Von Golems, Homunkuli und anderen unheimlichen Lebewesen
Weitere Geschichten Ted Chiangs, die uns die Augen öffnen sollen:
– Eine neue Gentechnologie, die auf den Ideen der Alchimie basiert;
– der Zweikampf zweier Supergehirne;
– der Lebenszyklus von künstlichem Leben aus dem Computer;
– der Junge, der nur Maschinen mochte;
– und einige andere mehr.
„Kein anderer Science-Fiction-Autor hat in den letzten zwanzig Jahren auch nur ansatzweise so viel Begeisterung ausgelöst wie Ted Chiang. Kein anderer Science-Fiction-Autor wurde für ein so schmales Werk mit mehr Preisen ausgezeichnet.“ „Nach ‚Die Hölle ist die Abwesenheit Gottes‘ macht der zweite Storyband des vielfach preisgekrönten US-amerikanischen Autors weitere Kostbarkeiten endlich auch deutschen Lesern zugänglich.“ (Verlagsinfo)
Der Autor
Ted Chiang ist sudierter Informatiker. Er arbeitet als technischer Redakteur in der Software-Industrie und lebt in Bellvue in der Nähe von Seattle. Ich habe Bellvue im Mai 2013 besucht, denn es liegt unweit des Campus von mehreren Tochterfirmen Microsofts. Ich kann nur sagen: Hier lässt sich bestens essen, einkaufen, amüsieren und informieren – und was das Arbeiten angeht: Alle sind selbstverständlich vernetzt.
Weitere Werke: “ Die Hölle ist die Abwesenheit Gottes“ (dt. bei Golkonda); siehe dazu meinen Bericht.
DIE ERZÄHLUNGEN
1) Verstehen (Understand, 1991)
Der Holografie-Designer Leon Greco ist bei einem Unfall unter Wasser geraten und war lange Zeit bewusstlos, so dass sein Gehirn aufgrund des Sauerstoffmangels einen bleibenden Schaden erlitt, bevor man ihn rettete. Mittlerweile befindet er sich in der Behandlung mit dem künstlichen Hormon K, das ihm Dr. Hooper an einer Bostoner Klinik verabreicht. Die Injektion erfolgt direkt ins Rückenmark. Hormon K regt die Regeneration geschädigter und die Bildung neuer Hirnzellen an.
Während er nachts immer wieder von seinem Unfall Alpträume bekommt, merkt er, dass er tagsüber viel besser arbeiten kann als früher. Tatsächlich kann er mehrere Tätigkeiten gleichzeitig gleich gut verrichten, ohne dass die eine Aktivität die andere beeinträchtigt. Ist Hormon K dafür verantwortlich? Statt einer Antwort schickt Dr. Hooper Greco zu dem Neurologen Dr. Shea, der ein noch viel größerer Geheimniskrämer ist.
Immerhin kriegt Greco heraus, dass er beileibe nicht der erste oder einzige Patient ist, dem man Hormon K verabreicht hat. Aber was ist aus den anderen geworden? Gab es tödliche Nebenwirkungen? Dr. Shea schweigt eisern. Daher beschließt Greco, die Sache in die eigene Hand zu nehmen und hackt sich über die primitiven Computersysteme, die sein neues Hirn aus dem Effeff versteht, in die entsprechenden Datenbanken ein. Und siehe da: Es gibt tatsächlich etliche weitere Patienten; leider endeten einige davon durch Selbstmord oder Unfälle, nachdem sie zwei Injektionen erhalten hatten. Was würde aber passieren, wenn er sich selbst eine dritte Spritze gäbe, fragt sich Leon? Würde er SUPERMAN werden?
Der Diebstahl selbst einer einzigen Ampulle Hormon K stellt sich als riskantes Unterfangen heraus, das einem Einbruch in Fort Knox in nichts nachsteht. Schnell wird Leon klar, dass hinter Hormon K die CIA steht: Dr. Shea sollte ihn rekrutieren, um eine Art Superagent zu werden. Nun jedoch herrscht in den nationalen Sicherheitssystemen Alarmstufe Rot. Überall fahnden das FBI und andere Polizisten nach ihm. Er muss untertauchen und in der Datenbank seine Spuren verwischen. Leon Greco hört auf zu existieren.
Wirklich? Eines Tages checkt Leon wieder mal seine Aktienkurse und ihm klappt fast die Kinnlade herunter, als er feststellen muss, dass fünf seiner Firmeninvestitionen schwere Verluste hinnehmen mussten. Ihre Anfangsbuchstaben lauten G, R, E, C und O. Aber wer ist so schlau, sich über Kursmanipulationen zu erkennen zu geben, die nur ein anderes Superhirn erkennen und korrekt verstehen kann?
Mein Eindruck
Es kommt zu einem Zweikampf der beiden Superhirne. Denn obwohl sie beide die Welt, das Universum und den ganzen Rest komplett verstehen, so lassen sich doch die Ziele der beiden nicht miteinander vereinbaren. Es ist, als wollte man zwei Konstruktionsmethoden oder Kunstgenres miteinander kombinieren. Leon Grecos ganzes Streben ist auf die Schaffung von mehr intellektueller Schönheit gerichtet. Er hat eine komplett neue, viel leistungsfähigere Sprache erfunden, um selbst komplexeste Sachverhalte begreifen und verarbeiten zu können.
Das hat auch sein Gegner, Reynolds, geschafft, aber bei ihm ist Intelligenz kein Selbstzweck, sondern nur Mittel zum Zweck der Verbesserung der sozialen, politischen und wirtschaftlichen Verhältnisse auf unserem blauen Planeten. Was für eine elende Verschwendung von Zeit und Mühe auf ein hoffnungsloses Ziel, denkt sich Greco.
