Tanith Lee – Vazkor (Birthgrave-Trilogie 2)

König Oedipus als Actionheld und Zauberer

Jahrtausende nach dem Ende der Zivilisation wird die Welt von wilden Stämmen beherrrscht, den Krarls. Unter ihren Kriegern tut sich Tuvek hervor, der als einziger im Stamm schwarzes Haar besitzt. Als seine Mutter gestorben ist, offenbart ihm die Heilerin, dass er keineswegs der Sohn des Häuptlings ist, sondern das untergeschobene Kind einer fremden Sklavin: Vazkor. Nun muss er nach seiner wahren Bestimmung suchen, nach seiner wirklichen Mutter.

Die Autorin

Die englische Autorin Tanith Lee, geboren 1947, arbeitete zunächst für die British Broadcasting Corporation, besser bekannt als BBC. Ihr gelang 1971 nach ihrem Debüt „The Dragon Hoard“, einem Jugendbuch, mit der Birthgrave-Trilogie (siehe unten) der internationale Durchbruch. Darin erzählt sie von den letzten Überlebenden der Alten Rasse, die vor Äonen die Erde beherrschte – es ist eine Erde, in der die heutige Zivilisation längst untergegangen und von wilden Stämmen abgelöst worden ist. Diese epische Fantasy steht gleichwertig neben der von Katherine Kurtz (Deryni-Zyklus) und C. J. Cherryh (Morgaine-Zyklus). Sie starb 2015.

Birthgrave-Zyklus:

1) Im Herzen des Vulkans (1979; The Birthgrave, 1975)
2) Vazkor (1979, Vazkor, Son of Vazkor, 1978)
3) Die weiße Hexe (1980, Quest for the White Witch, 1978).

Handlung

In der wilden Welt der Stämme wächst Tuvek zu einem herausragenden Krieger heran, der sich vor allem durch seine Intelligenz auszeichnet. Aber ist er wirklich der Sohn, den der rothaarige Häuptling mit der schwarzhaarigen Tathra gezeugt hat? Auch Tuvek ist schwarzhaarig, während alle anderen hell- oder rothaarig sind. Er muss sich an seinem 14. Geburtstag in der Mannbarkeitsprüfung gegen übelwollende Rivalen durchsetzen – und besiegt sogar gestandene Männer. Zudem verschwinden die obligatorischen Tätowierungen aus seiner Haut: Seine Selbstheilungskräfte sind ebenfalls ungewöhnlich.

Er nimmt die widerspenstige Chula zur Frau und erringt Ruhm in den ständigen Kämpfen gegen andere Stämme. Doch dass ein bloßes Marmorstandbild ihn mal bezaubern könnte, hätte er nicht erwartet. Das Mädchen ist lieblicher als alles, was er je gesehen hat. Ist er zu Höherem berufen, als unter den Stämmen zu versauern, fragt er sich.

Demizdor

Als ein völlig fremder Stamm die Versammlungsstätte aller Krarls angreift und mit seinen Donnerrohren ganze Kriegerscharen niedermäht, bleiben nur wenige am Leben. Da ihm sein Vater, der Häuptling, die Unterstützung verweigert, bricht Tuvek allein auf, um die Sklavenjäger aus dem Westen zur Rechenschaft zu ziehen. Er dringt in ihre Festungsruine ein, denn er kennt wie durch Magie, die ihm sich zu erinnern hilft, ihre Sprache.

Verkleidet und maskiert tritt er unter die zusammengewürfelten Söldner, Sklaven – und Offiziere. Diese tragen bronzene, silberne oder goldene Masken, meist von Falken oder Adlern. Entsetzt nennen ihn die Söldner und Offiziere „Vazkor“, als sei dies ein hochrangiger Titel. So kann er die Unterwürfigen leicht besiegen.

Im letzten Zelt, das er und seine befreiten Stammensangehörigen betreten, haben sich drei goldmaskierte Prinzen in ihre Schwerter gestürzt, um der Schande der Niederlage zu entgehen. Doch sie haben eine schöne junge Frau zurückgelassen – die nun ihren Dolch nach ihm schleudert. Er entgeht der Waffe, überwältigt die Frau und nimmt sie in Besitz. Sie nennt sich Demizdor. Nach seiner Rückkehr zum Stamm nimmt er sie zur neuen Hauptfrau, denn sie löst die verstoßene Chula ab. Das gibt böses Blut.

