Theodore Sturgeon – Der Gott des Mikrokosmos. SF-Erzählungen

Classic SF: Frankenstein und Plappermäuler

Der Erzählband enthält acht Stories vom besten Story-Autor der vierziger und fünfziger Jahre, Theodore Sturgeon. Und weil „Sturgeon“ auf deutsch „Stör“ bedeutet, hieß der Originaltitel „Caviar“. Die Titelgeschichte aus dem Jahr 1941 ist bereits klassischer Teil des SF-Kanons.

Der Autor

Theodore Sturgeon (1918-1985) war einer der wichtigsten Story-Autoren der amerikanischen Science Fiction nach dem 2. Weltkrieg. (Er begann zwar schon 1939 zu veröffentlichen, doch die meisten Stories schrieb er in den 15 Jahren nach 1946.) Aber auch seine Romane wie „More than human“ (1953) wurden preisgekrönt. Sogar ein wichtiger Science Fiction-Preis ist nach ihm benannt. Sturgeon schrieb noch bis Anfang der siebziger Jahre preisgekrönte Erzählungen. Er ist deshalb so wichtig, weil er sich für fremde, bislang unbekannte, manchmal auch nur als neuartig wahrgenommene Formen des Miteinanders von Wesen interessierte – von Menschen und Aliens. Zu diesen Formen gehören Telepathie und Bewusstseinsverschmelzung bzw. Schwarmbewusstsein.

Eines seiner Hauptmotive war die Weiterentwicklung des Menschen: Telepathen, Gestaltwandler, Telekineten und andere „strange people“ bevölkern seine Geschichten. Natürlich müssen sie sich, wie alle sogenannten „freaks“ mit den Vorurteilen, ja, der Feindseligkeiten der „Normalen“ auseinandersetzen. Aus dieser Entfremdung führt der Weg zu einem transzendenten Aufgehen in einer höherwertigen Gemeinschaft dieser PSI-Begabten. So geschieht es in „More than human“, in dem drei Begabte eine gemeinsame Gestalt-Persönlichkeit bilden, aber auch in „The dreaming jewels“, das 1950 erschien.

Zu seinen bekanntesten, wenigen Romanen gehören „Killdozer“ (1944, verfilmt), „More than human“ (dt. als „Baby ist drei“ bei Heyne) und „Venus plus X“. „To Marry Medusa“ ist unter dem Titel Das Milliardengehirn“ auf Deutsch erschienen (siehe die Rezension bei Buchwurm.info). Hier geht es um ein außerirdisches Schwarmbewusstsein, das auf die Erde trifft.

Die Erzählungen

1) Der Gott des Mikrokosmos (Microcosmic God, 1941)

Kidder ist ein großartiger Erfinder, und was immer er erfindet, das vermehrt seinen Reichtum. Diesen hat er in der Bank von Mr. Conant angelegt, welche immer reicher wird. Begierig wartet Conant auf die nächste Erfindung Kidders. Doch Kidder hat sich auf eine einsame Insel vor der Küste Neu-Englands zurückgezogen und frönt dort seinen Forschungen. Um schneller erfinden zu können, hat er die Evolution künstlich erzeugt und winzige menschliche Wesen, die Neoteriker, erzeugt, die für ihn Entdeckungen mache, beispielsweise superhartes Aluminium, einen Impfstoff gegen Schnupfen und dergleichen mehr.

Inzwischen ist Conant zum zweitmächtigsten Mann der Welt geworden, nach dem Präsidenten der Vereinigten Staaten, der in seiner Hauptstadt Neu-Washington sitzt. Conant will natürlich der mächtigste werden. Als Kidder ihm auf Anfrage von einer neuen billigen und schier unerschöpflichen Energiequelle berichtet und den Bauplan eines Empfängers faxt, ist Conant überzeugt, dass dies der letzte Baustein für die Weltherrschaft ist. Doch er braucht natürlich erst den Sender.