Die Frage, wie zwei einander ebenbürtige Superintelligenzen sich bekämpfen und sogar besiegen können, wird in einem packend geschilderten Showdown beantwortet. Reynolds behauptet, er könne Greco mit einem einzigen Wort vernichten. Greco glaubt ihm natürlich keie Sekunde, hat aber leise Zweifel. Er hat sämtliche Vorsichtsmaßnahmen getroffen, die ein Superverstand nur vornehmen kann.
Doch die Antwort auf die Frage, wie die Sache ausgeht, findet sich auch in Max Barrys tollem Thriller „Logoland“ (siehe meinen Bericht dazu): Es gibt – mehr oder weniger künstliche, aber stets individuell wirksame – Worte, die, einmal ausgesprochen, den Verstand des Gegenübers lähmen und übernehmen können. Das muss Greco am eigenen Leib erfahren. Die Geschichte geht diesmal nicht gut für ihn aus. Aber wenn wir Reynolds Standpunkt einnehmen, dann sollten wir Hoffnung schöpfen. Einen wohlwollenden Gott – wollen das nicht alle Religionen?
2) Geteilt durch Null (Division by zero, 1991)
Teilt man eine natürliche Zahl durch null, ist das Ergebnis nicht unendlich. Es ist vielmehr „undefiniert“. Daher lässt sich beweisen, dass 1 = 2 ist. Und das ist gefährlich…
Renee ist eine herausragende Mathematikerin. Indem sie alle unbewiesenen und unbeweisbaren Sätze der Mathematik durchgeackert hat, ist sie auf ein weiteres Axiom gestoßen. Und dieses Axiom, wonach 1= 2 und alle anderen Zahlen sein kann, hat sie um den Verstand gebracht.
Carl ist Biologe und Renees Mann. Er besucht sie täglich in der psychiatrischen Klinik, in die sie eingeliefert wurde, nachdem sie versucht hat, sich umzubringen. Er denkt, er weiß genau, wie sie sich fühlt, denn vor 20 Jahren unternahm er selbst mal einen Suizidversuch. Die geschlossene Abteilung kann ein Alptraum sein, aber er tut trotzdem das, was er als seine Pflicht erachtet. Er tut es nicht aus Liebe. Heute wird sie jedoch entlassen, weil sie es schafft, ihre Mathekünste beim behandelnden Arzt wirken zu lassen.
Doch die Rückkehr ändert nichts, wie Carl bald feststellt. Das Angebot, in Urlaub zu fahren, wird desillusioniert abgelehnt. Renee ist nicht geheilt, gibt es aber nicht zu. Carl fühlt sich ausgesperrt, und das erzeugt in ihm Panik. Doch als er die Tür zu ihrem Schlafzimmer aufgebrochen hat, sieht er, dass sie noch am Leben ist. Er atmet auf. Vorerst.
Endlich, nach quälenden Wochen, in denen ihre wissenschaftliche Arbeit von Kollegen geprüft und für gut befunden worden ist, lässt sich Renee wieder auf Gefühle ein. So etwa auf das Gefühl, das sie für Carl hat. Sie signalisiert, dass sie nachgibt, doch die Reaktion Carls ist nicht ganz die, die sie erwartet hat…
Mein Eindruck
Die psychologisch hintergründige und mathematisch höchst beschlagene Erzählung wird auf drei Ebenen erzählt. Wir lernen den Blickwinkel kennen, den jeweils Renee und Carl einnehmen, aber auch den Standpunkt der Mathematik. Die Arithmetik, die sich unter anderem mit den bekannten Grundrechenarten beschäftigt, ist keineswegs so widerspruchsfrei und konsistent, wie die Lehrer in der Schule uns immer weiszumachen versuchten.
Albert Einstein hat diese Tatsache einmal auf seine ironische Weise auf den Punkt gebracht: „Insofern sich die Sätze der Mathematik auf die Wirklichkeit beziehen, sind sie nicht sicher, und insofern sie sicher sind, beziehen sie sich nicht auf die Wirklichkeit.“ Weitere Zitate von Mathe-Genies wie Gödel, Hilbert, Russell usw. belegen nur, dass die Arithmetik Lug und Trug ist, wenn man sie auf die Wirklichkeit loslässt.
Das Unglück, das Renee und Carl erleben, ist wohl darauf zurückzuführen, dass sie Bekanntschaft mit Selbstmord gemacht haben. Sie haben die Liebe aufgegeben, weil diese Hoffnung und Glaube voraussetzt. Renee hat den Glauben an ihre Mathematik und somit den Boden unter den geistig-seelischen Füßen verloren. Carl verliert den Glauben an Renee und agiert nur noch aus Pflichtgefühl. Es gibt keine Brücke mehr, die ihnen eine Liebe bauen könnte, an die keiner von ihnen glaubt. Die Division durch null verrichtet ihr Zerstörungswerk nicht nur in der Arithmetik, sondern auch in der Liebe.
3) Zweiundsiebzig Buchstaben (Seventy-two letters, 2000)
Die Viktorianer, im Bunde mit den Franzosen, haben die Aufklärung nie erlebt und frönen ungeniert und eifrig den Techniken der Alchimie, die sie allerdings „Naturphilosophie“ nennen. Von wissenschaftlichen Methoden also keine Spur. Daher werden auch allenthalben männliche und weibliche Golems hergestellt, sei es für schwere Arbeiten oder für erotische Dienste.
