Theodore Sturgeon – The Dreaming Jewels

Mehr als menschlich: von Liebe und Erlösung

Der achtjährige Junge Horton Bluett ist etwas Besonderes: Nicht nur, dass er Ameisen isst, macht ihn zum Außenseiter, sondern dass ihm abgetrennte Finger nachwachsen und er seine Gestalt verändern kann. Zum Glück findet er vor seinen Verfolgern Zuflucht und Liebe – ausgerechnet in einem Wanderzirkus. Doch wenn sein Geheimnis jemals herauskommt, gerät er vom Regen in die Traufe.

Der Autor

Theodore Sturgeon ( (* 26. Februar 1918 in New York City als Edward Hamilton Waldo; † 8. Mai 1985 in Eugene, Oregon)) war einer der wichtigsten Story-Autoren der amerikanischen Science Fiction nach dem 2. Weltkrieg. (Er begann zwar schon 1939 zu veröffentlichen, doch die meisten Stories schrieb er in den 15 Jahren nach 1946.) Aber auch seine Romane wie „More than human“ (1953) wurden preisgekrönt. Sogar ein wichtiger Science Fiction-Preis ist nach ihm benannt.

Eines seiner Hauptmotive war die Weiterentwicklung des Menschen: Telepathen, Gestaltwandler, Telekineten und andere „strange people“ bevölkern seine Geschichten. Natürlich müssen sie sich, wie alle sogenannten „freaks“ mit den Vorurteilen, ja, der Feindseligkeiten der „Normalen“ auseinandersetzen. Aus dieser Entfremdung führt der Weg zu einem transzendenten Aufgehen in einer höherwertigen Gemeinschaft dieser PSI-Begabten. So geschieht es in „More than human“, in dem drei Begabte eine gemeinsame Gestalt-Persönlichkeit bilden, aber auch in „The Dreaming Jewels“, das 1950 erschien.

Romane

The Dreaming Jewels (1950, auch als The Synthetic Man, 1957)
Deutsch: Synthetisches Leben. Semrau (Weltraumfahrer #2), 1958. Auch als: Die lebenden Steine. Goldmann Science Fiction #0187, 1974, 3-442-23187-6.
More Than Human (1953)
Deutsch: Baby ist drei. Heyne (Bibliothek der Science Fiction Literatur #44), 1970, ISBN 3-453-31094-2.
Auch als: Die neue Macht der Welt. Heyne Science Fiction & Fantasy #3200, 1970.
Auch als: Die Ersten ihrer Art. Argument (Ariadne Social Fantasies #2064), 2001, ISBN 3-88619-964-9.
I, Libertine (1956, mit Jean Shepherd, als Frederick R. Ewing)
The King and Four Queens (1956)
The Cosmic Rape (1958, auch als To Marry Medusa, 1987)
Deutsch: Das Milliarden-Gehirn. Heyne Science Fiction & Fantasy #3062, 1966.
Venus Plus X (1960)
Deutsch: Venus plus X. Goldmann Science Fiction #0181, 1973, ISBN 3-442-23181-7.
Voyage to the Bottom of the Sea (1961)
Deutsch: Die Feuerflut. Pabel (Utopia Grossband #180), 1962.
Some of Your Blood (1961)
Deutsch: Blutige Küsse. Fischer Taschenbuch (Fischer Taschenbücher #1485), 1975, ISBN 3-436-01932-1.
The Player on the Other Side (1963, als Ellery Queen)
The Rare Breed (1966)
More Than Human: The Graphic Story Version (1978, mit Doug Moench und Alex Nino)
Amok Time (1978)
Godbody (1986)

Handlung

An dem Tag, als Horty Ameisen aß, flog er sofort von der Schule.

Wir befinden uns in den repressiven fünfziger Jahren des 20. Jahrhunderts. Alle Erwachsenen sind streng und prügeln gerne, und wenn sie es nicht sind, dann sind sie gemein. Oder beides. So auch Hortys Pflegevater Armand Bluett und seine Frau Tonta. Sie piesacken den armen achtjährigen Horty bis zum Gehtnichtmehr.

Sein einziger Trost ist sein Schachtelkasper namens Junky, den er besitzt, seit er vor sieben Jahren von den Bluetts im Waisenhaus adoptiert wurde. Junky ist etwas Besonderes: Seine funkelnden Augen strahlen Horty wie zwei Juwelen an. Als Armand diese Puppe einmal in den Müll warf, wurde Horty sterbenskrank, so dass man sie zurückholen musste. Von Junky hängt Hortys Wohlbefinden ab.