Als Conant Kidder auf dessen Insel besucht, raubt er ihm erst das Modell des Senders, dann seine Freiheit. Er lässt seine Ingenieure den Sender bauen, während Kidder auf seine Forschungsanlage beschränkt ist. Kidders Neoteriker erfinden ein Schutzfeld für seine Anlage. Als er jedoch Conant abhört und mitbekommt, dass Conant den US-Präsidenten erpresst hat und nun die Insel bombardieren lassen will, muss Kidder feststellen, dass sein Feld nicht die hunderte von Arbeitern und Ingenieuren schützen kann, geschweige denn die ganze Insel.

Er schickt einen Dringlichkeitsbefehl an seine Neoteriker. Unterdessen steigen Conants Bomber auf, mit Kurs auf Kidders Teil der Insel…

Mein Eindruck

Dies ist vielleicht eine der frühesten Geschichten über das Thema, dass Wissenschaft, und sei sie noch so exotisch, die Verantwortung für die Folgen ihrer Hervorbringungen übernehmen muss. Zweitens ist es eine Geschichte über einen Erfinder, der zwar genial, aber auch ein despotischer Schöpfer anderer Wesen ist.

Dessen Geschöpfe haben sich ein Credo gegeben, das alle Zuwiderhandlungen gegen den Willen des Despoten – des mikrokosmischen Gottes – mit dem Tode bestraft. Es besteht also ein direkter Zusammenhang zwischen Tod und Leben von Geschöpfen sowie nützlichen Erfindungen. Wenn man weiß, um welchen Preis die Erfindungen geschaffen wurden, ist es dann noch moralisch verantwortbar, sie einzusetzen? Übertragen auf unsere Gegenwart, könnte man sich fragen, ob es verantwortbar ist, Teppiche zu kaufen, die in Kinder- und Sklavenarbeit hergestellt wurden. Ich glaube, die Antwort sollte „nein“ lauten.

Vielfach wurden diese beiden Themen in der SF wieder aufgegriffen und auf andere Bereiche übertragen, so etwa auf Computertechnik und Virtuelle Realität. Aber Sturgeons Erzählung ist im Vergleich dazu sehr einfach und leicht verständlich erzählt, fast schon im Märchenton. (Aber in Märchen kommen kaum jemals richtige Namen vor.) Dennoch entwickelt die Handlung zunehmend Spannung und spitzt sich zu einem Höhepunkt zu. Deshalb und weil ihre Aussage überzeitlich gültig ist, wird sie immer wieder abgedruckt.

2) Kurzes Erwachen (Bright Segment)

Der Ich-Erzähler ist ein hässlicher Gnom von einem Nachtarbeiter. Weil er erst nach der Nachtschicht heimkehrt, stolpert er über die verblutende junge Frau, die in der Nähe seiner Wohnung in der Gosse liegt. Er trägt sie nach Hause und flickt sie wieder zusammen. Nach zwei Wochen der Fürsorge ist sie in der Lage, aufzustehen und etwas zu sagen. Sie drückt ihren Dank aus und erzählt ihm ihre Geschichte: Wie sie eine Dealerin für Drogen war und ihre Geschäftspartner betrog. Sie lauerten ihr auf, um sie zu töten, doch per Zufall brach das tödliche Rasiermesser ab, so dass sie dem Tod buchstäblich um Haaresbreite entging.

Als sie ihren Retter bekochen will, um seine Fürsorge zu erwidern, wirft er das Tablett mit dem Frühstück zornig an die Wand. Sie muss zurück ins Bett, damit er sich um sie kümmern kann. Ein Versuch, ihn zu verlassen, kostet sie beinahe das Leben – sie landet wieder im Bett, dem einzigen Ort, an den sie seiner Ansicht nach hingehört…

Mein Eindruck

Es ist eine Geschichte wie in „Die Schöne und das Biest“, mit Reminiszenzen an „Frankenstein“: Er flickt sie wieder zusammen. Das Münchhausen-Syndrom wird hier deutlich ausgelebt: Er redet ihr ein, sie sei noch zu krank, um aufzustehen, damit er sie weiter bemuttern kann. Einmal gefunden, darf sie ihn nie wieder verlassen: Sie ist wie ein „leuchtendes Segment“ im düsteren Himmel seines Lebens, und er kann nicht darauf verzichten. Eine wahrhaft „fesselnde“ Art der Liebe.