Für Puppen und Golems interessiert sich Robert Stratton schon seit seinen Kindheitstagen ganz besonders. Denn das Besondere an Golems ist, dass sie programmierbar sind. Ein einfacher Zettel mit 72 Buchstaben – der NAME – wird in einen Schlitz des fabrikneuen Golems gesteckt und schon weiß das künstliche Wesen, was es tun muss. Die Welt der NAMEN ist allerdings ebenso geheimnisvoll wie tiefgründig, und deshalb besucht Robert die Universität, um das Fachgebiet der NOMENKLATUR zu erforschen. Er entwickelt neue Namen aus bestimmten Komponenten, „Epitheta“ (Attribute) genannt, und sucht nach umfassenden Namen für Klassen und Spezies, die „Euonyma“ genannt werden.
Aber Robert Stratton kann auch die üblen Missstände in der Metropole London sowie die krassen Unterschiede zwischen der winzigen herrschenden Klasse und der vielköpfigen Klasse der Armen nicht übersehen. Er hat ein Gewissen, und dieses Gewissen drängt ihn dazu, seine Erfindung des fingerfertigen Golems auch der Unterschicht zur Verfügung zu stellen. Unerwarteterweise stößt er auf heftigen Widerstand, und zwar ausgerechnet von jenen Leuten, deren Los er eigentlich verbessern will: den Bildhauern.
Die Bildhauer, geleitet von einem Meister namens Willoughby, stellen die Gussformen her, aus denen die verschiedenen Golem-Typen hergestellt werden. Sie haben also eine zentrale Bedeutung, und das nutzen sie aus. Strattons Plan, einen Golem herstellen zu lassen, der andere Golems zusammenbauen soll, würde jedoch in Willoughbys Augen die Bildhauer überflüssig machen – was in Strattons Augen wiederum blanker Unsinn ist. Nichtsdestoweniger entwickelt sich Willoughby zu einem unerwartet starken Gegner, und Stratton steckt mit seinen Plänen, die er in der Golem-Fabrik Coade verfolgt, in einer Sackgasse.
Das Geheimprojekt
Das ist einer der Gründe, warum er das Angebot des Adligen Fieldhurst annimmt, an einem Geheimprojekt teilzunehmen. Das Projekt wird von Strattons früherem Lehrer Dr. Ashbourne geleitet. Ashbourne führt ihn auf ein völlig neues Gebiet, das immense und weitreichende Konsequenzen für die Gesellschaft verspricht: die Programmierung menschlicher Lebewesen.
Die Franzosen, so findet er heraus, haben enorme Fortschritte in der Erforschung der Fortpflanzung gemacht – ein Schelm, wer Böses dabei denkt! So ist es ihnen etwa gelungen, aus einem Spermatozoon einen gewaltigen Homunkulus, einen Mega-Fötus, zu züchten. Das ist, wie die Naturphilosophie lehrt, auf der männlichen Seite die rohe FORM, der jedoch auf der weiblichen Seite das VITALE PRINZIP fehlt, das die Form zum Leben erwecken würde. Immerhin ist jedoch den Forschern anhand der Megafötus-Analyse eine bestürzende Erkenntnis zuteil geworden: In fünf bis sechs Generationen wird die Menschheit aussterben!
Zusammen mit Ashbourne entwickelt Stratton im Geheimprojekt einige Alternativen, um diesem Horrorszenario zu entgehen. Mit stark verbesserten NAMEN, die sie ihnen injizieren, könnten sie beispielsweise weibliche Eizellen dazu bringen, sich miteinander fortzupflanzen: Jungfernzeugung. Aber was ist mit der männlichen Seite? Außerdem machen sich die beiden Forscher Sorgen über Lord Fieldhursts eugenische Ansichten: Er will seine Elite auf Kosten der Unterschicht ausbauen und schreckt vor genetischem Ausjäten nicht zurück. Daher verfolgen sie nun ihr eigenes Geheimprojekt innerhalb des Geheimprojekts.
Es kommt zu einer dramatische Zuspitzung der Ereignisse, als Stratton sein Büro bei Coade verwüstet und zerwühlt vorfindet. Außerdem liegt eine unschöne Leiche auf dem Büroboden: der Kabbalist Benjamin Roth, der von Stratton seine NAMEN haben wollte. Robert ist vor Bestürzung wie erstarrt. „Endlich sind Sie auch noch gekommen“, dröhnt eine tiefe Männerstimme hinter ihm. Sofort geht Robert in Deckung – gerade noch rechtzeitig, um einem mörderischen Schlag zu entgehen…
Mein Eindruck
Manche Leser würden diese wunderbare Novelle dem angesagten Genre des „Steampunk“ zuordnen, und diejenigen Leser, die sich schon ein wenig mit Genetik, Alchimie und Programmierung befasst haben, können etwas mit dieser Erzählung aus einem alternativen Geschichtsverlauf anfangen.
Der Leser erwartet natürlich, dass der Autor die Auswüchse der Alchimie ironisch oder gar satirisch der Kritik preisgibt. Das geschieht mitnichten. Vielmehr kommt es über die Gebung von NAMEN, also Programierung, Golems und Homunkuli zu einer ernstzunehmenden Gentechnologie, für die diese Viktorianer allerlei alternative Bezeichnungen haben. Das macht den großen Reiz der Story aus, denn ich habe mich gefragt: Welchem hiesigen Phänomen entspricht diese Parallelerfindung?
So ist etwa verblüffend ernsthaft behandelt, wie sich diese Forscher den Ablauf der Fortpflanzung vorstellen: Sie denken, dass alle Nachkommen und Generationen bereits in einer einzigen Samenzelle vorhanden seien und folglich diese Nachkommen nacheinander freigesetzt würden. Man fasst sich an den Kopf, aber aus dieser Prämisse ergeben sich ebenso abstruse wie unheimliche Folgen: Eugenik soll die „guten“ Eigenschaften von den „schlechten / unwerten“ Eigenschaften trennen und letztere ausmerzen. Wir sind also beim Alptraum der „Rassenhygiene“ gelandet.
