Terry Carr (Hg.) – Die schönsten Science-Fiction-Geschichten des Jahres 01

Herausragende SF-Klassiker, mit zwei Ausfällen

In dieser Anthologie sind zwölf SF-Erzählungen amerikanischer, deutscher und englischer AutorInnen, die im Jahr 1980 veröffentlicht wurden, vereinigt:

– die Novelle „Nachtflieger“ von George R.R. Martin
– sowie die Kurzgeschichte „Grotte des tanzenden Wildes“, die 1980 den Nebula Award gewann.

Der Herausgeber

Der US-amerikanische Autor und Anthologist Terry Carr (1937-1987) gab bereits Anfang der 1950er Jahre Fanzines heraus und schrieb Artikel. Unter dem Einfluss der Beatniks versuchte er sich als Autor im Mainstream, allerdings erfolglos. 1961 zog er nach New York City um und ging ins Verlagswesen, wo er Lektor und Literaturagent wurde.

Zusammen mit Donald W. Wollheim, der später den DAW-Verlag gründete, initiierte er 1965 die Reihe „World’s Best SF“ und ab 1971 die Anthologiereihe „Universe“, die nur Erstveröffentlichungen brachte. Nach mehreren Roman-Kooperationen erschien 1978 sein erster SF-Alleingang mit dem Roman „Cirque“, der deutsch bei Heyne erschien. Carr veröffentlichte über 50 Anthologien, wofür er 1987 posthum mit dem HUGO Award als bester Herausgeber geehrt wurde.

DIE ERZÄHLUNGEN

1) Clifford D. Simak: Grotte des tanzenden Wildes

Boyd ist ein amerikanischer Archäologe, ein alter Hase, der in den Pyrenäen des Baskenlandes seine besten Entdeckungen gemacht hat. Denkt er. Am Tag vor seiner Abreise gibt er einer Ahnung nach, dass er etwas übersehen hat: einen feinen Riss in der Felswand der Höhle, wo eigentlich kein Riss sein dürfte.

Indem er Stein um Stein beiseite legt, gelangt er in das Fundament eines Schachts. Diesen klettert er empor, um in einer Art Blase im Fels zu gelangen. Dort gehen ihm fast die Augen über: Die übermütige Disney-Version von Wilddarstellungen verschlägt ihm die Sprache. Tanzende Hirsche, schunkelnde Mammuts – wer hätte je davon zu träumen gewagt?

Auf einem Sims findet er drei Objekte: die Palette des unbekannten Künstlers mit einem markanten Fingerabdruck in der Farbe; eine Steinlampe mit eingetrocknetem Fett; und schließlich eine Knochenflöte. Genauso eine Flöte, wie sie sein baskischer Grabungshelfer Luis zu spielen pflegt. Boyd kommt ein unglaublicher Verdacht…

Mein Eindruck

Der Vergleich der beiden Fingerabdrücke bestätigt Boyds Verdacht: Luis ist unsterblich. Kein Grund indes, in Jubel und PR-Orgien auszubrechen. Luis erzählt ihm seine Geschichte, die 22.000 Jahre umfasst. Es ist alles andere als ein schönes Leben, das er wählen musste, um überleben zu können – etwas anderes als die Legende vom „Highlander“: die Geschichte eines Feiglings, eines heimlichen Beobachters, der sogar zuschaute, wie die Nachhut Karls des Großen 778 im Tal von Roncevalles von den Basken abgeschlachtet wurde.

Aber Luis hat ein verborgenes Testament hinterlassen, eben die übermütigen Höhlenmalereien, die Boyd soeben entdeckte. Und sein einziger Wunsch ist es, dass sich der Archäologe an ihn erinnert. Dass er einen Unsterblichen entdeckt habe, würde ihm sowieso keiner glauben. Da muss ihm Boyd recht geben. Aber als Dank verrät ihm Luis noch ein Geheimnis…

Eine sehr schöne, stimmungsvolle Geschichte, die die zwei Hauptfiguren ebenso zum Leben erweckt wie das Umland der Höhle im Baskenland. Diese Story schlug einige feine Kandidaten im Rennen um den Nebula Award 1980 und um den LOCUS Magazine Award 1981 aus dem Feld.

2) Suzy McKee Charnas: Dicke Luft auf Neu-Nigeria (Scorched Supper on New Niger)

Auf den Frachtlinien zwischen den besiedelten Welten herrscht ein harter Konkurrenzkampf. Die Schwestern Nita und Dee Steinway sind die Erben einer Flotte von Frachtern, die ihnen Tante Juno hinterlassen hat. Dass sich Nita für den leichten Weg entscheidet und ihren Anteil an Bob Netchkay verkauft, ärgert Dee maßlos und sie denkt nicht daran, das letzte noch verbliebene Steinway-Schiff, die „Sealyham Eggbeater“, kampflos aufzugeben: Das einzige, was sie kann, ist das Führen eines Frachters. Ihr intelligenter Kater Ripotee stimmt ihr völlig zu: „Der Kapitän hat immer recht. An Bord.“

Ripotee rät ihr davon ab, Fracht und Schiff an die Chinesen zu verhökern, sondern lotst sie nach Neu-Nigeria, wo man sich sehr für die leistungssteigernden Modifikationen am Steinway-Antrieb interessieren dürfte. Helen, eine frühere Konkurrentin Tante Junos, die eine Handelslinie betreibt, lädt Dee überraschend ein.

Wie sich zeigt, ist Missisi Helen eine mächtige Handelsherrin, die ihren Einflussbereich durch das Heiraten von Frauen immer weiter ausdehnt. Eine Option auch für Dee? Mal sehen. Vorerst ist Dee glücklich mit Barnabas, ihrem früheren Lover, schlafen und Energie tanken zu können. Dass Barnabas ein falscher Fuffziger ist, merkt sie erst, als er sie entführt und Nita, die falsche Schlange, ihre eine Betäubungsspritze verpasst.

Sie erwacht neben Ripotee im Frachtraum ihres eigenen Schiffes – und Bob Netchkay will sie gerade zwingen, die Übereignung ihres eigenen Schiffes zu unterschreiben. Da hat er sich aber geschnitten. Denn Ripotee und Missisi Helen haben noch ein gewichtiges Wörtchen mitzureden…

Mein Eindruck

Die Action ist diesmal rein gesellschaftlich. Für Dee geht es hin und her auf Neu-Nigeria, mal hier, mal dort. Die Lösung scheint im Heiraten einer fremden Frau zu bestehen, eine Möglichkeit, die für viele SF-Leser um 1980 noch ziemlich ungewohnt gewesen sein dürfte. Auch heute sind gleichgeschlechtliche Ehen längst nicht die Regel in den westlichen Ländern.