Die bittersüße Geschichte ist eindringlich und folgerichtig erzählt. Eine Verbrecherin wird nicht erlöst, und ihr Retter entpuppt sich als permanenter Kerkermeister. Ironie gibt es hier genügend, aber der Leser beginnt bald, Mitgefühl für beide Figuren zu entwickeln.

3) Keine Chance für Geister (Ghost of a Chance)

Gus lernt eine junge Frau kennen, eine weißhaarige Schönheit mit dunklen Augen, die ihm aber gleich eine runterhaut, als er ihr helfen will. Sie steckt in Schwierigkeiten, das ist klar, und weckt so den Ritter in Gus. Die Schwierigkeiten rühren offenbar daher, dass sie verfolgt wird – von einem Geist. Beim dritten Wiedersehen ist Gus hartnäckig: Er besucht sie in ihrer Wohnung, denn die Adresse hat er von seinem eigenen Psychiater Henry Gade. Bei dem war sie auch schon, ohne Erfolg.

Iola will einen Mann, wer könnte es ihr verdenken? Aber jeder, in dessen Nähe sie regelmäßig kommt, bekommt alle möglichen Schwierigkeiten. Kellner lassen Gläser und Tabletts fallen, Polizisten bekommen Juckanfälle – mittlerweile arbeitet sie in einem rein weiblichen Schönheitssalon. Und jetzt Gus. Es ist für sie klar, dass er in allernächster Zukunft große Probleme bekommen wird.

Die Sache ist ernst. Und der Geist rückt Gus auf die Pelle: ein schleimiges, glitschiges Etwas aus durchsichtigem, kaltem Gallert. Es lässt sich kaum abwaschen. Gus hat einen Einfall: Er schreibt einer Liebesberaterin bei einer Zeitung. Die Antwort hätte ihm eigentlich die rettende Idee eingeben sollen. Doch dann trifft ein Brief von Iola ein. Sie schreibt ihm, dass sie sich umbringen werde, sollte er ihr zu nahe kommen, denn sie wolle nicht an seinem Tod schuld sein. Gus hat einen Zusammenbruch und wird Landstreicher. Henry möbelt ihn wieder auf.

Endlich haben sie zusammen den rettenden Einfall: Des Rätsels Lösung liegt in Iolas ungewöhnlichem Aussehen…

Mein Eindruck

Die Story handelt von einem eifersüchtigen „Geist“ oder Alien. Was hier so banal klingt, hat für Männlein wie Weiblein in den prüden vierziger oder fünfziger Jahren harte Konsequenzen: Denn sie dürfen nicht miteinander leben, aber ohne einander sind beide unglücklich. Der „Geist“ verkörpert sozusagen das eifersüchtig über die Gesetze der Sitten und Moral wachende Über-Ich, also die „Gesellschaft“ im allgemeinen.

Wenn man aber gewitzt genug ist, das Interesse dieses „Geistes“ zu verstehen und den Spieß umzudrehen, so die Moral von der Geschicht‘, dann hat man eine Lösung, die der Liebe eine Chance gibt. Aus einer Beinahe-Horrorgeschichte wird so eine romantische Liebeskomödie.

4) Auslese (Prodigy)

Nach dem Vierten Weltkrieg ist die Welt voller Mutantenkinder, die in Krippen von Kustoden aufgezogen werden. Mayb ist solch eine Kustodin, und der vier Jahre alte Andi, ein Mutant, hält sie jede Nacht in Atem. Diesmal soll sie ihm die Geschichte vom felllosen Bär und dem Liger, einer Kreuzung aus Löwe und Tiger, vorlesen. Er zwingt sie mit seinem Willen dazu.