Wesentlich einfacher nachvollziehbar ist die Sache mit den programmierbaren Golems. Der Code der NAMEN, der nur aus 72 Buchstaben bestehen darf, wird wie in jeder heutigen Programmiersprache derart verfeinert, dass nahezu intelligente Golems programmiert werden können. Die „Nomenklatoren“, wie Robert Stratton sich einer nennen darf, haben die Macht über die Qualität und Einsatzweise, aber nicht über die Verbreitung der Golems.
Die Parallele zu heutiger Software ist offensichtlich. Hier wie dort fehlt es an einer Diskussion zu der Frage: Ist diese oder jene Software wirklich wert, auf die Gesellschaft losgelassen zu werden? Hat der Hersteller die Folgen abgeschätzt? Gibt es Menschen, die von diesem Mehrwert ausgeschlossen sind? Man sollte stets daran denken, dass der Autor selbst Softwareentwickler ist.
Ganz am Schluss kommen die beiden Themen zusammen, als Stratton mit einem neuen NAMEN-Prinzip, das er Benjamin Roth abgeschaut hat, seine eigene Forschung revolutioniert: Mit Hilfe der rekursiven Rekombination können Golems ebenso wie Menschen künftig ihre eigene Evolution programmieren und sich selbst fortlaufend verbessern. Mit anderen Worten: Dies ist der gleiche Prozess, den die DNS mithilfe der RNS in Gang setzt und seit Jahrmillionen – mehr oder weniger erfolgreich – umsetzt. Das würde den Plänen Fieldhursts ein Ende bereiten.
Nun muss Robert seine Entdeckung nur noch vor den Lords verbergen und sie den Bedürftigen schenken. Auch der Leser ist nun angeregt, sich über die Folgen von Erkenntnissen Gedanken zu machen. Wissen ist Macht, und Macht korrumpiert – aber muss das immer so bleiben? Höchste Zeit also für die genetische Version von Wikileaks.
4) Die Evolution menschlicher Wissenschaft (The evolution of human science, 2000)
In einem Wissenschaftsmagazin erscheint ein Artikel, der recht alarmiert klingt. Seit nämlich die neue Menschenart, die nur durch „digitalen Neuraltransfer“ miteinander kommuniziert, ihre eigene Art der wissenschaftlichen und technischen Forschung und Entwicklung betreibt, haben die Normalos nichts mehr zu lachen: Seit 25 Jahren ist kein Artikel mehr beim Magazinherausgeber eingegangen, der eine neue Erfindung oder Erkenntnis vorgestellt hätte.
Seitdem bleibt den Normalos nur noch die wenig beneidenswerte Aufgabe, das, was die „Metamenschen“ schaffen und erzeugen, zu interpretieren. Das ist etwa so aufregend wie die Kothaufen eines dahinrasenden Elefanten aufsammeln zu dürfen. Den Normalos bleibt nur ein trost, und diesen formuliert der Herausgeber: Wenn aus den Menschen die Metamenschen eher per genetischem Zufall hervorgegangen sind, dann können sie auch die Stufen entwickeln, die hinauf zum Metamenschen-Niveau führen.
Mein Eindruck
Ein Artikel oder Essay von gerade mal drei Seiten – und doch zeigt er auf erschreckende Weise, was passieren würde, wenn es eine geistige Elite gäbe, die den Rest der Menschheit hinter sich zurückließe, um nur noch ihr eigenes Süppchen zu kochen. Zwar wird nicht genau beschrieben, wie es zu dieser genetischen Variante der „Metamenschen“ gekommen ist, aber die Auswirkungen auf Eltern, Familien, Schulen, das Bildungssystem werden als ziemlich gravierend angedeutet. Andere Autoren würden daraus ganze Romane stricken.
5) Die Wahrheit vor Augen (Liking what you see: A documentary; 2007)
Es ist eine mittlerweile bekannte Tatsache, dass die Werbung derart raffinierte Methoden der Manipulation anwendet, dass sie und nicht etwa das Individuum bestimmt, was für schön und gut angesehen wird. Wer verletzt oder missgebildet ist, kann zwar nichts dafür, wird deshalb dennoch als minderwertig betrachtet. Diese Diskriminierung wird hier als „Lookismus“ bezeichnet, analog zu „Rassismus“ oder „Sexismus“.
Der oder die Betroffene zieht im Mating-Game den Kürzeren: Er oder sie darf sich nicht fortpflanzen. Nur eine Frau, die dem jeweils gerade angesagten Schönheitsideal – etwa dem „Barbie-Look“ – entspricht, bekommt einen reichen Mann ab, der sich anstrengen muss, sie (und den Nachwuchs) zu versorgen.
Um dieser himmelschreienden Ungerechtigkeit ein Ende zu bereiten, ist jetzt die Calliagnosie (von den griechischen Wurzeln für calli = schön, agnosie = Nichterkennen) erfunden worden: Ein bestimmter Wirkstoff lässt zwar die Wahrnehmung von physischen Gegebenheiten zu, unterdrückt aber ihre negative oder positive Bewertung im Gehirn des Calli-Nutzers.
So ist es auch Tamera Lyons ergangen. Sie hatte das zweifelhafte Glück, an einer Schule erzogen und ausgebildet zu werden, an der allgemeine Calliagnosie praktiziert wird. Hier ist diejenige Schülersprecherin ein beliebtes Mädchen, das bei einem Unfall eine Verbrennung des Gesichts erlitten hat. Ihre Entstellung spielt für die Agnostiker keine Rolle. Auch Tameras Freund Garrett ist nur eine 4 auf einer Skala von 10, aber sie liebt ihn „dennoch“.