Die Autorin will uns weismachen, dass Vielweiberei unter Frauen bei den Ibo von Erd-Nigeria durchaus die Regel gewesen sei. Ich kann das kaum plausibel finden, aber auch nicht widerlegen. Real sind hingegen wohl die Lorry-Mammies, die das Transportwesen Nigerias selbst in Zeiten der Wirtschaftskrise am Laufen hielten: Kleinkrämerei, so Helen, habe die Frauen weiter gebracht und mächtiger gemacht als kühne Spekulationen der Männer. Das passt sehr gut zu Missisi Helen und ihrem weitverzweigten Netz von Zuarbeitern, die (fast) alle mit ihr verwandt sind.

Ein schöner Aspekt der Story ist Sinnlichkeit, die mit Affront und Humor gepaart ist. Wer annimmt, Dee sei eine Afroamerikanerin, irrt: Helen nennt sie eine Weiße, die nicht in ihre nigerianische Kultur passe. Dennoch verhält sich Dee alles andere als eine verklemmte Puritanerin nach traditionellem WASP-Vorbild, sondern viel mehr wie eine (beinahe) emanzipierte junge Frau. Dass sie an Bord ihres eigenen Schiffs gerne nackt gehe, nehmen wir ihr gerne ab – nur ein Kater schaut zu.

3) Michael Swanwick: Ginungagap (dito)

Abigail Vanderhoek war Briefträgerin auf dem besiedelten Mars, doch sie geriet in einen Felssturz und muss sich den eingeklemmten Arm amputieren. Jetzt bekommt sie einen lukrativen neuen Job angeboten: Bell Sandia sucht eine Versuchsperson, die sich durch Ginungagap (altnordisch für „der gähnende Abgrund“), das einzige Schwarze Loch im Sonnensystem, schießen lässt.

Die von den Alien-Spinnen bereitgestellte Technologie sieht vor, die Versuchsperson erst vollständig zu entmaterialisieren, um sie an der Endstation der Spinnen wieder zusammenzusetzen. Da dabei die Grenze der Lichtgeschwindigkeit überschritten, ist die Sache für einen Telekommunikationskonzern wie Bell Sandia höchst verlockend. Nachrichten ließen sich dann im Netzwerk viel schneller als mit c verschicken und empfangen.

Soweit zumindest die Theorie. Die Praxis sieht etwas anders aus. Der Pilot beispielsweise behauptet, schon einmal durchgegangen zu sein. Dabei hat er sich drei tiefe Narben eingehandelt. Nicht so motivierend, findet Abby. Sie stößt ihn aber deswegen nicht von der Bettkante. Der Dialog mit den Spinnen fördert das Übliche zutage: Sie halten sich für technologisch überlegen. Wer hätte das gedacht? Immerhin: Sie wollen Abigail nicht fressen. Eine Kohlenstoffkreatur sei für eine Kreatur auf Schwefelbasis von herzlich geringem Wert. Arrogant sind sie ja überhaupt nicht, die Aliens.

Die zweite Versuchsperson ist „Garble“, der Kater. Die Materietransmission klappt hervorragend, und nach wenigen Minuten kommt die Kopie des Katers zurück in die Empfangsstation. Als eine Technikerin andockt, um ihn in ihre Fähre zu bringen, flitzt er an ihr vorbei, schnappt sich ihre Fähre und startet mit Vollgas, wobei sie umkommt. Sein Ziel ist offenbar die Orbitalstation Arthur C. Clarke und damit das Ginungagap-Projekt. Eine ferngezündete Bombe an der Fähre bereitet diesem Attentat ein rechtzeitiges Ende. Abby trauert um ihren Spielgefährten. Was haben die Spinnen bloß mit ihm gemacht?

Nach einem weiteren Test mit einem Pavian, der unverändert zurückkehrt, ist Abigail an der Reihe…

Mein Eindruck

Eigentlich sollte man meinen, dass es bei einem Erstkontakt mit einem Alienvolk darum geht, sich um Verständigung zu bemühen. Nicht so bei einem Megakonzern wie Bell Sandia (Sandia ist heute ein großes Forschungsinstitut, die bekannten Sandia Labs). Hier geht es knallhart um den Austausch von Handelsgütern. Die Erdlinge wollen neue, überragende Technologie wie sie etwa der Materietransmitter darstellt. Den Spinnen dreht man im Gegenzug Begriffe wie Kunst und Wissenschaft an.

Dabei bleibt es jedoch nicht, wie schon der Zwischenfall mit Kater Garble bewiesen hat: Bell Sandia hat immer auch Sprengstoff in der Hinterhand. So kommt es, dass Abigails Materiestrang von Bell Sandia mit Sprengstoff vermischt. Als sie wieder zusammengesetzt wird, stellt sie eine Bombe dar. Die Spinnen kapieren schnell und machen sie einen Kopf kürzer…

Das ist aber halb so wild, denn sie können ihren unverfälschten Körper erzeugen. Abigail bekommt ein exklusives Angebot: Sie soll die Spinnen bei den anderen Spezies im Universum als Botschafterin vertreten. Geklont, versteht sich. Und sie kriegt Kater Garble als Dreingabe. Wie könnte sie da nein sagen?

Bei dieser Story zählt – und stimmt – jedes Wort, jeder Satz. Der Autor, der damals erst anfing, wurde schnell zu einem Star der Science Fiction. All seine Werke sind bei Heyne erschienen.

4) Philip K. Dick: Tiefgekühlt (Frozen Journey)

Die Story beschreibt die Leiden eines Raumschiffcomputers mit einem Kolonisten, der vorzeitig aus dem Kälteschlaf erwacht ist und nun zehn Jahre lang beschäftigt und bei Laune gehalten werden muss, denn er kann sich nicht bewegen. Nur Victor Kemmings Geist ist aktiv. Viel zu aktiv: Das Schiff spielt ihm Szenen aus seiner Vergangenheit vor, die es seinem Gedächtnis entnommen hat. Doch Kemmings‘ Persönlichkeit ist viel zu gestört, so dass alle Idyllen zu psychotischen Alpträumen werden. Der einzige Ausweg scheint darin zu bestehen, ihm eine Phantasie vorzugaukeln, in der er seine Zielwelt erreicht hat und seine frühere Ehefrau Martine wiedersieht.