Am nächsten Morgen ist Andi verschwunden, doch seine Mutter Bibliothek-Beth, behauptet, ihn nicht gesehen zu haben. Mayb beginnt, ihre Sorgen mit dem Prüfer zu teilen. Der ist jedoch vielmehr bemüht, eine Panik zu verhindern. Als Andi zurückkehrt, ist er von einem Polizisten mit einem Schlafgas in Schlaf versetzt worden. Nicht auszudenken, was passiert wäre, wenn es Andi erlaubt worden wäre, erwachsen zu werden.

Der Stille Raum ist für Seinesgleichen und andere missratene Kinder die Endstation. Erst das Gas, dann der Brennofen…

Mein Eindruck

Die Kustoden wachen nämlich nicht über die Kinder, sondern über die Norm. Doch worin besteht diese Norm, fragt sich der Leser. In Maybs Geschichten ist immer nur von Missgeburten die Rede, die ausgesondert werden. Doch Andi ist körperlich ganz normal, nur sein Geist ist andersartig, nicht normgerecht. Als Pointe erfahren wir den Grund in der allerletzten Zeile: Andi war der einzige Nichttelepath auf der ganzen Welt.

„Auslese“ stellt die Normen infrage, nach denen „andersartige“ Menschen aussortiert bzw. benachteiligt werden, während man andere, die Schönen und Kräftigen, fördert, als wäre das ein besonderes Verdienst. Doch was, wenn die Zeit des Post-Holocaust alle Normen auf den Kopf stellt? Dann ist das heute „Normale“ die Ausnahme, die Mutation. Und die wird wie bei den Rassefanatikern der Nazis ausgemerzt.

5) Medusa (Medusa)

Ripley Harl ist ein Matrose in der Marine der Sternen-Liga. Nach drei Jahren Vorbereitung durch das Psycho-Institut von Dr. Renn erhält er einen Spezialauftrag: Er soll zusammen mit acht anderen Crewmitgliedern zum Planeten Xanthippe vorstoßen, der im System des Riesensterns Beteigeuze ein Feld erzeugt, das alle, die es betreten, wahnsinnig macht. Das heißt, von ihrem Geist bleibt nichts mehr übrig. Dieses Feld gilt es zu zerstören, damit die Marine den Planeten erobern und sein System befahren kann.

Die Crew, der er nun betritt, zeichnet sich dadurch aus, dass alle bereits wahnsinnig sind – außer einem. Rip denkt natürlich, er sei der Normale, aber das stellt sich als Irrtum heraus, als das Feld zu wirken beginnt…

Mein Eindruck

Auch diese Erzählung stellt die etablierten Normen, die der Leser voraussetzt, auf den Kopf. Was heißt schon „verrückt“ oder „normal“? Mit der richtigen Konditionierung lässt sich jeder Normalo in einen Irren verwandeln. Der Wahnsinn zeigt sich auf einen Auslöseimpuls hin oder unter Stress. Das erinnerte mich an den zweimal verfilmten Roman „The Manchurian Candidate“, in dem ein Killer dem posthypnotischen Befehl folgt, den Präsidentschaftskandidaten zu erschießen.

Der Titel der Story verweist auf die Gorgone Medusa, die von Perseus besiegt wurde. Er schlug ihr das Haupt ab, dessen Blick versteinerte, und schenkte es der Göttin Athene, deren Schild es fortan zierte. Die Schlangen, die das Medusenhaupt anstelle von Haar, umschlangen, sind dem Autor ebenfalls eine Steilvorlage: Der tödliche Stern Xanthippe sieht mit seinen Tentakeln, die nach den Schiffen und Raumfahrern greifen, aus wie eine Medusa. Man sieht aus: Der Autor hat die antike Sage in die Gegenwart und die Zukunft übertragen. Ob der Matrose Harl Erfolg hat, darf hier nicht verraten werden.

Diese Story hat nichts mit Sturgeons Roman „To Marry Medusa“ zu tun, soweit ich weiß.