Das erfährt Tamera aber erst, als sie auf die Uni in (fiktiven) Pembleton geht. Hier wird keine „Calli“ angewandt, so sehr der auf Chancengleichheit bedachte Studentenrat auch dagegen angeht. An der Uni hat die Industrie für Kosmetik und Schönheitschirurgie das Sagen und lässt die Muskeln spielen. Der Studentenrat entdeckt, dass vier Schüler direkt für die Anti-Calli-Industrie arbeiten. Als der Studentenrat, unterstützt von Hacktivisten, einen Computer des Verbandes der Schönheitschirurgen hackt und zum Absturz bringt, schlägt die Industrie zurück. Tamera gerät zwischen die Fronten…
Mein Eindruck
Dieser Text nennt sich nicht ohne Grund eine „Dokumentation“: Hier werden ganz unterschiedliche Stimmen einander gegenübergestellt. Eine durchgehende Handlung gibt es deshalb nicht, sondern nur ein oder zwei Themenstränge, die der Leser verfolgen kann. Dadurch kam bei mir überhaupt keine Spannung auf, und die langen Monologe sorgten zusätzlich für Langeweile.
Im Grunde handelt es sich um einen langen Essay, in dem die konträren Standpunkte zu Schönheit, Wahrnehmung und Diskriminierung dargelegt werden, nur mit dem Unterschied, dass manche der Sprecher, wie etwa Tamera Lyons, eine Entwicklung durchmachen. Tamera ist mit Calli aufgewachsen, muss dies aber an der Uni aufgeben, weil es der Politik an der Institution entspricht.
Obwohl man Tamera für schön hält, will sie ihr Selbstwertgefühl noch weiter heben. Denn das ist ihre (unbewusst erlebte) Chance, die Oberhand gegenüber ihrem Freund Garrett zu erringen. Der nimmt immer noch Calli und soll es abschalten, dann können sie wieder zusammenkommen, lockt sie. Jetzt bekommt er auf einmal Zweifel an sich selbst, da er ja bloß Durchschnitt ist, was das Aussehen anbelangt.
Nach ein paar Tagen schaltet er die Calliagnosia jedoch wieder ein, und Tamera erkennt ihren Fehler: Sie hat genau das gemacht, was die Kosmetikindustrie im großen Maßstab ausübt: eine Art Nötigung durch Diskriminierung – den „Lookismus“. Schließlich entscheidet sie sich, Calli wieder einzuschalten, um so wieder auf eine Stufe mit Garrett zu gelangen.
Wie man sieht, geht es hier viel um Freiheit in Wahl und Handeln, also Ethik. Bedeutet die Verordnung von Calli bzw. dessen zwangweises Abschalten nicht eine Unterdrückung? Die Sprecherin der Pharmaindustrie jedenfalls weiß diesen Konflikt weidlich auszunutzen. Indem sie unlautere Mittel in der stimmlichen Präsentation – vorher geht es nur um visuelle Manipulation – einsetzt, verhindert sie eine Wahlentscheidung für Calli und gegen die Pharmakonzerne. Nun bricht erst recht ein Proteststurm los.
6) Was von uns erwartet wird (What’s expected of us, 2005)
Irgendein Spaßvogel hat den „Prognostiker“ erfunden. Das ist nicht etwa ein Präkog wie bei Philip K. Dick, sondern ein kleines schwarzes Gerät, das nur ein Lämpchen und einen Druckknopf aufweist, ungefähr so wie eine fernsteuernde Autoverriegelung. Das Gadget ist ebenso klein wie fies: Das Lämpchen sollte eigentlich erst aufleuchten, wenn man den Knopf drückt, richtig? Es leuchtet aber schon vorher auf, weil es „weiß“, wann man drücken wird. Die Ursache ist nicht etwa Magie, sondern ein winziger Zeitsprung.
Diese Entdeckung hat weitreichende Folgen. Denn wenn dieses kleine Ding vorher weiß, was ich will, ist es egal, wie ich mich entscheide. Von „Freiheit des Willens“ kann keine Rede mehr sein – sofern das jemals etwas Reales war und nicht bloß Selbsttäuschung. Nun aber finden die Mediziner zur ihrem Bedauern, dass jene Mensche, die die Willensfreiheit aufgegeben haben, katatonisch werden. Sie sehen aus, als wären sie im Wachkoma, hören und sehen aber noch. Dieser „akinetische Mutismus“ greift um sich wie eine Seuche.
Nun meldet sich mit diesem dreiseitigen Artikel ein Mensch, der ein Jahr in der Zukunft lebt, an den Rest der Menschheit. Es ist ein Aufruf, sich unbedingt an die Illusion des freien Willens zu klammern. Weil uns – und ihm – nichts anderes übrig bleibt.
Mein Eindruck
Nun, mir kommt dieser Appell eines Zukünftigen reichlich jämmerlich vor. Warum ruft dieser Namenlose nicht dazu auf, die Ursache für den akinetischen Mutismus zu beseitigen – den Prognostiker? Leider ist die Katze schon aus dem Sack, das heißt, dieses unscheinbare Gerät gibt es wohl schon millionenfach. Da müsste sich die Regierung schon eine tolle Marketingkampagne einfallen lassen, damit die Leute das Ding wieder zurückgeben.