Es gibt aber eine Pointe: Das Schiff hat es offenbar geschafft, die ECHTE Martine per Expresschiff auf die Zielwelt transportieren zu lassen, um dort rechtzeitig vor Victor einzutreffen. Doch Victor fällt nicht auf diesen erneuten „plumpen Trick“ herein. Er weiß ganz genau, dass der Fernseher innen hohl ist und er seine Hand durch Martine hindurchstecken kann, so sehr sie auch das Gegenteil beteuert.

Mein Eindruck

Die ironisch-traurige Inner-Space-Story beruht auf Dicks eigenen tiefenpsychologischen Erfahrungen. Und wieder mal spielt der Gegensatz zwischen eigener subjektiver Erlebniswelt (idiokosmos) und äußerer Welt intersubjektiver Erfahrungen (koinokosmos) eine zentrale Rolle. Nicht einmal das allmächtige SCHIFF schafft es, Kemmings‘ Skeptizismus zu durchbrechen – Gott verliert. Und das ist natürlich (normalerweise) sehr, sehr lustig.

5) Howard Waldrop: Die hässlichen Hühnchen (The Ugly Chickens)

Ein Vogelkundler aus Austin, Texas, begegnet irgendwo im östlichen Texas einer älteren Frau, die in seinem Buch, das er auf dem Bus liest, eines dieser „hässlichen Hühnchen“ zu erkennen meinst. Ihr Name ist Joline Jimson und war die beste Freundin von Annie Mae Gudger, auf deren Farm in Mississippi einst diese hässlichen Hühnchen gehalten wurden. Unser Vogelkundler ist elektrisiert: Die Hühnchen gelten seit 1681 als ausgestorben – es sind Dronten bzw. Dodos.

Wie also konnten Dronten von den Maskarenen-Inseln, zu denen Mauritius, Réunion und Rodriguez gehören, ins hinterste Hinterland von Mississippi gelangen? Das ist eine lange Geschichte – und sie führt ihn zurück nach Mauritius selbst. Dort lebt Annie Maes Schwester Alma Moliere, geborene Gudger. Sie hat Fotos, auf denen die letzten Dodos im Jahr 1929 zu sehen sind – als Festtagsbraten: „Wir aßen tagelang“, sagt sie nostalgisch in Erinnerungen schwelgend.

Mein Eindruck

Kreuz und quer geht der Verlauf dieser Geschichte, vom heute zurück ins Jahr 1507, als die Portugiesen die Maskarenen und damit die Dronten entdeckten. Wieder zurück ins jetzt, dann wieder ins Jahr 1927, weiter nach Mauritius, wo wir quasi im Jahr 1929 Abschied von den Dronten nehmen. Dieser Zickzackkurs macht den Verlauf der Erzählung unvorhersehbar, was genau die richtige Strategie ist, um zu vermeiden, dass der Leser denkt, diese Hühnchen landen eh dort, wo alle Hühnchen landen: in der Ofenröhre.

Das ist eine humorvoll-bittere Tour de force, die nur ein so ungewöhnlicher Schriftsteller wie Howard Waldrop bewältigen konnte. Er wurde dafür 1980 mit dem NEBULA Award ausgezeichnet. Besonders gefallen hat mir nicht etwa die intensive Recherche und die vielen Fakten, sondern der schusselige Forscher, der sich erst noch seine Sporen verdienen muss. Er gerät aus der Mitte der Welt quasi mitten ins hinterwäldlerische Nirgendwo, wie wir es heute eigentlich nur aus Krimiserien wie „True Detective“ kennen. Diese Diskrepanz sorgt für Ironie, aber auch für Situationskomik.

6) George R.R. Martin: Nachtflieger (Nightflyers)

Royd Eris‘ Raumschiff „Nachtflieger“ ist ein kleiner Trampfrachter, der für weite Distanzen ausgelegt ist. Daher wird es für die Handvoll Wissenschaftler, die mit ihm hinaus ins All fliegen wollen, ganz schön eng. Royd zieht es vor, gar nicht körperlich in Erscheinung zu treten, sondern nur als Hologramm. Über die Sensoren seines Schiffs kommt er den Eigenarten seiner Passagiere bald auf die Schliche. Was zum Geier hat sie veranlasst, diesen Höllenritt zu unternehmen?

Karoly ist der Nestor der Xenobiologie und befindet sich wie die drei anderen Forscher auf der Spur der geheimnisvollen Volcryn, die seit mindestens 18.000 Standardjahren durchs All ziehen. Wohlgemerkt: mit Unterlichtschiffen, also quasi im Schneckentempo. Nach Angaben anderer Fremdweltler seien sie auf dem Weg aus unserer Milchstraße hinaus in den weiten Raum, der sich bis zur nächsten Galaxie erstreckt. Aber wie müssen die Volcryn beschaffen sein, um derartige räumliche und zeitliche Distanzen überwinden zu können? Dieses Rätsel will gelüftet sein. Hm, meint Royd neutral.

Zu den Forschern zählen ein Telepath und eine Parapsychologin. Der Telepath berichtet ihr, dass er eine nahende Gefahr spüre. Sie bezieht diese Gefahr fälschlicherweise auf den Kapitän, der sich wochenlang nicht hat blicken lassen und nun irgendwie verdächtig erscheint. Ist er etwa selbst ein Alien? Als sie die Wahrheit herausfinden will und dem Telepathen dazu ein Mittel verabreicht, das seine Fähigkeit enorm steigert, warnt sie der Kapitän vergeblich vor diesem Schritt. Zu spät: Der Schädel des Telepathen explodiert.

Ist nun der Kapitän verantwortlich für diesen Tod oder nicht? Als einzige argumentiert Melantha Jhirl gegen diesen üblen und ungerechtfertigten Verdacht. Sie ist selbst ein verbessertes Modell des Menschen und ihre Vernunft behält selbst dann noch die Kontrolle, wenn bei den anderen schon die emotionalen Sicherungen durchbrennen.

Leider begeht auch Melantha einen Fehler: Weil sie Royd nicht genug vertraut, bittet sie ihn, seine Überwachungstechnik abzuschalten. Diese sensorische Blindheit ermöglicht es der Xenosoziologin und der Kybernetikerin, den Hauptrechner des Schiffs zu manipulieren, um so die Kontrolle über die Mission zu übernehmen. Es kommt zu einer verhängnisvollen Kettenreaktion. Denn Royd ist nicht der einzige Pilot an Bord der „Nachtflieger“…

Mein Eindruck

Dies ist die am meisten ausgezeichnete SF-Erzählung des Jahres 1980, ein absoluter Liebling der amerikanischen SF-Leser, vergleichbar nur mit Martins Top-Stories „Sandkönige“ und „Der Weg von Kreuz und Drachen“, aber wesentlich komplexer und vielschichtiger.