Als Armand Junkys Kopf zertritt, den Jungen in den Kleiderschrank sperrt und ihm im Spalt dabei drei Finger abtrennt, ist es für Horty Zeit abzuhauen. Er sagt noch kurz seiner Jugendliebe Kay Holloway (die spätter wieder auftaucht) Auf Wiedersehen und lässt sich von einem bunt bemalten Lastwagen mitnehmen, der irgendwohin fährt.

Im Wagen sitzen ein paar merkwürdige Passagiere: Havana, der fette Junge, hat Horty eingeladen und ist der Anführer. Solum sitzt schweigend am Steuer und trägt grünliche Haut wie ein Krokodil. Bunny und Zena sind kleine Mädchen, Zwerginnen. Zena wird Hortys wichtigste Freundin. Denn sie erkennt, welche Beziehung zwischen ihm und den zwei Kristallen in Junkys Kopf besteht: Horty hat so etwas wie telepathische Fähigkeiten. Zum ersten Mal in seinem Leben erfährt Horty Liebe: unter Feuerschluckern, Schlangenmenschen und anderen „Zirkusattraktionen“.

Als der wichtigste Mensch – oder vielmehr Unmensch – in Hortys Leben stellt sich der Menschenfresser heraus. Der düstere alte Mann Pierre Monetre leitet den Wanderzirkus, in dem Hortys neue Freunde auftreten. Aus dem Namen „Monetre“ machen sie „maneater“, also Menschenfresser. Wie passend der Spitzname ist, erfährt Horty nur zu bald. Zwar verbindet Monetre Horty drei gekappte Finger, will aber alles über ihn wissen. Zena befiehlt Horty, ihm nicht zu erzählen, dass seine, Hortys, Finger wieder nachwachsen und dass er zwei Kristalle besitzt: Junkys Augen.

Monetre ist ein gescheiterter, einsamer Untergrundkämpfer, der alle Menschen hasst. Auf seinen Touren durch die Vereinigten Staaten verbreitet er Seuchen und setzt giftige Tiere aus. Dabei besteht sein wichtigstes Geheimprojekt in der Arbeit mit rätselhaften Kristallen, auf die er eines Tages gestoßen ist. Er hat herausgefunden, dass diese a) Dinge wie Pflanzen und Tiere kopieren können, wenn er sie mit seine telepathischen Kraft dazu zwingt. Leider werden aus den Tieren und Menschen, die er kopieren lässt, nur Freaks.

Daher ist der Menschenfresser verzweifelt auf der Suche nach einem Mittelsmann, der sich problemlos und einvernehmlich mit diesen außerirdischen Kristallwesen verständigen kann. Durch die Kontrolle über diese Strohmann könnte er die kristalle zu allem Möglichen bewegen: Er könnte die schlimmsten Seuchenerreger und Monster erzeugen, die die Welt je gesehen hat. Absolute Macht.

Es ist nur eine Frage der Zeit, bis er in Horty diesen Mittelsmann finden wird. Zena weiß das, denn Monetre spricht mit ihr über sein Geheimprojekt. Sie trifft Vorkehrungen für diesen Tag. Auch wenn es ihr eigenes Leben kosten sollte.

Mein Eindruck

Ich habe das Buch in zwei Tagen durchgelesen: Es ist spannend, interessant und sehr bewegend. Denn im Mittelpunkt der Handlung stehen nicht neue Technologien oder ferne Ziele im Weltall, sondern die Wunder und Schrecken, zu denen ein besonderer Verstand fähig ist. Und den Menschen hat immer schon am meisten er selbst interessiert, ganz besonders sein Verstand.

Von Liebe und Erlösung

Man könnte annehmen, Hortys Geschichte sei die eines viel bewunderten Genies, der nun alles mit seinen Fähigkeiten anstellen könne, zu dem er Lust hat. Aber das Gegenteil ist der Fall: Da er Zena wie einer Mutter bedingungslos vertraut, befolgt er auch ihre Sicherheitsvorkehrungen. Maneater darf keinesfalls Hortys Fähigkeiten oder seine Kristalle entdecken. Als es dann doch dazu kommt, Jahre später, bedeutet dies für Hortys Freunde eine Katastrophe, denn der Maneater schreckt vor nichts zurück, auch nicht vor hypnotischen Befehlen, die aus seinen „Freaks“ willenlose Puppen machen.