7) Der Lebenszyklus von Software-Objekten (The lifecycle of software objects, 2010)
Ana Alvarado hat sechs Jahre lang im Zoo als Tierpflegerin gearbeitet, aber nun macht der Zoo dicht und setzt sie auf die Straße. Die Qualifikation kommt ihr nun zustatten, als ihre Freundin Robyn sie anruft, um ihr einen ganz besonderen Job anzubieten: die Erziehung von virtuellen Haustieren. Diese „Digis“ bestehen nur aus Software und existieren nur im virtuellen Speicher von „Erde 2“, also als sogenannte „Avatare“. Sie interagiert mit ihnen durch ihr eigenes Avatar. Aber die Digis, die über ihr eigenes digitales „Genom“ verfügen, können zum Teil schon sprechen – das könnte interessant werden, denkt Ana. Und Blue Gamma, ihr künftiger Auftraggeber, will gut zahlen.
Derek Brooks entwirft die neuen Digis, und mit den Tipps, die ihm Ana gibt, gelingt ihm eigenständige Modelle, die weder nach Tier noch Kind aussehen. Jax beispielsweise ist eine Art Roboter à la C-3PO, mit kupferner Haut und einer obsidianschwarzen Rüstung. Daneben gibt es noch die „Zwillinge“ Marco und Polo sowie die freche Lolly, die kein Blatt vor den Mund nimmt. Nach einem Jahr Entwicklungs- und Produktionszeit erfolgt der Verkaufsstart: Die Digis finden großen Anklang in der Spieler-Community – und werden sogleich von der Konkurrenz nachgeahmt. Indem die Firma SaruMech Toys einen Roboterkörper bereitstellt, können manche Digis wie Jax auch in „Erde 1“ tätig werden, allerdings nur unter Aufsicht der Entwickler.
Das Ende der Plattform
Ein Jahr später brauen sich düstere Wolken über Blue Gamma zusammen. Weil die Digis „erwachsener“ geworden und nicht mehr so niedlich sind, legen immer mehr genervte Spieler ihre Digis still und drücken auch keine Gebühren mehr für „Futtermittel“ an Blue Gamma ab (Merke: das Umsatzmodell entspricht dem Modell „Rasierapparat verschenken, mit Klingen Geld scheffeln“). Virtuelle Tierheime nehmen immer mehr Digis auf und versuchen sie wieder an barmherzige Besitzer loszuwerden – keine Chance.
Über kurz oder lang kommt es, wie es kommen muss: Blue Gamma zieht den Stecker raus. Aber was wird jetzt aus den virtuellen Lebewesen, die Ana liebgewonnen hat? Anders als damals im Zoo darf sie einen Digi mit nach Hause nehmen, und sie wählt Jax, während Derek Marco und Polo heimnimmt. Die drei teilen sich den SaruMech-Roboterkörper, um Ausflüge in Erde 1 unternehmen zu können.
Weitere Jahre gehen vorüber. Anas und Dereks Privatleben verändert sich. Dereks Frau Wendy will ihre gemeinsame Zeit nicht mehr mit den Digis teilen und lässt sich scheiden. Nun, da der Weg zu Anas Herzen frei wäre, zieht sie mit einem Freund namens Kyle zusammen – Pech! Aber die Hoffnung stirbt zuletzt, sagt sich Derek.
Das Ende der Welt
Auch in der virtuellen Welt braut sich Übles zusammen. „Erde 2“ wird von seinem Betreiber Daesan an die erfolgreichere Plattform „Weltenraum“ verkauft. Es gibt allerdings einen dicken Haken: Die nach IT-Zeitrechnung uralten Digis, die auf der Neuroblast-Engine laufen, sind nicht mit der Engine von „Weltenraum“ kompatibel. Dafür müsste man die alte Software auf ein moderneres technisches Niveau portieren, und dafür fehlt den rund 20 übriggebliebenen Digi-Fans das Geld. Die Folge: Jax & Co. verlieren ihre Freunde. Nur eine kleine, selbstgeschaffene Insel von „Erde 2.1“ erlaubt ihnen die Fortführung ihrer Existenz. Aber wie lange noch?
Das Ende der Unschuld
Es muss Geld her, koste es, was es wolle. Und es gibt auch Interessenten an den ehrwürdig ergrauten Digis der ersten Stunde. Die Firma Exponential Appliances sucht humanoide KIs, um sie als Produkte zu verkaufen. Doch Jax und Co. sind viel zu selbständige Persönlichkeiten, um sich verhökern zu lassen.
Dann ist da noch Binary Desire, die zu Anas Entsetzen „Sexpuppen“ herstellen. Was für ein Irrtum, wird sie aufgeklärt. Binary Desire möchte gleichberechtigten Sex zwischen Menschen und Kunstwesen wie Jax ermöglichen. Dennoch hat Ana schwere Zweifel, Marco und Polo aber nicht – die wollen endlich ihre eigene Firma gründen.
Derek und Ana stehen vor einer schweren Entscheidung. Als Ana auch noch ein lukratives Angebot erhält, das sie emotional an ganz andere Schützlinge fesseln wird, trifft Derek für sie und die Digis eine folgenschwere Entscheidung…
Mein Eindruck
Man kann wirklich nicht behaupten, der Autor habe es sich leicht gemacht. Diese 90 Seiten entsprechen nahezu einem ausgewachsenen Roman. Allerdings fehlen die Höhepunkte, tiefergehenden Konflikte und so weiter, so dass die Handlung so vor sich hinplätschert. Als Programmierer kennt sich Ted Chiang mit dem Thema der Software-Erstellung, -wartung und -weiterentwicklung bestens aus. Das setzt natürlich beim Leser den gleichen Kenntnisstand voraus (mehr dazu unter „Übersetzung“).