Im Grund ist es eine Variation über das Thema Telekinese, also die Bewegung von Objekten mittels Geisteskraft. Ohne zuviel über den zweiten Piloten verraten zu wollen, so liefert das Phänomen doch einige spektakuläre Spezialeffekte (die man wahrscheinlich schon mal in irgendeinem SF- oder Horrorfilm gesehen hat): durch die Luft fliegende Messer und Schneidlasergeräte, aufrecht gehende Leichen, ein gigantisches, nur durch Geisteskraft bewegtes Volcryn-Raumschiff und vieles mehr.

Das zweite Thema ist die Auseinandersetzung zwischen Mutter und Sohn/Klon, verkörpert in einem Konflikt zwischen körperlichem und geistigem Menschen. Der „Geist in der Maschine“ feiert hier seine unheilige Wiederauferstehung, und wer an den verräterischen Schiffscomputer „Mutter“ in „Alien 1“ denkt, liegt sicher nicht verkehrt. („Alien 1“ ist wiederum die – gerichtliche nachgewiesene – Umsetzung von A. E. van Vogts Story „Discord in Scarlet“ aus dem Jahr 1939.)

Drittens überwölbt der Autor die zahlreichen Konflikte innerhalb der „Nachtflieger“, die in gewisser Weise an die „Pequod“ erinnert, mit einem „sense of wonder“, das er dem lebenden Raumschiff der Volcryn abgewinnt. Es bewegt sich durch Telekinese, wie die Parapsychologin erkennt, und ist lediglich ein einziger Organismus.

Im Vergleich zur suchenden und jagenden „Pequod“ der „Nachtflieger“ ist dies der große weiße Wal: der Moby Dick des Weltalls. Die Forscher wollen ihn jedoch keinesfalls erlegen, und so ergibt sich am Schluss für die Überlebenden eine fantastische Option – dem „Wal“ in die Tiefen einer geheimnisvollen Materieansammlung zu folgen, die als „Schleier des Versuchers“ bekannt ist. Kein Wunder, dass diese geniale Story in ANALOG erschien, dem Magazin für den an Kosmos und Naturwissenschaft orientierten SF-Leser.

Dies ist übrigens die Kurzfassung. Die Langfassung findet sich nur in dem Band „Traumlieder II“, der im Februar 2015 bei Heyne erschien.

7) John Varley: Im Sumpf (Beatnik Bayou)

Die Erde ist von Alien-Eroberern besetzt und verwüstet worden, doch auf dem Mond – Luna – leben noch die letzten Menschenkolonien in großer Freizügigkeit. Manche dieser Siedlungen sind von Kuppeln überdacht, denn der Beschuss der Mondoberfläche durch Meteore ist minimal. (Wie das sein kann, wird nicht erklärt.) Unter einer dieser Kuppeln hat sich der Lehrer Trigger einen ein Hektar großen Sumpf angelegt, komplett mit Alligatoren und Tigern.

Trigger und Cathay sind die zertifizierten Vertragslehrer von Argus, dem 13-jährigen Ich-Erzähler, und Denver. Dass diese Verträge exklusiv sind, zeigt sich am Beispiel einer bedauernswerten Schwangeren, die unbedingt Hilfe haben möchte, weil sie kurz vor der Niederkunft steht. Nicht in Triggers Sumpf! Sie wird mit Schlamm beworfen und muss den Rückzug antreten.

Vor seiner Rückkehr zu Mamas Künstler-Atelier-Wohnung in der Luna-Siedlung lernt Argus auf dem Zug einen verführerische Frau kennen, die sich nach einem antiken Doppelagenten „Trilby“ nennt (Antike: 20. Jahrhundert). Sie haben Sex miteinander, den Argus sehr genießt. So eine Frau-Mann-Kombination ist doch zur Abwechslung auch ganz nett, findet er.

Zu seiner Überraschung begegnet er Trilby in einem der 25 Theater des „Museums für kulturelles Erbe“ wieder, wo er die Ausstellung „Mardi Gras ’56“ besucht. Jetzt erkennt er, dass sie schon bald seine Vertragslehrerin sein wird und der Sex mit ihr nur eine Art Vorgeschmack gewesen ist. Sie wollen sich gerade etwas näher kommen, als eine Polizeistreife aufkreuzt und Argus festnimmt: Er ist wegen schwerer Körperverletzung an einer Schwangeren angeklagt und muss sich vor dem Zentralcomputer verantworten.

Offenbar droht ihm die Todesstrafe…

Mein Eindruck

In seinem Roman „Steel Beach“ hat der Autor die Gesellschaft der Lunarier beschrieben und dieses Porträt in einen Krimi-Plot verpackt. (Siehe dazu meinen Bericht.) In „In Sumpf“ hat der Autor weitere Aspekte verarbeitet und daraus eine Coming-of-age-Story gestrickt, die mir überhaupt nicht gefallen hat. Nur wer „Steel Beach“ nicht kennt, wird sich wundern, warum die Lunarier meist halb oder ganz nackt herumlaufen, regelmäßig das Geschlecht wechseln und an Homosexualität überhaupt nichts Besonderes finden.

Triggers titelgebender Sumpf ist die unschuldige Kindheit, die Argus zurücklassen muss, um nach dem Prozess gegen ihn zu einer frühen Stufe des Erwachsenseins zu finden. Da Trigger ebenfalls zu verurteilten Übeltätern gehört, muss sie ihren Sumpf-Spielplatz verkauft, so dass später daraus ein Golfplatz wird – sehr ironisch. Härter trifft es Cathay, den zweiten Lehrer: Er darf keine jungen Kinder mehr unterrichten, entscheidet die Lehrervereinigung. Was ziemlich absurd ist, denn Argus ist ja schon dreizehn.

Wie gesagt, hat mir diese langweilige und verworrene Story nicht gefallen. Wer guten Stoff von Varley sucht, der schnappt sich „The Pusher“, „Press: ENTER“ oder all die wunderbaren Stories in den drei Goldmann-Taschenbüchern „Voraussichten“, „Mehr Voraussichten“ und „Noch mehr Voraussichten“ (siehe meine Berichte dazu).

8) Bob Leman: Fenster (Windows)

Auf einer abgelegenen Waldlichtung irgendwo im amerikanischen Hinterland hat sich etwas Sonderbares ereignet. Da wo zuvor das Versuchslabor eines gewissen Professors Culvergast stand, befindet sich nun schönes viktorianisches Haus. Darin wohnt eine schöne viktorianische Familie. Während ringsum trübes Wetter herrscht, strahlt über dieses Haus eitel Sonnenschein. Kurzum: Es ist nicht von dieser Welt. Stammt es aus der Vergangenheit, und ist der Würfel von 100 Fuß Kantenlänge sozusagen ein Fenster in eine vergangene Dimension, fragt sich der aus Washington hingeschickte Beamte Gilson.

Der Projektleiter Krantz berichtet, dass sich Prof. Culvergast dem Phänomen der Telekinese widmete. Offenbar hat einer seiner Versuche geklappt, so dass nun dieser Würfel aus einer anderen Dimension erschienen ist – im Austausch für Culvergast und seine Baracke. Übrigens kommt nichts in diesen Würfel hinein oder heraus. Eine Maschine schleudert jede Sekunde einen orangefarbenen Eiswürfel gegen die unsichtbare Barriere, die den Würfel umgibt. Allerdings gibt es eine Ausnahme: Alle 15 Stunden und 20 Minuten wird die Barriere für fünf Sekunden durchlässig. Die Eiswürfel schmelzen dann drüben, ohne eine Spur zu hinterlassen.

Gilson bleibt nichts anderes übrig: Er muss die Techniker auf dieses rätselhafte Objekt loslassen. Das gefällt Krantz und seinem Assistenten Reeves, einem zartbesaiteten Psychologen, in keinster Weise. Krantz wäre dann seinen Job los, und Reeves vermisst das viktorianische Postkartenidyll. Als es am nächsten Morgen soweit ist, dass die Barriere durchlässig wird – erkennbar an den durchflitzenden Eiswürfeln -, stürzt sich Reeves durch die Barriere auf den Rasen vor dem Haus.

Das Mädchen der Mädchen der Familie, das Reeves „Martha“ genannt hat, reagiert zu Gilsons Verwunderung alles andere als erstaunt, gerade so, als habe sie Reeves erwartet. Wenige Augenblicke später kommt es auf die Veranda gelaufen, ein breites Grinsen im Mund, und stürzt sich mit einem Panthersatz auf die ungeschützte Kehle des jungen Mannes, die Zähne zum tödlichen Biss gefletscht…

Mein Eindruck

Offenbar hat jemand unter den Regierungsbeamten und Militärs, die den fremden Würfel sichern und beobachten vergessen, dass Fenster den Blick stets auf beide Seiten freigeben. Während man von unserer Seite hinüberblickt, so blickt man offenbar von drüben auch herüber. Das Schauspiel einer familiären Postkartenidylle erweist sich als Falle mit einem attraktiven Köder. Besucher sind lediglich Beute.

Doch es bleibt nicht bei diesem einen Fall. Der Familienvater lässt das Haus verschwinden: Er kennt sich offenbar mit so etwas aus. Wenig später drehen die Aliens den Spieß um und testen ihrerseits die Durchlässigkeit der Membran: Sie werfen die Überbleibsel des jungen Psychologen gegen die Barriere, um herauszufinden, wann sie durchlässig wird. Wer weiß, was dann – überall auf der Welt – zu uns herüberkommt.

Diese gruselige Invasionsgeschichte, die mich an Whiteheads Story „Die Falle“ erinnert hat, ist weniger eine SF- als vielmehr eine Fantasygeschichte. Denn hier funktionieren Zaubersprüche. Auch dies wird genauestens vernünftig erklärt.

9) Zenna Henderson: Erzähl uns eine Geschichte! (Tell us a story!)

Die Familie des jungen Nathan lebt in einem einfachen Bauernhaus irgendwo draußen auf dem Lande, lange bevor es Autos gab. Adina und Lucas sind seine jüngeren Geschwister, und diese lieben es, wenn Nathan ihnen von den Leuten erzählt. Die Leute stammen offenbar von einer anderen Welt, denn sie kennen in unserer Welt nicht mal die einfachsten Dinge, etwa das Sammeln von Nüssen im Wald, bevor der Winter kommt, oder das Zubereiten von Haferbrei. Sie kennen weder Milch noch Schnee.

Aber sie können viele Dinge besser als Nathans Familie. So beobachtet er beispielsweise, wie sich der Pflug von alleine über den Acker bewegt, und Körbe von Baum zu Baum schweben. Die Leute können vieles mit Geisteskraft. Ist das Hexerei oder eine Gottesgabe? Nathan wird es herausfinden.

Seine Kuh Kerry läuft ständig davon. Als er sie wieder einmal im Schnee zu finden hofft, stößt er auf Eliada, ein junges Mädchen der Leute. Eliada weiß nicht, was Milch ist, kann aber aus Schnee eine Schale aus Eis formen, um darin Milch aufzufangen, die er ihr abgibt. Eliadas Leute haben keinerlei Wintervorräte angelegt und drohen zu verhungern. Schließlich nimmt die Familie Eliada bei sich auf. Sie revanchiert sich, indem sie ein Metallstück mit Geisteskraft erhitzt, so dass es einen Ofen ersetzt.

Wochen später hat sich die Situation für Nathan radikal geändert. Die klirrende Kälte ist steigenden Hochwasserfluten des Frühlings gewichen. Eliada ist wieder bei ihren, doch Lucas ist gestorben. Der Vater entschied, dass ein erhitztes Brecheisen Teufelswerk sei und warf es hinaus. Lucas‘ Husten wurde schlimmer, bis die Krankheit die Oberhand über ihn behielt.

Nun zieht Nathan mit seinem Vater an den Waldrand, um Bauholz für einen neuen Stall zu schlagen. Den alten haben die Fluten fortgerissen. Beim Fällen eines Baumes gerät der Vater unter den fallenden Stamm und wird mit gebrochenem Bein darunter eingeklemmt. Weil der Stamm zu schwer ist, ruft Nathan Eliada und ihre Leute herbei. Es kommt zu einem dramatischen Überlebenskampf. Wird der Vater auch diese Hilfe zurückweisen?

Mein Eindruck

Zenna Henderson hat seit 1952 über „die Leute“ geschrieben, also rund 30 Jahre lang, und doch hat hierzulande kaum jemand von ihr gehört oder gelesen. Ihr Erzählstil ist sehr einfach und leicht verständlich. Aber die Themen und Probleme, mit denen sie sich befasst, sind kompliziert, und vielschichtig. Vielfach brauchen ihre Figuren eine ganze Weile, bis sie die Konflikte überwunden haben, und das geht selten ohne Dramatik vonstatten. Der einfache Stil dient also lediglich dazu, die komplizierte Botschaft für den Leser besser konsumierbar zu machen.

Deshalb macht die Autorin auch niemals Aussagen, die etwas bewerten. Das erledigen ihre Figuren. Ob nun „die Leute“ von der anderen Welt – es handelt sich um Katastrophenflüchtlinge – des Teufels sind oder Gottes Werk vollbringen, bleibt völlig offen. „Die Leute“ sprechen von „der Gegenwart“, „dem Namen“ und ähnlichem, die unsereins mit einem göttlichen Wesen in Verbindung bringen könnte. Um auf diese Ebene zu gelangen, hülfen Gebete, sagt Eliada. Dass sie nebenbei erwähnt, dass „die Leute“ abberufen würden und ihre sterbliche Hülle zurückließen, entspricht durchaus einem christlich-jüdischen Verständnis der Körper-Seele-Dualität.

Die Geschichte geht gut aus, und es zeigt sich, dass der reale Hintergrund vielleicht einem Post-Holocaust-Szenario entspricht. Es gibt keine Fahrzeuge mehr, die noch gut funktionieren, und Nachbarn leben Meilen entfernt. Demnach würde es sich bei Nathans Familie um Holocaust-Überlebende handeln. Und weil „die Leute“ selbst Überlebende sind, hat man eine gemeinsame Grundlage, einen gemeinsamen Lebenssinn: Überleben, in Frieden.

10) Barry Malzberg: Le Croix (La Croix / The Cross)

Ein Mann aus dem Jahr 2219 hat seine Regierungsbehörde darum gebeten, die Propheten der Religionen besuchen zu dürfen – allerdings unter Hypnose und per Zeitreise. So kommt es, dass er jetzt als Jehoschua von Nazareth auf Golgatha am Kreuz herumhängt und die römischen Soldaten um seine Klamotten würfeln. Na, toll.

Die zwei neben ihm gekreuzigten Diebe geben ihm Bescheid, was sie von seiner misslichen Lage halten. Statt Aramäisch spricht Jehoschua vornehmes Französisch – wie unpassend. Dann beginnen die Erstickungsanfälle, und etwas in seinem Schädel platzt… (Bei einer Kreuzigung tritt der Tod durch Ersticken ein: Das erschöpfte Opfer kann nicht mehr genügend Luft holen, um noch atmen zu können. Deshalb ist diese Todesart extrem qualvoll und dauert viele Stunden.)

In einer zweiten „Inkarnation“ findet sich unser Reisender als Rabbi der Lubaschiten an einem Ort namens Bruck Linn (= Brooklyn) wieder. Er erteilt Rat und spricht talmudisches Recht. Da holen ihn seine jüdischen Mitbürger zu Hilfe: Draußen marschieren Truppen auf. „Es ist ein Pogrom“, rufen die Bürger. „Es kann nur eine Illusion sein, seid ruhig!“ ruft der Rabbi. Doch die Tritte der Soldatenstiefel sprechen eine unmissverständliche Sprache…

Seine Frau Edna redet mit ihm in den Episoden, in denen er sich mal nicht in Behandlung befindet. Sie ist sehr unzufrieden mit seiner Entwicklung, denn dies ist nicht mehr der frühere Harold Thwaite, den sie geheiratet hat. Vielmehr hätten die Erlebnisse aus seinen Hypnose-Sitzungen nun auch seinen übrigen Verstand übernommen. Mit anderen Worten: Er lebt nur noch in einer virtuellen Realität.

Edna bleibt nicht die einzige Kritikerin. Selbst die Psychotechniker, die die Behandlung abbrechen wollen, können Harold nicht mehr ändern. Ganz im Gegenteil: Schon ihr geringster Versuch, ihn davon abzubringen, dass er ein religiöser Führer sei, führt zu einer Verstärkung seines Märtyrerkomplexes. Und das hat einen guten Grund…

Mein Eindruck

Diese Erzählung wurde für Intellektuelle geschrieben, die sich mit der Religionsgeschichte bestens auskennen. Sie erschien 1980 in einem Lyrik-Magazin, scheint aber aus den Psycho-verliebten Siebzigern zu stammen. Wie schon bei Kubrick in „Clockwork Orange“ zu sehen und bei Doris Lessing nachzulesen, war ein Kunstwerk umso „wertvoller“, je verschrobener seine psychologische Verstörung vorgestellt wurde: Die Wahnsinnigen waren natürlich optimal.

Doch bei Malzberg, einem sehr gebildeten Autor, der auch ein Standardwerk über die SF verfasst hat, hat dieser Wahnsinn Methode und einen guten Grund. Wenn nämlich im Jahr 2219 (oder in jedem beliebigen Jahr davor) alle Dinge technisch machbar sind und völlige Kontrolle gefordert wird, dann muss auch der Geist des Bürgers völlig kontrolliert werden. Big Brother lässt schön grüßen.

Diese „Psychohygiene“ wird zunächst bei Harold Thwaite therapeutisch angewandt, weil er nicht kooperiert und sich für einen Rabbi hält, der aufrührerische Reden schwingt. Das kann nicht geduldet werden, denn nur der Staat = die Regierung hat das Monopol auf Wahrheit. Was die Regierung und ihre Psychotechniker jedoch nicht bedacht haben: Nur das Märtyrertum ist der ultimative Widerstand gegen ein derart totalitäres System. Jeder Versuch, diese Illusion zu beenden, bestärkt den Märtyrer nur in seinem Widerstand.

Deshalb treten Faschisten, Satan selbst, sogar die Versucherin Maria Magdalena auf – vergebens, denn Harold, der sich als leidenden Jesus stilisiert, nimmt jeden Tort und Angriff triumphal hin, um sein Märtyrertum zu stärken. Es bleibt am Schluss nur eine Lösung: die Löschung dieses Geistes. Ob das hilft, ist zu bezweifeln: „Vergib ihnen, denn sie wissen nicht, was sie tun“, sagt Harold am Schluss.