6) Besessenheit (Blabbermouth)

Eddie Gretchen ist Radio-Jockey und kann sein Glück kaum fassen, als er sie auf der Straße gehen sieht: Maria, die Frau seiner Träume. Doch Maria will nichts von ihm wissen, mehr um seinetwillen als aus Abscheu. Sie redet von einem Poltergeist, von dem sie seit ihrem Aufenthalt in den Bergen besessen, und der sich von Argwohn und Hass ernähre. Eddie glaubt ihr kein Wort. Ein schwerer Fehler.

Er will mit Maria, die er doch noch geheiratet hat, renommieren und besucht mit ihr alle seine Kontakte. Am nächsten Tag bekommt er Telegramme von seinen Kontakten, er solle sie nicht mehr mitbringen, denn sie habe alle Geheimnisse, die sie verbergen wollten, an Leute weitergeplaudert, die diese nichts angingen. Maria ist ganz froh, zu Hause bleiben und ein schönes Heim für sich und Eddie einrichten zu können. Doch als der Radiosender mit einem anderen Sender fusionieren soll, will der Chef unbedingt ein Dinner zu Ehren der anderen Partei geben. Die von Gus mitgebrachte Maria richtet ein Fiasko an, das mit einer Leiche endet. Eddie wird rausgeworfen.

Auf den Hund gekommen lernt er eines Tages einen Taubstummen kennen, der alles aufgeschrieben haben will. Das ist ja DIE Lösung, fällt es ihm wie Schuppen von den Augen! Die Probe aufs Exempel, als er Maria beim Pfandleiher entsprechende Zettel schreiben und rüberschieben lässt, funktioniert einwandfrei. Jetzt haben sie ihre Bestimmung gefunden: Eddie wird Sensationsreporter – und dreimal darf man raten, wer seine beste Quelle ist…

Mein Eindruck

Ja, so ein „Poltergeist“ kann eine rechte Plage sein. Wobei das, was Tony Westermayr, der alte Schlaumeier, hier als „Poltergeist“ eindeutscht, wahrscheinlich im Original etwas völlig anderes war. Ein Poltergeist macht sich heutzutage laut und unangenehm in einem Haus bemerkbar. „Blabbermouth“, der O-Titel, ist jedoch korrekt als „Plappermaul“ übertragen.

Wie auch immer: Die Story ist romantisch, ironisch und von Yankee-Unternehmungsgeist durchdrungen. Nebenbei erfahren wir noch, wie verlogen, hinterhältig und heimlichtuerisch die Menschheit doch ist. Höchste Zeit, dass ihr mal ein Plappermaul auf den Mund schaut. Schade nur, dass die Story große Ähnlichkeit mit „Keine Chance für Geister“ aufweist.

7) Schatten in der Wand (Shadow, Shadow on the Wall)

Der etwa drei Jahre alte Bobby ist in sein Kinderzimmer eingesperrt. Seine Stiefmutter Gwen will nicht, dass er unten spielt, wo Papi und Jerry sind. Stiefmama Gwen will viel lieber, dass Bobby vor Schmerz weint.

Aber Bobby weiß sich zu helfen, wenn sie nicht da ist. Wenn die Sonne einen Lichtstrahl in sein Zimmer schickt, formt er mit seinen Händen Enten, Adler, Krokodile und andere Wesen. Auch wenn er seine Tischlampe anmacht, kann er die Wesen formen und sich so bestens mit ihnen unterhalten.

Doch das Wesen, das in der hintersten Ecke lauert, kommt nie zum Vorschein – bis eines Tages Mama Gwen eines Nachts ins Zimmer platzt. Sie vertreibt alle Wesen ins Schattenland, bis auf eines. Jetzt ist sie selbst im Schattenland, ha!

Mein Eindruck

Eine richtig schöne Gruselgeschichte, die mich an „Coraline“ von Neil Gaiman denken ließ – nur dass Sturgeon das Schattenland hinter der Wand schon lange vor Gaiman und Peter Straubs gleichnamigem Roman „Schattenland“ erfand. Die Pointe ist böse und befriedigend, denn nun ist der kleine Bobby endlich von seinem Quälgeist befreit.