Aber Technik ist bei Chiang zum Glück nie Selbstzweck, sondern dient dazu, menschliche Beziehungen und Existenzbedingungen während ihres Wandels zu beleuchten. Die Erzählung lotet auf ernsthafte Weise die Möglichkeiten der Beziehungen zwischen Menschen und künstlichen Wesen, die eigentlich nur aus Software bestehen, aus. Emotionale Bindungen können wirklich entstehen – und führen prompt zu Komplikationen. Fortwährend ändern sich die Grundlagen und Rahmenbedingungen für diese Beziehungen während der Erzählzeit von rund einem Dutzend Jahren und treiben diese Beziehungen in eine Krise nach der anderen.
Ana und Derek lieben ihre Digis, die sie „großgezogen“ haben, wirklich – sehr zum Missvergnügen ihrer realen Lebensgefährten, die auf die digitalen „Kinder“ neidisch und eifersüchtig werden. Deshalb nehmen die beiden Lehrer ihre Schützlinge ständig in Schutz vor Missbrauch. Dazu gehört beispielsweise die Folterung. Es gibt offenbar perverse User, die wehrlose Digis ihrer Schmerzblockade berauben und dann ihr böses Spiel mit ihnen treiben.
Auch Hacktivisten treten zwischendurch auf, die „allgemeine Informations-Freiheit“ fordern, und zwar auch für Digis. Auf einmal kann man Raubkopien „befreiter“ Digis an jeder Straßenecke erwerben. Ana und Derek bringen ihre Schützlinge rasch in Sicherheit, damit sie nicht den Folterern in die Hände fallen. Die letzte Prüfung bilden Exponential Appliances und Binary Desire. Sollen Ana und Derek ihre Digis, die mittlerweile recht erwachsen und kreativ geworden sind, an KI-Produzenten und Sexvermittler verhökern, nur um Geld für ihren Fortbestand zu erwerben? Eine schwere Wahl.
Ich hätte mir den Text etwas anschaulicher, szenischer gewünscht. Auch die Eskapaden der Digis fehlen fast völlig. Aber leider ist das Leben von Leuten, die die meiste Zeit vor dem Bildschirm verbringen, wenig aufregend . Das Aufregendste sind bereits Videokonferenzen – oder eine Begegnung mit einem Digi im Roboterkörper. So richtig spannend ist das nicht und so richtig lustig auch nicht. Stanislaw Lem hat in seinen „Robotermärchen“ wesentlich mehr aus dem Thema herausgeholt.
8) Daceys vollautomatisches Kindermädchen (Dacey’s Patent Automatic, 2011)
Als Reginald Dacey in den 1890er Jahren bemerkt, dass Nanny Gibson regelmäßig seinen Sohn Lionel schlägt, entlässt er sie und erfindet ein vollautomatisches Kindermädchen, auf das er sich wirklich verlassen kann. Die Programmierung erfolgt natürlich mithilfe von Charles Babbages Differenzmaschine, der Rest ist Mechanik, so etwa das Miniatur-Grammophon im Kopf der Figur. Der Erfolg gibt Dacey Recht. Als er seine Erfindung schließlich 1901 zum Verkauf anbietet, findet er dafür immerhin 150 Käufer.
Leider kommt es bei einem Kunden zu einem bedauerlichen Vorfall, bei dem das auf den Armen getragene Kind durch einen Sturz zu Tode kommt. Obwohl Dacey entdeckt, dass dem Unglück ein Bedienungsfehler voranging – die Feder wurde überstrapaziert -, schicken alle Kunden ihre Automaten zurück. Dacey ist ruiniert und die Automaten verstauben in seinem Schuppen.
1928 versucht sein Sohn Lionel die Kindermädchen erneut auf den Markt zu bringen, findet aber keinen einzigen Abnehmer. Um die Tauglichkeit seines Produkts unter Beweis zu stellen, kündigt er an, einen Sohn zu adoptieren. Leider hört man nichts mehr davon, wie dieses Projekt ausgegangen ist – bis 1938 Dr. Thackery Lambshead, beratender Psychologe am „Brighton Institut für geistige Abnormitäten“ von einem Neuzugang namens Edmund Dacey erfährt, der abnormal kleinwüchsig ist.
Dass Edmund mit fünf Jahren erst die Größe eines Dreijährigen erreicht hat, deutet in den Augen der Experten auf Schwachsinnigkeit hin. Schuld daran kann nach Ansicht der Schwestern nur der Umstand sein, dass Edmund von einem automatischen Kindermädchen aufgezogen wurde. Aber auch nach zwei Jahren der Betreuung ohne Maschine lässt Edmunds Größe sehr zu wünschen übrig.
Dr. Lambshead ist deshalb anderer Meinung als die werten Kolleginnen. Er hat die Idee, dass es sich genau andersherum verhalten könnte. Kaum hat er bei Edmunds Vater ein noch funktionsfähiges automatisches Kindermädchen abgekauft und Edmund vorgestellt, läuft der Junge entzückt in dessen Arme! Es war also der Entzug dieser Betreuung, der zu psychosozialem Minderwuchs führte. Fortan gedeiht der Junge. Für ihn existieren „echte“ Menschen einfach nicht, nur Maschinen.
Aber Dr. Lambshead ist auch Experte für die Strahlenkrankheit, die seit 1945 untersucht wird (aus wohlbekannten Gründen). In Chicago hantieren seine Kollegen mit mechanischen Armen, um mit radioaktivem Material umgehen zu gehen. Als er diese Arme dem 13-jährigen Edmund zeigt, ist dieser sofort Feuer und Flamme für den Umgang mit den Waldos. Er liebt eben Maschinen weitaus mehr als Menschen. Als Lionel Daceys, der leibliche Vater Edmunds, wie Lambshead herausgefunden hat, seinen Sohn mit den Waldos hantieren sieht, zeigt er sich erschüttert…
Mein Eindruck
Die Erzählung belegt auf hintersinnige Weise, welchen Einfluss Maschinen auf die Entwicklung von jungen Menschen nehmen können. Edmund etwa ignoriert Menschen völlig, liebt aber Maschinen, die wie künstliche Menschen aussehen und agieren. Er erinnert an junge Gössel, die jedem Objekt nachlaufen und darauf „geprägt“ werden, das sich wie eine echte Gänsemutter verhält – die Laute allein genügen schon. (Siehe die Versuche von Konrad Lorenz.)