Diese Geschichte hat leider viel Ähnlichkeit mit Michael Moorcocks Roman „INRI oder die Reise mit der Zeitmaschine“ (1970), in dem ein gewisser Karl Glogauer nur allzu gerne Jesus spielt. Wenigstens gibt Malzberg diesem seltenen, aufmüpfigen Stoff einen weiteren, kritischen Ansatz – nur leider zehn Jahre zu spät.

11) F. Gwynplaine McIntyre: Die Mannesprobe (Martian Walkabout)

Der Fels namens Uluru, den die weißen Eroberer Ayer’s Rock nennen, ist den Aborigines heilig. Denn dort ist der Sitz der Wächter, die von den Sternen kamen, um die Eingeborenen mit der Traumzeit vertraut zu machen. Wer die Traumzeit missachtet, riskiert daher seinen Schutz, sein Leben und natürlich seine Duldung im Stamm.

Kundekundeka hat immer auf die Erzählungen seines Großvaters über Uluru und die Wandjina, die von den Sternen kamen, gelauscht. Der dröhnende Klang des Didgeridoo ist in seiner Seele und seinem Mark. Heute ist seine Mannesprobe, der Walkabout, bei der er sich bewähren muss. Doch sein Versuch, das legendäre Tal in der Mitte des Uluru zu finden, scheitert kläglich in den zupackenden Armen der Parkwächter.

Jahre später ist er Astrogator eines Sternenschiffes und landet auf dem Mars. Die Expeditionen haben keinen Funken Leben gefunden, obwohl der Planet einst Wasser besaß. Dennoch vernimmt Kundekundeka hier den eindringlichen BEFEHL der Traumzeit: Er soll eine zweite Mannesprobe ablegen, seine letzte Chance auf Mannesehre. Also überlistet er die Wache an der Schleuse und begibt sich hinaus in die staubtrockene Marswildnis.

Er folgt dem Ruf des Didgeridoo, der ihn auf einen Hügel führt, welcher dem Uluru zum Verwechseln ähnlich sieht. Kann das sein? Kurz bevor ihn ein Raketengleiter, der vom Schiffskapitän ausgeschickt worden ist, um ihn zurückzuholen, einholt, bricht der junge Mann in eine verborgene Höhle ein. Hier ist die Stimme in seinem Kopf sehr laut – ein Wandjina…

Mein Eindruck

Der Autor dieser schönen, einfühlsamen und spannenden Geschichte weiß offensichtlich, wovon er erzählt. Wer jemals Bruce Chatwins Buch „Traumpfade“ gelesen hat – keine sehr zuverlässige Quelle -, der ist bereits mit den Grundmerkmalen der jahrtausendealten Kultur der Aborigines vertraut. Der Walkabout ist ein Basiselement in dieser Kultur: eine Mannesprobe, aber auch eine regelmäßig zu wiederholende Vergewisserung der Verbundenheit mit dem Land.

Dass der junge Held eine zweite Chance bekommt, ist ungewöhnlich, führt aber natürlich in die Region, wo die Science Fiction zu Hause ist: in den Weltraum. Auf dem Mars spielen ja schon etliche Abenteuer der SF, besonders die von John Carter und seiner Marsprinzessin. Nun findet der Held hier Gelegenheit mit einem echten Alien telepathisch zu sprechen. Es ist natürlich die Frage aller Fragen: „Wie können Krieg, Hunger, Armut usw. abstellen?“ Die Antwort ist ziemlich ironisch: Die Wandjinas sind ausgeschwärmt, um auf tausend Welten genau die gleiche Frage zu stellen.

12) James Tiptree, jr.: Sphärenklänge (Slow Music)

Jakko kommt aus den nunmehr leeren Städten an die Küste. Seit der FLUSS von den Sternen, ein Energiestrom, die Menschen verführt, entmaterialisiert und ihre Körper und Geister hinfortgerissen hat, ist die Erde zwar lebendig, aber menschenleer. Er birgt ein Segelboot und lässt sich nolens volens auf seinen vorprogrammierten Kurs mitnehmen.

In einer Meerenge scheitert sein Boot, und Jakko strandet just vor einer alten Station, die wohl mal den Küstenverkehr kontrollierte. Hier lebt Pfirsichdiebin, eine dunkelhäutige junge Frau, inmitten einer improvisierten Farm. Was sie sich am meisten wünscht, sind Kinder, und so lautet eine ihrer ersten Fragen, ob er sie wohl schwängern könnte, bitteschön. Jakko ist etwas überrumpelt, der er will eigentlich zurück zu seiner Familie, die sich dem FLUSS anheimgegeben hat.

Die Pillen, die Pfirsichdieb ihm heimlich und offiziell verabreicht, steigern seinen Sexualtrieb, dass ihn die Lust überkommt – und er sich danach für den Akt schämt und entschuldigt. Obwohl sie genau dies geplant hat, muss sie einsehen, dass es so nicht geht. Er weigert sich, weitere Lustpillen zu nehmen. Indem sie einwilligt, mit ihm zum Endpunkt des FLUSSES zu reisen, hofft, ihn an sich binden zu können.

Sie bestehen gefährliche Abenteuer auf der Reise durch ein menschenleeres Land und gelangen zu einem Flughafen, wo sie ein selbstgesteuertes Luftschiff besteigen können. Sie nehmen eine alte gebrechliche Frau mit, die an Herzflimmern leidet. Ihre Argumente für und wider die Ehe, den FLUSS und die Zukunft bewegen Jakko und Pfirsichdieb, so dass entschlossen sind, nach ihrer Landung ein gemeinsames Heim für ihre Kinder zu gründen.

Doch es soll anders kommen…

Mein Eindruck

Kleine Hinweise führen den Leser zu den großen Vorbildern für diese Erzählung. Von William Blake (1757-1827) nahm sich die Autorin Alice Sheldon das einflussreiche Werk „The Marriage of Heaven and Hell“ als Inpirationsquelle, um die zwei gegensätzlichen Charaktere der Pfirsichdiebin, die anfangs ganz irdisch-körperlich-weiblich ist, und Jakko, der ganz anfangs ganz vernünftig-ausgeglichen-männlich, aber zuweilen auch sehr wütend ist, zusammenzuführen und zu der titelgebenden Vermählung zu führen.

Sie sind vor dem Finale eine Leben hervorbringende Einheit, eine Ehe, geworden, bereit, weiteres Leben hervorzubringen. Doch gerade dann, als sich Jakko von seinem bereits vergeistigten Vater getrennt hat und nun mit Pfirsichdieb zurück nach Hause reisen will, begeht sie einen verhängnisvollen Fehler. Beide geraten in den FLUSS von den Sternen und werden zu Geistern entstofflicht. Das ist die ironische Wendung und Antwort auf Pfirsichdiebs Bemühen um ein Nest: Diese Erde bietet keine Nestwärme mehr, denn es gibt keine Mitmenschen mehr. Die gibt es nur noch im FLUSS.

Die andere Inspirationsquelle war wohl der irische Dichter William Butler Yeats, der die Unabhängigkeit Irlands von der britische Kolonialmacht forderte und förderte, indem er das keltische Erbe Irlands gegen die Kulturmacht Englands setzte. Die alte Frau (in der man problemlos die Autorin selbst erkennen kann) kritisiert Yeats, lobt aber Blake. Sie spielt die Rolle des Outsiders und Kritikers, dessen Kommentar einen katalytischen Effekt auf das Paar hat.

„Slow music“ ist eine wunderschöne, heitere Adam-und-Eva-Geschichte, nur eben nicht am Anfang der Welt, sondern an ihrem Ende.

13) Charles N. Brown: Das Science Fiction Jahr

Der Herausgeber des LOCUS Magazins für phantastische Literatur berichtet, was sich 1980 im Bereich der SF in den USA getan hat. Umsätze, Honorare, beste neue Romane und Autoren, Todesfälle und Preisverleihungen. Dieser Report ist nur für den Fan und Sammler interessant. Aber Browns Beispiel machte Schule. Bis heute werden diese Reports im Heyne Science Fiction Jahrbuch abgedruckt. Nur dass sie mittlerweile einen Umfang von mehreren hundert Seiten erreicht haben.

Die Übersetzung

S. 60: „von Regierungsgebäuden und Politikerwillen“: Es sollte wohl besser „Politikervillen“ heißen, wenn es um Häuser geht.

S. 171: „Solarium“, ja, aber nicht in heutigen Sinne, sondern im früheren: ein Raum, der fast völlig mit Glas verkleidet ist, um Sonnenlicht einzulassen.

S. 171: „ständig schur er“ sollte heute „schwor er“ heißen.

S. 298: „Ich sah, wie sie in ihrem Sessel zusammensank.“ Dieser Satz wird nicht gesprochen, sondern vom Erzähler gedacht! Daher sollte er besser in Klammern stehen.

S. 347: „Nach entlosem Kampf“ sollte „nach endlosen Kampf“ heißen.

S. 403: „eine Punktion der Langeweile“. Keine Ahnung, ob man Langeweile punktieren kann wie ein Stück Haut. Aber wenn man „Funktion der Langeweile“ schreibt, dann ergibt diese Begründung für die Entstehung von „religiöser Gesinnung“ auf einmal einen Sinn.

S. 443: „über die Haur“. Nein, es sind keine Hauer gemeint, sondern lediglich Haut.

S. 475: „Aufmerksa[m]keit“. Das M fehlt.

S. 500: „Manche von ihnen werden verrückt, kämpften und töteten.“ Da alle Verben im Präteritum stehen, sollte auch „werden“ die Vergangenheitsform „wurden“ annehmen.

S. 504: „Auf einmal wusste er wie in einem Traum, genau was geschehen würde.“ Das Komma sollte hier stehen: „Traum genau, was…“

S. 504: „sein Körper fühlte sich wie [w]armer, lebender Fels.“ Das W fehlt.

Unterm Strich

Dies ist die erste „Year’s Best of“-Anthologie in der SF-Reihe des Heyne-Verlags gewesen, und für mich ist bis heute eine der schönsten überhaupt. Es macht nichts, wenn nur US-amerikanische AutorInnen darin vertreten sind – auf dem Rückumschlag wird genau dies und nichts anderes versprochen. Wer 1980 internationale – also auch deutsche – Autoren lesen wollte, konnte zu W. Jeschkes entsprechenden SF-Story-Readern greifen.

Die Erzählungen von Simak, Waldrop, Henderson, Swanwick, Charnas, Martin; Leman, McIntyre und Tiptree stellten mich völlig zufrieden. Sie kombinieren auf eigentümliche Weise die Entspanntheit der siebziger Jahre mit der zunehmenden Nervosität und Agilität der achtziger Jahre. Wo zuvor eine Story sich in Relaxtheit selbstverliebt ergangen hätte, herrscht nun erzählerische Straffheit und Zielgerichtetheit. Hier sieht man schon, dass dies auch die Tugenden von George R.R. Martin sind.

Enttäuscht hat mich hingegen der sonst so lobenswerte John Varley. Seine Coming-of-age-Story auf dem Mond bleibt weit unter seinen bewiesenen Möglichkeiten, der Humor macht der Betroffenheit Platz, das Drama dem Abenteuer. Zudem sollte der Leser schon seinen Roman „Steel Beach“ kennen, um das Szenario nachvollziehen zu können. Davon, dass Varley ein literarischer Jünger Robert A. Heinleins ist, merkte ich nichts.

„Le Croix“ von Malzberg las ob seiner Kompliziertheit als letzten Text. Das war ein kluger Entschluss, denn die Geschichte zieht sich hin und wiederholt in Variationen ihr Generalthema: Ein Mann wird psychologisch behandelt und verliert sich in seinen Geistreisen, bis er sich nur noch als Märtyrer begreifen kann. Und das stellt ihn in direkte Opposition um totalitären Staat, der ihn folglich eliminieren muss. Lustig sind immerhin die Episoden, in denen Harold als Jesus Satan besiegt und Maria Magdalena ein Schnippchen schlägt. Alles andere ist eher unlustig. Michael Moorcock hat das Thema schon zehn Jahre zuvor in „INRI oder Die Reise mit der Zeitmaschine“ vorweggenommen.

Die Druckfehler hätte sich der Verlag auch sparen können. Insgesamt bleibt dennoch ein sehr zufriedener Eindruck bei mir zurück, so dass dies meine Lieblingsanthologie im SF-Bereich geworden ist (im Fantasygenre gibt es andere). Von der Reihe „Die schönsten Science-Fiction-Geschichten des Jahres“ veröffentlichte der Heyne-Verlag noch zwei weitere, die auch BUCHWURM.org besprochen worden sind.

Taschenbuch: 525 Seiten
O-Titel: The best science fiction of the year #10, 1981,
Diverse Übersetzer.
ISBN-13: 978-3453309289

www.heyne.de

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