Offenbarung

Fortan sind Demizdor und er in einer schicksalhaften Verbindung verstrickt. Zwei wundervolle Monate sind sie zusammen, um ihre Liebe leben zu können. Sie entstammt den Städtern des Westens, doch er muss seine wahre Herkunft erst noch entdecken. Das erfolgt, sobald seine Mutter Tathra bei der Geburt eines weiteren Kindes gestorben ist. Die blinde Heilerin enthüllt ihm nun, was Tathra ihr aufgetragen hat: seine wahre Herkunft. Demnach ist er der Sohn einer weißhaarigen Sklavin, die nach Westen ging und hier ihren Sohn zurückließ (siehe Band 1: „Im Herzen des Vulkans“). Sie wurde die Gefährtin eines Mannes, den man in den Ländern des Westens bald als Vazkor, den Eroberer, kannte – und fürchtete…

Unbekanntes Licht

Erfüllt von diesem Wissen, das er bereits in Andeutungen vorausgeahnt hat, betritt Tuvek wütend das Zelt des trauernden Häuptlings und fordert ihn heraus. Doch der Kuss kalten Eisens ist für dieses „fette Schwein“ zuwenig, scheint ihm, und so lässt er eine bis dahin ungekannte Macht seinen Geist erfüllen. Ein blendendes Licht erfüllt die Hütte, der Häuptling schreit auf – und Tuvek fällt ins Koma. Er hat den Häuptling mit der Macht seines Geistes getötet. Also muss er ein mächtiger Zauberer sein. Und Zauberer legt man besser in Ketten.

Er erwacht in der folgenden Nacht, als die Tore zur Geisterwelt offenstehen: Sihharn. Tuvek ist an einen Pfahl gefesselt, ebenso wie Demizdor. Der Priester macht sich gerade bereit, ihn zu töten, als unbekannte Hufschläge den Boden erzittern lassen. Sind es die Geister der Toten, die kommen, ihn für sein Verbrechen in die Hölle zu holen?

Mein Eindruck

In der Folge lernt Tuvek das Volk seines Vaters kennen – und bekämpfen. Dies ist der zweite Band der Vazkor-Trilogie, und wie ich herausfand, ist es sehr empfehlenswert, zunächst einmal den ersten Band „Im Herzen des Vulkans“ gelesen zu haben, bevor man in „Vazkor“ einsteigt. So eigenständig wie erhofft ist diese Geschichte nämlich doch nicht. Gerade bei der zentralen Frage nach der Herkunft und Abstammung des Helden wird ständig auf den Vorgängerband verwiesen. Band 3 schließt nahtlos an Band 2 an. Man sollte also die Reihenfolge einhalten.

Alternativen

In der Vazkor-Trilogie sehen sich Abkömmlinge von wirklich göttlichen Wesen mit einer heruntergekommenen Zivilisation konfrontiert. Theoretisch können sie diese mit ihren Kräften verändert. Sie könnten sie auf eine höhere Stufe heben, doch es stellen sich ihnen zahlreiche Gegner in den Weg: Selbstsucht, Machtgehabe, Verlustangst herrschen allenthalben, und so etwas wie Würde, Gemeinschaftssinn und Liebe scheint keine Chance zu haben.

Die Geschichte Vazkors, der am falschen Ort in der falschen Zeit lebt, macht den Leser deshalb mit mehreren verschiedenen Gesellschaftsformen bekannt. Er soll sich wohl die am besten geeignete heraussuchen. Aber welche ist die beste, wenn es um das Eigenwohl oder das Gemeinwohl geht? Individuum vs. Gemeinschaft – wo liegt die optimale Balance?

Unter den Stämmen herrscht eine simple Hierarchie: Die Stärksten und Reichsten beherrschen alle anderen, und die Männer beherrschen die Frauen. Einzige Ausnahme ist der Priester, der selbst auf den Häuptling Einfluss hat. Unter den Städtern sieht es leider nicht viel anders aus: In Eshkorek, wohin sie Vazkor verschleppen, herrschen lediglich drei Fürsten, doch nie etwa gemeinsam, sondern gegeneinander.

Kein Wunder also, dass sich die fürstlichen Banden immer wieder das eine oder andere wertvolle Gut abjagen. So kommt es, dass Vazkor den besitzer wechselt. Fortan darf er als ungefesselter Sklave Pferde zureiten. Als ihm ein Goldmaskierter einen vergifteten hengst zum Zureiten gibt, beruhigt Vazkor mit seiner Geisteskraft erst das Tier. Dann tötet er den Missetäter, was ihm natürlich die Todesstrafe einbringt. Dank Demizdors gelingt ihm die Flucht.

Götter und Pazifisten

Auf der Flucht lernt er zwei weitere Gesellschaftsformen kennen. In einem sehr langen und sehr großen Tunnel entdeckt er riesige Kammern, die mit bildlichen Darstellungen gespickt sind. Sie zeigen das göttliche Volk seiner Mutter, umgeben von vielen winzigen Sklaven. Diese weißhaarigen Götter herrschten wie selbstverständlich absolutistisch über den Rest der Welt. Der Leser kann darin eine Parallele zu den Kolonialherren des 18. und 19. Jahrhunderts sehen, die andere „Rassen“ ausbeuteten. Aber alle diese Götter sind verschwunden – bis auf Vazkors Mutter Uastis, die noch irgendwo im Süden der Welt zu leben scheint.