8) Twink (Twink)

Der Ich-Erzähler hat einen Unfall verursacht, bei dem seine ungeborene Tochter Twink beeinträchtigt wurde. Wie er das weiß? Auch wenn er das abstreitet, so ist er doch ein Telepath, ein „Gedankenleser“, wie man zu ihm sagt. So kommt es, dass er mit seiner Frau Doris ins Krankenhaus fährt, wo eine Operation an ihr vorgenommen werden soll. Worin diese besteht, ist nicht einfach zu sagen, aber es dürfte sich wohl um einen Kaiserschnitt handeln…

Mein Eindruck

Diese dünne Handlung ist aber nicht der Schwerpunkt der Erzählung, sondern vielmehr die Seelenqualen, die der schuldbewusste Vater vor der „Geburt“ durchzustehen hat. Da nichts erklärt wird, muss sich der Leser selbst einen Reim auf die rätselhaften Emotionen und Beschreibungen des Erzählers machen. Ist dieser ein Telepath, ist seine Tochter Twink ebenfalls Telepathin? Wahrscheinlicher ist ein simples empathisches Band zwischen Vater und Ungeborenem. Aber die Erzählweise legt nahe, dass etwas Schreckliches bevorsteht – dabei ist es „nur“ ein Kaiserschnitt.

Der Autor zeigt an dieser Geschichte, worin seine Stärke besteht: die Einfühlsamkeit, mit der er Menschen (und Menschenähnliche) in Not schildert und die Verfremdung, sie als Fremdartige erscheinen zu lassen.

Unterm Strich

Dieser frühe Auswahlband mit dem einfallsreichen O-Titel „Caviar“ (denn „Sturgeon“ bedeutet „Stör“…) bietet im Grunde nur zwei Science Fiction Geschichten, wie man sie im allgemeinen erwartet: die Titelgeschichte und „Medusa“. Die Titelstory ist mittlerweile derart klassisch, dass sie eine Menge von Nachahmern gefunden hat. Ich würde beispielsweise auch „Der Lebenszyklus von Software-Objekten“ (2010) des US-Autors Ted Chiang dazu zählen. Es geht darum, von Menschen geschaffene Helferlein – seien es nun „Neoteriker“, Homunkuli, Roboter oder auch Computer – Dinge tun zu lassen, die die Moral ihres Schöpfers infrage stellen. Die Lösung, die der Autor 1941 fand, war affirmativ: Ja, die Helferlein sind gut und helfen ihrem Schöpfergott. Aber um welchen Preis? Es ist das alte „Frankenstein & Prometheus“-Thema von 1818 in neuem Gewand.

Auch der Matrose in „Medusa“ ist ein solches hilfreiches Geschöpf: Wie lässt sein Wahnsinn von geistiger Gesundheit unterscheiden, das ist die Frage, die der Autor unter anderem stellt. Er stellt (noch) nicht infrage, ob Dr. Renn das Recht hat, einen Matrosen wahnsinnig zu machen…

Die anderen Erzählungen sind eher auf der Ebene der menschlichen Tragödie bzw. Komödie angesiedelt. Während die scheinbar romantischen Komödien recht unterhaltsam sind, so gefiel mir doch die kurze Gruselgeschichte „Schatten in der Wand“ mit ihrer boshaft-befriedigenden Pointe doch am besten. Wer Neil Gaiman mag und „Coraline“ liebte, ist hier genau richtig.

Leider wird dieser schöne, aber alte Story-Band derzeit zu überhöhten Preisen von über zehn Euronen gehandelt, so dass ihn wohl nur ernsthafte Sammler in Betracht ziehen dürften.

Info: Caviar, 1955;
Goldmann, 1975,
187 Seiten,
aus dem US-Englischen von Tony Westermayr;
ISBN 3442231957