Nur die Verbindung zu den Kristallen vermag Horty und seine Freunde zu retten. Dafür aber muss Horty den Verstand, die Kultur völlig fremder Wesen verstehen, begreifen und für sich nutzen. Und dazu muss er erst einmal mit ihnen kommunizieren. Zum Glück gibt es auch hierfür einen Weg.

Ein Kritikpunkt?

Man kann dem Autor vorwerfen, dass er nicht erkläre, worauf die Mutationen beruhen, die zu den PSI-begabungen führen. Das weiß Sturgeon aber und gibt den Schwarzen peter weiter: an die unzureichenden Erkenntnisse der Biologie im Jahr 1950. Damals stand die Entdeckung des Trägers des menschlichen Erbguts, der DNS, noch bevor (ca. 1953) und daher gab es so etwas wie Genetik noch nicht. Andererseits geht es im Roman nicht so sehr um die Ursachen, sondern um die Folgen der Mutationen.

Dialoge

Da ein Großteil des Textes aus Dialogen besteht, lässt es sich nicht nur leicht lesen, sondern die Figuren werden dadurch besonders lebendig. Sie unterhalten sich nicht über Sachen, sondern über sich und ihre Beziehung zueinander. Da dies mitunter sehr schwierig und schmerzhaft sein kann, sind Gefühle sehr wichtig. Der Autor seziert diese Gefühle aber nicht, sondern schaltet den Leser ein, sich diese Gefühle vorzustellen und miteinzubringen. Zwangsläufig nimmt der Leser großen Anteil an der Entwicklung der Figuren, mit denen er Mit-Leid verspürt. Als es dann zur Konfrontation mit dem Maneater kommt, der Verkörperung des Bösen, wird die Anspannung ebenso groß wie die anschließende Erleichterung. Denn es geht um nichts Geringeres als Hortys Erlösung.

Sprache

Dass die Sprache bei der Einbindung des Lesers von entscheidender Bedeutung ist, versteht sich (fast) von selbst. Sturgeon ist ein Autor, der, ähnlich wie Ray Bradbury, sehr erfinderisch in seinen Beschreibungen und Vergleichen ist. Ohne nun Beispiele in Englisch anzuführen, die man vielleicht nicht ohne weiteres versteht, möchte ich nur sagen: Die Beschreibungen sind äußerst anschaulich, obwohl sie nur das Nötigste am Äußeren einer Person (Mensch oder nicht) zeigen. Dabei verschweigt Sturgeon keineswegs erotische Details. Was für die 50er Jahre relativ ungewöhnlich war.

Aktualität

Mit einem Verweis auf Bradburys Roman „Die Mars-Chroniken“, der 1950 erschien, zeigt sich Sturgeon auf dem aktuellen Stand der Literatur. Auch Karel Capeks Satire „Der Krieg mit den Molchen“ findet Erwähnung. Sie erschien 1936 als Warnung vor Hitler und wurde 1937 erstmals ins Englische übersetzt. Dass Sturgeon auch dieses tschechische Buch kannte, ist bemerkenswert.

Unterm Strich

Sturgeons Roman lässt sich nur mit ähnlichen Werken der wichtigsten Phantastik-Autoren vergleichen: Mit Ray Bradbury – etwa seinem Roman „Löwenzahnwein“ (1957, dt. bei Diogenes) – und mit Olaf Stapledons Zukunftsmensch-Roman „Odd John“ („Insel der Mutanten“, 1935, dt. bei Heyne).

Die Zirkuswelt, die in der amerikanischen Fantasy-Folklore ein wichtige Rolle spielt, wurde nach 1970 noch einmal eindrucksvoll von Tom Reamy in „Blinde Stimmen“ und James Blaylock in „Land der Träume“ (beide bei Heyne) als unheimlicher Schauplatz aufgegriffen und verarbeitet.

Die Lektüre von „The dreaming jewels“ ist fesselnd, intensiv und sehr bewegend. Technische Kenntnisse wie bei naturwissenschaftlicher Science Fiction sind nicht notwendig. Die Ausgabe bei Vintage Books ist mit 12 US-Dollar zwar etwas teurer, dafür aber schön ausgestattet: mit großer Schrift und einer faszinierenden Illustration auf dem Titel: Junky mit seinen Kristallaugen.

Taschenbuch: 217 Seiten
Originaltitel: The dreaming jewels, 1950
ISBN-13: 9780375703737

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