Das erfährt er von den friedliebenden Küstenbewohnern, bei denen er nach einer ereignisreichen und blutigen Verfolgungsjagd Unterschlupf findet. Diese netten Leute sind allesamt Vegetarier, die nicht einmal den Fisch aus dem nahen Meer fangen. Sie haben nur einen Anführer, den weisen, alten Peyuan. Er hat eine gewitzte Tochter, die ihrem Volk als Heilerin dient. Hwenit-Uastis ist die ungewöhnlichste Frauengestalt dieses an Frauenfiguren reichen Romans.

Ihre ungewöhnliche Eigenart, auf die Tuvek erst im Verlaufe seiner Affäre mit ihr stößt, besteht darin, dass sie zwei grundverschiedene Persönlichkeiten in sich vereint: Bei Tag ist sie vernünftige Uastis, also eine erwachsene Heilerin. Bei Nacht ist sie jedoch die emotionale, launische Hwenit, die scharf auf den ungebundenen fremden Mann ist und ihm allerlei Streiche spielt. Sie hat aber nicht bedacht, dass auch ihr Bruder Qwef sie liebt. Auf einer Insel, einem sicher scheinenden Zufluchtsort für Tuvek, kommt es dann zur Krise – die zwei letzten Verfolger haben Tuvek eingeholt.

Heldenreise

Seit Homers „Odyssee“ und dem Gilgamesch-Epos, also seit Tausenden von Jahren, gibt es das Muster der Heldenreise, das in den Heldenepen umgesetzt wird. Zum Muster, das Joseph Campbell in seinem Buch „Der Held mit den tausend Masken“ beschrieben hat, gehört beispielsweise, dass der Held elternlos aufwächst. Die Eltern wurde ihm auf irgendeine Weise genommen und er (oder sie) wächst bei Ersatzeltern auf. Frodo Beutlin beispielsweise hat seine Eltern bei einem Bootsunfall auf dem Brandywein-Fluss verloren und wächst bei seinem Onkel Bilbo auf. Der besitzt einen bemerkenswerten Ring…

Diese Bedingung wird auch von Tuvek alias Vazkor erfüllt. Seine Eltern sind ein städtischer Eroberer und eine göttliche Mutter. Die zweite Bedingung ist eine Aufgabe: Der held muss wie weiland Herakles irgendwelche Aufgaben erfüllen, um sich zu bewähren und als Mann zu beweisen. Bevor er als König seinen Ersatzvater ablösen und das Mädchen seines Herzens kriegen kann, muss er jedoch erst die Schwelle des Todes überschreiten und zurückkehren. Odysseus geht in die Unterwelt, um sich von dem blinden Seher Teiresias weisen Rat zu holen. Die Unterwelt, die Tuvek betritt, ist weniger gefährlich: Es ist der lange Tunnel, in dem einst die Götter lebten.

Die Mutter

In vielen Epen fehlt die Mutter des Helden. Bei Odysseus wird sie nie erwähnt, und bei Frodo taucht sie nie auf. Die Mutter Artus‘ ist Igraine, die von Uther Pendragon einem anderen Fürsten geraubt wurde – dumm gelaufen. Zur Zeit seiner Mannwerdung ist Igraine schon längst im Kloster – oder auf der Insel Avalon, je nach Version. Tuveks Mutter ist zunächst die bemerkenswert realistisch und anrührend gezeichnete Tathra, die Frau des Häuptlings. Doch seine wahre Mutter muss er erst noch suchen. Die Legenden sind nicht wirklich zufriedenstellend: War sie nun eine Sklavin oder eine Göttin oder beides? (Die Antwort liefert der Band „Im Herzen des Vulkans“.)

Sex

Man sieht also, dass sich die Autorin, die ja beim Verfassen dieser Trilogie immerhin schon 30 oder 31 Jahre alt war und bereits ein halbes Dutzend Geschichten veröffentlicht hatte, bestens mit Gesellschaftsformen, Frauenbildern und dem Muster der Heldenreise auskannte. Bei ihr spielen Verwandlungen eine wichtige Rolle, also Übergänge nach wichtigen Erkenntnissen und Begegnungen.

Dazu gehört besonders auch Sex. Körperliche Liebe ist bei der Autorin erfreulicherweise stets heterosexuell, aber leider eben auch nichtkonsensuell, also Vergewaltigung, oder inzestuös, etwa zwischen Mutter und Sohn oder Brüderlein und Schwesterlein, etwa zwischen Hwenit und Qwef. Politisch korrekt war Tanith Lee selten. Und was das Verhältnis von Gut und Böse angeht, so enthält sie sich eines Urteils. Häufig enden ihre Geschichten in einem vorläufigen Gleichgewicht zwischen den Mächten von Gut und Böse.