Die Story erschien in einer Steampunk-Anthologie, die die einschlägig bekannten Herausgeber Anne & Jeff VanderMeer 2011 veröffentlichten: „Dr. Thackery Lambsheads Cabinet of Curiosities“. Das grafische Design des Titelbildes ist astreiner Viktorianismus. Die Steampunk-Leser, für die diese Storysammlung gedacht war, lieben solches Design. Sie kennen sich mit automatischen Kindermädchen, Butlern, „Uhrwerkmännern“ (siehe Mark Hodder) und natürlich Luftschiffpiraten aus.
Allen Schnickschnack meidet jedoch Ted Chiang in seiner Geschichte. Sein automatisches Kindermädchen könnte genauso gut ein Protokollroboter wie C-3PO aus STAR WARS sein. Viel wichtiger ist dem Autor die Psychologie hinter der Handlung. Dass es „psychosozialen Minderwuchs“ gegeben hat, dürfte Chiang wohl den Sozialstudien über das London um 1900 entnommen haben, so etwa „London Labour & the London Poor“. Dass es dieses Phänomen auch noch um 1938 gegeben haben soll, ist wohl eher dichterischer Freiheit als der Wahrscheinlichkeit zuzuschreiben.
Die Übersetzungen
S. 158: „Wir brauchen einen weiblichen Begriff von Schönheit (…), und nicht einer, der…“ Korrekt müsste es „einen“ statt „einer“ heißen. Das ist der einzige Grammatikfehler, den ich finden konnte. Und das spricht sehr für die Qualität von Übersetzung und Korrektorat.
Die folgenden Stellen sind Zweifelsfälle des Ausdrucks.
S. 174: Was ist ein Attraktionsbasin“? Möglicherweise ist das ein Begriff aus der Chaostheorie, in der der Begriff von Attraktion und Attraktoren eine Rolle spielt. Eine Fußnote fehlt hier wie im ganzen Buch.
S. 206: „Seltene Items aus ihrem Spielinventar wie Flyer“: Items sind Sammlerstücke, Flyer sind Flugblätter oder Broschüren. Hätte man übersetzen können.
S. 222: „Addon“ = „Add-on“, Zusatz- oder Hilfsprogramm.
S. 231: „Open-source-Repositories“. Open-source bedeutet quelloffen, beispielsweise das Betriebssystem Linux, dessen Quellcode jeder einsehen – und modifizieren – kann. Repositories sind Ablagespeicher in einer Systemarchitektur, in der Entwickler Software-Artefakte nachschlagen und herunterladen können. Artefakte sind jedes Objekt, das man auf einem Bildschirm zu sehen bekommt, so etwa die grafische Benutzeroberfläche, aber auch verborgene Regelsätze (Logik) für Verarbeitung von Ein- und Ausgaben aus Anwendungsprozessen und vieles mehr.
S. 258: „ein Turing“. Bezieht sich auf dem Mathematiker Alan Turing, der den Code der Enigma-Kodiermaschine der deutschen Wehrmacht knackte (vgl. „The Imitation Game“, 2014). Es ist aber auch der von ihm entwickelte Turing-Test gemeint, welcher prüft, ob es eine Maschine schafft, den zweifelsfreien Eindruck zu vermitteln, es handle sich bei ihr nicht um eine Maschine, sondern um einen Menschen. Den Turing-Test zu bestehen, ist quasi der heilige Gral, nach dem KI-Entwickler streben.
Unterm Strich
Nicht alles, was hier glänzen will, ist Gold. So entstand bei mir der Eindruck, dass die hier frühen Erzählungen und Essays zweite Wahl sind, vergleicht man sie mit den genialen Entwürfen in dem Band „Die Hölle ist die Abwesenheit Gottes“. Zu dieser Be-Liga gehören die Stories „Division durch Null“, „Was von uns erwartet wird“, „Die Evolution menschlicher Wissenschaft“ und „Die Wahrheit vor Augen“.
Aber es gibt auch eine A-Liga! Dazu zähle ich die beiden Steampunk-Erzählungen „Zweiundsiebzig Buchstaben“, das eine alternative Gentechnologie entwirft, und „Daceys vollautomatisches Kindermädchen“ – ein kurzer, aber durchaus bewegender Text. Die Krönung dieser Spitzenstories ist zweifellos „Verstehen“. Es ist zwar schon 1991 veröffentlicht worden, aber in seiner Konfrontation zweier neuartiger Genies immer noch packend und erhellend.
Der einzige Zweifelsfall ist der Kurzroman „Der Lebenszyklus von Softwareobjekten“. Wäre ich ein Spiele-Entwickler, wäre ich wahrscheinlich restlos begeistert. Aber da ich weder Entwickler noch Gamer bin, ließ mich die Geschichte nur stellenweise an sich ran, dann nämlich, wenn die Digis ihre menschliche Seite zeigte. Nur wer sich gut mit Informatik auskennt, dürfte den Text vollständig verstehen. Ein Glossar, das die Fachausdrücke (siehe „Übersetzung“) erklären würde, liefert das Buch leider nicht mit.
Broschiert: 284 Seiten
Info: aus dem US-Englischen von Karin Will und Michael Plogmann (1)
ISBN-13: 978-3944720173
golkonda-verlag.de
Der Autor vergibt: