Booklet. Diese ist wesentlich weniger ermüdend als die – eh schon komprimierte – Langfassung, die vorgetragen wird. Die Darstellung wird natürlich in dieser Form nicht den geltenden literaturwissenschaftlichen Ansprüchen gerecht, denn alle Quellenangaben fehlen. Und diese wären das Minimum an Glaubwürdigkeit im Sinne der beanspruchten Spurensuche. Also handelt es sich um eine populärwissenschaftliche Darstellung, die möglichst auch unterhalten soll.

|Die Inszenierung|

Die Stimme des Erzählers gehört Bodo Primus, den Holmes spricht Matthias Haase, den Dr. Watson spricht Axel Gottschick und Arthur Conan Doyles Stimmbandvertretung ist Hans-Gerd Kilbinger. Insgesamt bieten drei Sprecher ihre stimmliche Darstellungskunst auf, um uns die Zitate aus den Werken und Briefen Doyles näherzubringen.

Der Erzähler verbindet die Zitate mit seiner populärwissenschaftlichen und leicht verständlichen Darstellung. „Holmes“ und „Watson“ spielen auch Szenen nach, so dass beispielsweise Holmes schwermütig darüber sinnieren kann, warum er sich Kokain spritzt. (Noch so ein Detail, das den wenigsten Lesern bekannt ist.)

Schön dezent fand ich die zurückhaltend eingesetzte Musik. Die klassische Instrumentierung beschränkt sich in der Hauptsache auf das bekannte Stück des seinerzeit beliebten Viktorianers Edward Elgar, das den Titel „Pomp and Circumstance“ trägt. Diese Instrumentalversion wurde später mit dem Text „Land of Hope and Glory“ versehen und zu einer zweiten oder dritten Nationalhymne der Briten. („Rule, Britannia!“ und „Jerusalem“ sind weitere solche Hymnen des vergangenen Empires.)

Ab und zu klimpert auch mal eine Harfe aus dem Hintergrund, oder eine Oboe klagt – warum ausgerechnet bei der Erwähnung von Mycroft Holmes, ist mir schleierhaft geblieben. Rein illustrativ ist hingegen ein Geigenmotiv eingesetzt. Es soll Holmes‘ idiosynkratische Weise des Geigenspiels verdeutlichen. Sie ist in der Tat gewöhnungsbedürftig und für jedes Orchester ungeeignet.

Geräusche gibt es nur sehr wenige. Einmal tickt eine Uhr im Hintergrund, in einer anderen Szenen stehen „Holmes“ und „Watson“ an der Küste: Möwen schreien über dem Rauschen der Meeresbrandung. Man kann also nicht sagen, dass sich bei diesem Hörbuch um ein Hörspiel handelt, sondern es ist, wie der Verlag richtig schreibt, eine „inszenierte Lesung“.

_Unterm Strich_

Diese populärwissenschaftliche Darstellung (es werden keinerlei Quellenangaben gemacht) bietet demjenigen, der Arthur Conan Doyle und seinen größten Helden kennenlernen will, einen leicht verständlichen, aber durch die Methode begrenzten Zugang.

Mich jedenfalls hat die biografische Untersuchung des Zusammenhangs zwischen Mythos Holmes und Wahrheit so interessiert, dass ich der inszenierten Lesung mehr als einmal zugehört habe. Die Informationsdichte ist so hoch, dass sich das genaue Zuhören ebenso lohnt wie das mehrmalige anhören. Aber nicht so hoch, dass man vor lauter Details keine Zusammenhänge mehr erkennen würde. Also genau das richtige Niveau für Einsteiger und solche, die den Meisterdetektiv genauer kennenlernen wollen.

Für mich war völlig neu, dass Arthur Conan Doyle neben seinen Geschichten über Holmes und Professor Challenger („The Lost World“, ebenfalls mehrfach verfilmt) auch historische Romane verfasst hat. Leider sind sie in Vergessenheit geraten. Wer weiß: Vielleicht würde es sich angesichts der aktuellen Mode historischer Mystery-Romane durchaus lohnen, sie wieder aus der Versenkung zu holen. Doyle hat schließlich mittlerweile einen klangvollen Namen, und ein „Sir“ ist er obendrein. Die Zeiten der „Shilling Shocker“ hat er längst hinter sich gelassen.

Es wäre zu begrüßen, wenn der Verlag auf seiner Website entsprechende Links zur Verfügung stellen würde. Per Suchmaschine stößt man schnell auf die Erzählungen, die sämtlich online zur Verfügung stehen. Aber Links zu Sekundärliteratur in deutscher Sprache sind etwas schwieriger zu finden. Hier kann sich der Verlag als Helfer beweisen.

|70 Minuten auf 1 CD
Aus dem Englischen übersetzt von Daniela Wakonigg|
http://www.stimmbuch.de/

Arthur Conan Doyle – Die geheimnisvolle Kiste (Lesung)

Beklemmend: Terroristen an Bord?

Auf einer Seereise beobachtet der Schriftsteller Hammond zwei finstere Kerle, die sich an einer kleinen geheimnisvollen Kiste zu schaffen machen, die sie mit an Bord brachten. Für Hammond steht fest: Es muss eine Bombe sein. Zusammen mit seinem Freund Dick Martin versucht er die drohende Katastrophe zu verhindern und belauscht die Männer, fordert sie sogar mit Worten heraus. Schließlich muss er seine Feigheit überwinden und den Kampf mit ihnen aufnehmen. Da macht er eine überraschende Entdeckung.
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Daniela Wakonigg – Mythos & Wahrheit: Frankenstein. Eine Spurensuche mit Musik und Geräuschen

Parallele Schicksale: das Monster & seine Autorin

Frankensteins Ungeheuer ist der Inbegriff des Horrors: riesenhaft und hässlich, eine tödliche Maschine, erschaffen aus den Körperteilen Verstorbener und zum Leben erweckt durch den ungezügelten Forscherdrang eines Wissenschaftlers. Im Innern dieses Monsters jedoch schlägt ein empfindsames Herz – vielleicht ein Erbteil seiner literarischen Mutter Mary Wollstonecraft Shelley, die diese Figur mit nur 19 Jahren erschuf?

Wie genau kam es zu der Entstehung von Frankensteins Ungeheuer? Und was ist die wahre Geschichte seines Lebens? (abgewandelte Verlagsinfo)

„Eine Spurensuche mit Musik und Geräuschen“ nennt der Verlag seine Produktion. Es handelt sich also um ein Sach-Hörbuch.
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Jack London- Südseegeschichten: Die Perle & Der Walzahn (Lesungen)

Nicht so idyllischer Ausflug in die Südsee

In seinen bekannten Südseegeschichten aus dem Jahr 1911 stellt Jack London den weißen Mann den Eingeborenen gegenüber. Zunächst geht es um eine Perle von außergewöhnlicher Schönheit und von hohem Wert, doch im Mittelpunkt steht das Wüten der Urgewalt eines Hurrikans. In der zweiten Geschichte will ein weißer Missionar die Bergstämme der Hauptinsel des Fidschi-Archipels bekehren. Allerdings missachtet er ein paar Vorsichtsmaßnahmen. Ob ihm sein Gottvertrauen da helfen kann?

Der Autor

Jack London- Südseegeschichten: Die Perle & Der Walzahn (Lesungen) weiterlesen

Daniela Wakonigg – Mythos & Wahrheit: König Artus. Eine Spurensuche mit Musik und Geräuschen

Artuslegenden mit hohlem Pathos

Der große König Artus von England gilt in der gesamten abendländischen Welt als Inbegriff eines ebenso starken und siegreichen wie gerechten Königs. Seine Geschichte und die der Ritter seiner Tafelrunde – eine Geschichte voll Heldenmut, Liebe und Verrat, voll mystischer Abenteuer um den heiligen Gral, geheimnisvolle Feen und Zauberer – fesselt die Menschen seit Jahrhunderten.

Wer war dieser außergewöhnliche Mann? Hat es ihn je gegeben? Warum erzählt man sich seine Geschichte noch heute? Und was genau ist eigentlich seine Geschichte? (abgewandelte Verlagsinfo)

Daniela Wakonigg – Mythos & Wahrheit: König Artus. Eine Spurensuche mit Musik und Geräuschen weiterlesen

Wakonigg, Daniela / Harrsch, Peter – Mythos & Wahrheit: Edgar Allan Poe. Eine Spurensuche mit Musik und Geräuschen

_Populäre Poe-Biografie mit begrenztem Ansatz_

Edgar Allan Poe gilt als der große Autor des Düsteren. Mit seinen Schauer- und Detektivgeschichten beeinflusste er die moderne Literatur . Auch heute ist das Interesse an seinem Werk stärker denn je, insbesondere im Bereich des Hörbuchs.

Um Poe und sein Leben ranken sich viele Legenden, nicht zuletzt wegen der fleißigen Fälscherarbeit, die sein Widersacher Reverend Griswold an seinem Nachlass angerichtet hat. Wie viele der Legenden entsprechen der Wahrheit, welche sind nur Mythos? War Poe, wie Griswold behauptete, ein geisteskranker Trinker oder ein Genie, das mit seinen Einblicken in die Untiefen der menschlichen Seele seiner Zeit weit voraus war?

Das vorliegende Hörbuch gehört zu der Sach-Hörbuch-Reihe „STIMMBUCH Mythos & Wahrheit“ und will dem Hörer „spannende historische Spurensuche, untermalt von Musik und Geräuschen“ bieten. Ob das so hinhaut, wie gedacht, wird sich herausstellen.

_Der Autor_

|Sein Leben|

Edgar Allan Poe (1809-49), das Kind verachteter Schauspieler, wurde mit zwei Jahren zur Vollwaise und wuchs bei einem reichen Kaufmann namens John Allan in Richmond, der Hauptstadt von Virginia auf. Während der Vater ihn nie akzeptierte, liebt Edgar seine Ziehmutter, die sich seiner annahm, umso mehr. Von 1815 bis 1820 erhielt Edgar eine Schulausbildung in England. Er trennte sich 1827 von seinem strengen Ziehvater, um Dichter zu werden, veröffentlichte von 1827 bis 1831 insgesamt drei Gedichtbände, die allesamt finanzielle Misserfolge waren. 1828 starb mit Mrs. Allan seine wichtigste Bezugsperson, und er zog zu seiner Tante „Muddy“ Clemm in Baltimore.

Von der Offiziersakademie in West Point wurde er am 28. Januar 1831 verwiesen, sein Bruder William stirbt im August. 1833 gewann er 50 Dollar für seine Story „MS. Found in a Bottle“, die einen Kaufmann auf ihn aufmerksam machte, der ihn förderte. Dadurch konnte er sich als Herausgeber mehrerer Herren- und Gesellschaftsmagazine, in denen er eine Plattform für seine Erzählungen und Essays fand, seinen Lebensunterhalt sichern. Allerdings schuf er sich durch seine scharfen Literaturkritiken zahlreiche Feinde.

1845/46 war das Doppeljahr seines größten literarischen, wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Erfolgs, nachdem am 20. Januar 1845 sein Gedicht „The Raven“ auf größte Begeisterung gestoßen war, und das sowohl bei den Lesern als auch bei der Kritik. Er wurde Vortragsreisender und Partner bei einer Zeitschrift, die allerdings bankrott ging.

Dem Erfolg folgte bald ein ungewöhnlich starker Absturz, nachdem seine Frau Virginia, die Tochter seiner Tante (1822-1847, verheiratete Poe ab 1836, krank ab 1842), an der Schwindsucht gestorben war. Er verfiel dem Alkohol, eventuell sogar Drogen, und wurde – nach einem allzu kurzen Liebeszwischenspiel mit der 45-jährigen Dichterin Sarah Helen Whitman – am 3. Oktober 1849 bewusstlos in Baltimore aufgefunden. Er starb an „Hirnfieber“ am 7. Oktober im Washington College Hospital. (Das Rätsel um seinen Tod wurde jüngst von Matthew Pearl [(„The Dante Club“) 406 zu einem spannenden Roman verarbeitet.)

|Seine Wirkung|

Poe gilt als der Erfinder verschiedener literarischer Genres und Formen: Detektivgeschichte, psychologische Horrorstory, Science-Fiction, Shortstory. Neben H. P. Lovecraft gilt er als der wichtigste Autor der Gruselliteratur Nordamerikas. Er beeinflusste zahlreiche Autoren, mit seinen Gedichten und seiner Literaturtheorie insbesondere die französischen Symbolisten. Seine Literaturtheorie nahm den New Criticism vorweg.

Er stellt meines Erachtens eine Brücke zwischen dem 18. Jahrhundert und den englischen Romantikern (sowie E.T.A. Hoffmann) und einer neuen Rolle von Prosa und Lyrik dar, wobei besonders seine Theorie der Shortstory („unity of effect“) immensen Einfluss auf Autoren in Amerika, Großbritannien und Frankreich hatte. Ohne Poe sind Autoren wie Hawthorne, Twain, H.P. Lovecraft, H.G. Wells und Jules Verne, ja sogar Stephen King und Co. schwer vorstellbar. Insofern hat er den Kurs der Literaturentwicklung des Abendlands maßgeblich verändert.

_Die Inszenierung_

Die Sprecher: Die Stimme des Erzählers gehört Bodo Primus (‚Jonas, der letzte Detektiv‘), den Poe spricht Matthias Haase, Kritiker und andere spricht Hans Bayer, Frauenrollen wie Tante Muddy u. a. werden von Daniela Wakonigg gesprochen. Wakonigg wirkte als Autorin, Übersetzerin, Regisseur und Sounddesignerin an diesem Hörbuch mit. Die Musik und Teile des Sounddesigns steuerte Peter Harrsch bei.

_Inhalte_

1. Mythos Poe
2. Dramatische Kindheit
3. Düstere englische Romantik
4. Jugend in den Südstaaten
5. Erste Schritte in die Freiheit
6. Muddy und Virginia
7. Southern Literary Messenger
8. New York und Philadelphia
9. Virginias Krankheit
10. Aufstieg und Fall des Edgar Allan Poe
11. Der Anfang vom Ende
12. Nur ein Traum in einem Traum

Das Hörbuch beginnt mit einer Szene am Meer, wo das Wellenrauschen die Rezitation der ersten Strophe von Poes Gedicht „Nur ein Traum in einem Traum“ untermalt. Dieses Gedicht beschließt auch das Hörbuch.

Dazwischen liegt die Schilderung von Poes Leben. Während ich es oben sehr knapp zusammengefasst habe, breitet das Hörbuch die Biografie in allen Einzelheiten aus. Schließlich soll hier „Spurensuche“ betrieben werden. Am interessantesten sind Poes schon früh beginnende Liebschaften, sei es in Richmond, wohin er immer wieder zurückkehrt, oder in New York City, wo er beruflich viel zu tun hat. In Richmond lernt er mit 16 die hübsche Almira Royster, 17, kennen, doch deren Vater hintertreibt die heimliche Verlobung und verheiratet „Mira“ kurzerhand anderweitig. Er sieht sie erst wieder kurz vor seinem Tod, woraufhin sie seinen Heiratsantrag akzeptiert. Zur Heirat sollte es nicht mehr kommen …

Seine Affären, seine Ehe und seine späten Ansätze, eine Ehe zu schließen, dauern bis kurz vor seinem Tod (siehe oben). Das lässt nicht gerade – wie andrenorts behauptet – auf einen rücksichtslosen Trinker schließen, und die Tatsache seines literarischen Erfolges in New York City beruht nicht ausschließlich auf dem Glück des von den Göttern begabten Genies, sondern auf harter Arbeit. Auf seinem Vortrag über das Gedicht „The Raven“, das in einer Szene vorgetragen und erläutert wird, erklärt Poe, das Gedicht sei mit mathematischem Kalkül geschrieben worden. Würde man dies von einem Genie erwarten? Wohl kaum.

Angesichts der zahlreichen Schicksalsschläge, die Poe trafen, verwundert es mich nicht, dass er immer wieder in ein tiefes Loch fiel. Dann trank er, rauchte Opium oder lag mit einem Nervenzusammenbruch danieder, gepflegt von seiner Frau oder Tante – wenn er Glück hatte. Nach dem Tod seiner Frau und der Vertreibung aus New York war es ebenfalls nicht leicht, wieder auf die Beine zu kommen, doch noch einmal unternahm Poe den Versuch, eine Ehe zu schließen und eine Familie zu gründen. Die Dame, eine Dichterin, war zwar schon 45 Jahre alt, aber man kann Kinder ja auch adoptieren. Leider wies sie seinen Antrag zurück, nachdem man ihr aus New York abgeraten hatte. Dort war Poe wegen seiner Feinde persona non grata. 1848 unternimmt er deshalb im November einen Selbstmordversuch, der fehlschlägt.

Dennoch wundert es die Historiker, so die Darstellung im Hörbuch, dass Poe schließlich unter so mysteriösen Umständen starb. Als er am 3. Oktober 1849 in Baltimore auf der Straße aufgefunden wird, ist er ohne Bewusstsein. Er deliriert im Hospital und stirbt am 7. Oktober. Die Theorie wird angeführt, dass Poe ein Opfer der damaligen rauen Wahlkampfmethoden wurde. Am 2. Oktober fand eine Wahlversammlung statt, und beim Stimmenfang, dem „Couping“, waren die Wahlhelfer offenbar nicht zimperlich. Sie zwangen offenbar ihre Opfer zur Stimmabgabe für den bevorzugten Kandidaten. Doch wenn Poe verletzt war, warum wurde dann als Todesursache „Hirnfieber“ angegeben?

Nach seinem Ableben scheinen die Literaten, die er sich zu Feinden gemacht hatte, einen Rufmord zu begehen: Fälschung, Unterschlagung, Zensur, Diffamierung – dies gehört zu ihren Methoden. Reverend Griswold, den Tante Clemm unglücklicherweise aus Geldnot zum Nachlassverwalter bestimmte, wütete derart, dass Poe fortan als in Amerika nicht lesbarer Autor gebrandmarkt wurde. Dagegen stieg Poes Stern in Frankreich durch Dichter wie Baudelaire.

_Mein Eindruck_

Eine kurze Zusammenfassung der Biografie findet sich auch im Booklet. Diese ist wesentlich weniger ermüdend als die – eh schon komprimierte – Langfassung, die von Bodo Primus angenehm sachlich und unaufgeregt vorgetragen wird. Die Darstellung wird natürlich in dieser Form nicht den geltenden literaturwissenschaftlichen Ansprüchen gerecht, denn alle Quellenangaben fehlen. Und diese wären das Minimum an Glaubwürdigkeit im Sinne der beanspruchten Spurensuche. Also handelt es sich um eine populärwissenschaftliche Darstellung, die möglichst auch unterhalten soll. Dazu tragen die Musik, die Geräusche und die Szenen wesentlich bei.

Die Konflikte, die Poes Leben auf so unglückselige Weise bestimmt haben, werden immerhin klar und deutlich herausgearbeitet, allerdings oft in wirtschaftlicher Hinsicht, ohne dabei jedoch auf künstlerische Auseinandersetzungen tiefer einzugehen. Das hätte ja eine theoretische Grundlage hinsichtlich Poes Ästhetik erfordert.

|Poes Revolution|

Wir erfahren immerhin, dass Poes Ansatz der Kritik an Literatur revolutionär war: Nicht Moral oder gesellschaftliche Relevanz sollten die Güte eines Werks bestimmen, sondern vielmehr die Qualität der künstlerischen Mittel im Verhältnis zum literarischen Ausdruck, den sie erzeugen. Will heißen: Wer mit Mitteln des Kitsches arbeitet, wird wohl kaum je hohe Kunst von Dauer produzieren. Das ist auch heute noch so. Ein Kunstwerk von Dauer muss in Poes Augen für sich allein stehen können, und so hat er es auch bewertet. Die Folgen waren verheerend: Nicht nur entlarvte er ein Plagiat nach dem anderen, sondern eckte mit einem Dichter- und Kritikerkollegen nach dem anderen an. Die Zeitungsleser mochten zwar seine Kritikfähigkeit und steigerten die Auflage, doch die Abrechnung der Feinde ließ nach Poes Tod – und schon davor – nicht auf sich warten.

Die Kenntnis der Werke Poes wird offensichtlich vorausgesetzt. Hier werden keine Eulen nach Athen getragen. Seine zwei bekanntesten Gedichten hören wir als direktes Zitat: „Der Rabe“ und das ebenfalls von Alan Parson’s Project vertonte „Nur ein Traum in einem Traum“ (A dream within a dream). Wir müssen nicht erfahren, wie diese Texte gemacht wurden, vielmehr scheint es für die Autorin des Textes wichtiger gewesen zu sein, dass wir verstehen, warum sie entstanden und was ihr Inhalt im Kontext von Poes Leben bedeuten kann. In „Der Rabe“ beklagt ein Student den Verlust seiner geliebten Leonore, doch der schwarze Unglücksbote nimmt ihm Schritt für Schritt jede verbliebene Hoffnung. Jedes weitere „Nevermore / Nimmermehr!“ fährt dem Studenten wie auch dem Leser / Zuhörer (früher wurden Gedichte noch vorgelesen) wie ein Dolchstoß ins Herz.

Dass Poe jede Menge lieber Menschen verlor, habe ich bereits erwähnt, und so ist der Zusammenhang offensichtlich. Aber warum bediente sich Poe dann einer mathematischen Methode, um seinen Seelenschmerz zu verarbeiten? Wir erfahren es nicht.

Meine eigene Theorie: Die Distanzierung durch die literarische Strenge der Kompositionstechnik dient nicht nur der leichteren Verarbeitung des Schmerzes, sondern erzeugt darüber hinaus den gewünschten maximalen Effekt beim Leser. Die Unerbittlichkeit des Raben steht im dramatischen Gegensatz zu der Seelennot des Studenten und lyrischen Ichs, so dass aus dieser Kluft eine aufrüttelnde Diskrepanz entsteht, die beim Leser ihre als tragisch empfundene Wirkung nicht verfehlt. Andere Dichter hätten mit kitschigen Worten an das Mitgefühl des Publikums appelliert – und hätten dabei nur abgedroschen klingen können. Die Wahl der ästhetischen Mittel entschied also über den immensen Erfolg des „Raben“, der bis heute zur amerikanischen Pflichtlektüre gehört. Wer Christopher Lee und Ulrich Pleitgen das Gedicht hat vortragen hören – etwa auf [„Visionen“ 2554 – der weiß auch, warum.

_Die Inszenierung_

Gedichtrezitationen und das Verlesen von Briefen und Artikeln wechseln sich mit Poes eigenen Worten und den Szenen ab, die den Text auflockern. Die Vorlesung über „The Raven“ ist dafür das beste Beispiel. Die Zuhörer husten und räuspern sich, während der verehrte Dichter ihnen seine erstaunliche Methode erklärt: Mathematik statt dichterischer Inbrunst! Wer hätte das erwartet.

_Unterm Strich_

Diese populärwissenschaftliche Darstellung bietet demjenigen, der Poe und sein Werk kennen lernen will, einen leicht verständlichen, aber begrenzten Zugang. Während das Leben in all seinen Verästelungen und Konflikten gut ausgeleuchtet wird, bleibt doch das meiste des Werks im Dunkeln. Offensichtlich wird dessen Kenntnis weitgehend vorausgesetzt. Das ist keine unberechtigte Annahme, denn wer mehrere von Poes Erzählungen gelesen oder gehört hat (die Filme werden heute kaum noch gezeigt), will sich vielleicht nun endlich auch dem Menschen Poe nähern.

Umgekehrt funktioniert der gebotene Ansatz nur sehr begrenzt. Dies würde nämlich einen literaturkritischen Ansatz erfordern, der darüber Auskunft erteilt, wie welche Werke aus heutiger Sicht einzuordnen und zu bewerten sind. Welche wissenschaftliche Autorität würde sich mit welchem der möglichen Ansätze dazu bereitfinden?

Ein weiteres Problem ist die Quellenlage. Der Text erwähnt es ja selbst, dass Poes Werke und auch sein Nachlass intensiv gefälscht und zensiert wurden. „Das Fass Amontillado“ beispielsweise liegt bis zum heutigen Tag nur in der von Rev. Griswold zensierten Fassung vor. Das Quellenproblem braucht von der Autorin und Herausgeberin Daniela Wakonigg nicht behandelt zu werden, weil die Poe-Texte kaum vorkommen. Die paar Zeilen aus „Ein Traum in einem Traum“ und „Der Rabe“ dürfen immerhin als gesichert gelten.

(Ich versuche mir vorzustellen, wie Wakonigg die Zensur der Nietzsche-Werke handhaben würde. Entweder geht sie wie bei Poe vor und verschweigt das meiste oder sie zitiert aus dem gefälschten Nachlass. Option Nr. 1 ist eindeutig vorzuziehen.)

Solange sich der Hörer der Begrenztheit des Ansatzes bewusst ist, bietet das Hörbuch einen vertretbaren Zugang zu Leben und Werk des Autors. Selbst mir als Anglist und Poe-Fan eröffneten sich noch neue Aspekte, insbesondere hinsichtlich des Literaturstreits in New York, den Poe entfachte. Und es hat mich dazu angeregt, mich näher mit Poes Literaturtheorie und dem philosophischen Essay „Heureka“ zu beschäftigen.

Es wäre zu begrüßen, wenn der Verlag auf seiner Website entsprechende Links zur Verfügung stellen würde. Per Suchmaschine stößt man schnell auf die Erzählungen, die sämtlich online zur Verfügung stehen. Aber Links zu Sekundärliteratur in deutscher Sprache sind etwas schwieriger zu finden. Hier kann sich der Verlag als Helfer beweisen.

Hinweis: Auf Amazon.de gibt es von jedem Kapitel eine Hörprobe im Realplayer-Format und auf www.stimmbuch.de eine im MP3-Format.

|76 Minuten auf 1 CD
Aus dem US-Englischen übersetzt von Daniela Wakonigg|
http://www.stimmbuch.de

Oscar Wilde – Lord Arthur Saviles Verbrechen

Aufgespießt: die Verblendung der höheren Stände

In Lord Arthur Saviles Hand steht ein Verbrechen geschrieben: Mord! Dieser Auffassung ist zumindest Mr. Pdgers, ein Wahrsager, der mit seiner Kunst die Gäste von Lady Windermere unterhält. Wenig unterhaltsam ist seine Prophezeiung allerdings für Sir Arthur, der sich nun unentwegt die Frage stellt, an wem er dieses Verbrechen begehen wird, das ihm so offensichtlich vorherbestimmt ist.

Der Autor

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Arthur Schnitzler / Daniela Wakonigg – Die Weissagung (inszenierte Lesung)

Wenig unterhaltsam: psychologischer Realismus

Vor zehn Jahren hat ein Wahrsager Herrn von Umprecht einen Blick in die Zukunft gewährt: er selbst tot auf einer Bahre. Seitdem führt Umprecht ein Leben in Furcht und versucht, jenem Augenblick aus dem Weg zu gehen. Aber nichts, was er tut, scheint die Erfüllung der Weissagung abwenden zu können.

Da bekommt er das Angebot, in einem Theaterstück mitzuspielen, in welchem er am Ende tot auf einer Bahre liegen soll. Ist dies der Augenblick in seiner Zukunft, den ihm der Wahrsager geweissagt hat?

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