Die Übersetzung

Thomas Schlück hat, so scheint es, den Start der Fantasyreihe des Heyne-Verlags im Alleingang gestemmt: Von ihm stammen anfangs alle Übersetzungen von Fritz Leiber, T. Lee, John Norman (Gor) und Alan Burt Akers, um nur ein paar Autoren zu nennen. Das ist zunächst nicht schlecht, denn er hat einen anschaulichen, mitreißenden Stil. Eins-zu-eins-Übernahmen aus dem Original halten sich sehr in Grenzen. Aber ich stieß auch auf Fehler.

S. 72: „topazgrün“: Ein Topas ist ein Halbedelstein, der zwischen gelb und braun changiert, aber keineswegs in Grün.

S. 241: „Sie war[en] am Meer entlanggegangen…“ Es handelt sich um mehr als eine Person.

S. 244: „Schmerz und Bösheit“. Heute schreibt man nur noch „Bosheit“.

S. 200: Hier befindet sich ein sprachlicher Logikfehler, wie mir scheint. Ein Reiter ohne Pferd ist „halb so langsam und um die Hälfte verwundbarer als vorher“. Der Reiter ist nicht nicht halb so langsam, denn dann wäre er ja doppelt so schnell. Vielmehr ist er ohne sein Ross halb so SCHNELL und doppelt so VERWUNDBAR wie ohne es.

Die Illustrationen

Die Schwarzweiß-Zeichnungen von Johann Peterka heben die Dynamik von Action heraus und reduzieren das Geschehen auf die wichtigsten Figuren, ohen an Schönheit oder Eleganz einzubüßen. Diese Illustration gefallen mir viel besser als die beinahe holzschnitthaften Zeichnungen von Hubert Schweizer, die man im Band „Im Herzen des Vulkans“ findet.

Eine Landkarte fehlt in „Vazkor“. Um sich zu orientieren, sollte man die Landkarte in „Im Herzen des Vulkans“ heranziehen. Die Landkarte im Band „Die weiße Hexe“ zeigt die ganze Welt und wäre für „Vazkor“ nicht detailliert genug.

Unterm Strich

Der Leser und besonders die Leserin sollte sich von dem martialischen Titelbild nicht irreführen lassen. Es diente lediglich der PR-Abteilung des Verlags, die diesen Band als CONAN-Abklatsch unters Volk bringen wollte. Nichts könnte verkehrter sein. Denn Tuvek, der später mit dem Titel „Vazkor“ bedachte Held, ist kein blutdürstiger Schlagetot und Haudrauf, sondern vielmehr ein intelligenter Stammeskrieger, der herausfindet, dass er eigentlich der Sohn einer Göttin und folglich zu Höherem berufen ist. Das stürzt ihn in mehrere Konflikte der Identität und der Zugehörigkeit. Seine Liebe zu Demizdor setzt ihn zwischen alle Stühle. Da er fortan nach seiner Mutter suchen muss, um ihr ein paar Fragen zu stellen, wird er zu einer Gestalt wie König Oedipus.

Heldenreise

Seine Heldenreise, teils Eroberungszug, teils Flucht, führt ihn durch vier Gesellschaftsformen und lässt ihn mehreren interessanten Frauen begegnen. Von vielen Heldengeschichten hebt sich „Vazkor“ ab, indem es eine glaubhafte und anrührende Mutterfigur auftreten lässt. Mütter, so die Botschaft, haben es in einer patriarchalischen Gesellschaft, wie es sie seit etwa drei- bis fünftausend Jahren im Mittelmeerraum gibt, besonders schwer – wie schwer, lässt sich an Tathra ablesen. Das machte mich neugierig, ob das Schicksal von Vazkors göttlicher Mutter Uastis ein besseres Los war. Ich habe den ersten Band angefangen, aber die Jury ist noch in der Beratung, das Urteil folgt später.

Kurzum, dieser Mittelband der Trilogie eignet sich zum einen für Actionfreunde, aber auch für Leser, die eine abwechslungsreise Heldenreise mit vielen amourösen Abenteuern zu schätzen wissen. Der Humor hält sich leider stark in Grenzen und blitzt nur in Vazkors sarkastischen Reden auf, die er gerne als Sklave und Gefangener hält. Aber schwarzer Humor ist ja die Spezialität britischer AutorInnen.

Taschenbuch: 253 Seiten
Originaltitel: Vazkor, Son of Vazkor, 1978
Aus dem Englischen von Thomas Schlück
ISBN-13: 9783453305502

www.heyne.de

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