Johan Theorin – Öland (Hörspiel)

Spätsommermord auf Öland

An einem Spätsommertag des Jahres 1972 verschwindet Julias kleiner Sohn Jens im dichten Nebel der Insel Öland. 20 Jahre später erhält sie einen Anruf von ihrem Vater Gerlof: Es gebe ein neues Beweisstück und er bitte sie, nach Öland zurückzukehren und die Suche wieder aufzunehmen. Dort geht das Gerücht um, der unheilbringende Nils Kant sei der Mörder. Dabei war dieser dreifache Mörder schon 1962 unter die Erde gebracht worden. Oder geistert er immer noch über die weite Kalkebene von Öland?

Der Autor

Johan Theorin, geboren 1963 in Göteborg, verbringt den Sommer seit seiner Kindheit auf Öland. Die mythische Landschaft der Insel regte ihn zu seinem Roman „Öland“ (2007) an. Es ist der Auftakt zu einer Tetralogie, deren Teile sich jeweils einer Jahreszeit widmen – „Öland“ spielt im Herbst, „Nebelsturm“ (2008) im Winter, „Blutstein“ (deutsch 2011) im Frühling.

„Öland“ wurde als bestes Krimidebüt ausgezeichnet, „Nebelsturm“ mit dem Preis für den besten Kriminalroman des Jahres, verliehen von der Schwedischen Krimiakademie.

Die Sprecher/Die Inszenierung

Die Rollen:

Julia: Astrid Meyerfeldt
Gerlof, ihr Vater: Traugott Buhre
Martin Malm, Reeder: Götz Naleppa
Torsten: Klaus Herm
Ernst: Matthias Brenner
Sven: Martin Brauer
Jens, Julias Sohn: Anton Weniger
Nils Kant: Andreas Schmidt
Maja: Christine Oesterlein
Astrid: Ingeborg Medschinski
Lennart, Polizist: Götz Schubert
Gunnar, Immobilienhai: Udo Schenk

Das Hörspiel bearbeitete Andrea Czesienski. Regie führte Götz Naleppa, die Musik trug Werner Cee bei. Die Produktion erfolgte durch das Deutschlandradio Kultur 2009. Das Buch erschien im Piper Verlag.

Handlung

Prolog, 1972

Ein Junge spricht mit einem Mann, weil er sich auf der Hochebene von Öland verirrt hat: Es herrscht dichter Nebel. Der Mann beruhigt den Jungen, er kenne sich aus. Er nennt sich Nils Kant. Und er nimmt den Jungen mit. Auf Nimmerwiedersehen.

Haupthandlung, 1992

Die Alkoholikerin Julia Davidsson, die in Göteborg als Krankenschwester arbeitet, bekommt einen Anruf von ihrem Vater Gerlof, der immer noch auf Öland lebt, jetzt in einem Altersheim. Es geht um Julias verschwundenen Sohn Jens. Der wurde damals nicht gefunden. Aber jetzt gibt es eine neue Spur: Er hat Jens’ Sandalette in einem Päckchen erhalten, das aus einem der Hauptorte der Insel kam. Julia will kommen. Die Sache lässt ihr keine Ruhe, seit 20 Jahren.

Auf der Insel trifft sie Ernst Andersson, den Steinmetz, der am Steinbruch lebt. Sie steht vor ihrem verfallenen Sommerhäuschen. Hier kann sie nicht wohnen. Aber sie war seinerzeit immer gerne hier. Ernst vertraut ihr an, dass er mit Gerlof immer noch daran arbeite, die Zusammenhänge von damals auf die Reihe zu bekommen. Er lädt sie zu sich ein, seine Skulpturen anzusehen. Aber jetzt erwarte er einen Gast …

Im Altersheim will sie sofort die Sandale sehen. Ja, es ist eindeutig die von ihrem Sohn. Die Polizei sollen sie dann also in ihrem Labor untersuchen, meint Gerlof. Er gibt ihr Unterkunft im Bootshaus. Er hat schreckliche Schuldgefühle, weil er damals seinen Enkel unbeaufsichtigt ließ. Er muss den Fehler wiedergutmachen.

Der Steinmetz ist tot. Es muss ein Unfall gewesen sein, sagt Lennart Henriksson, der Polizist der Insel, der sich vor 20 Jahren ebenfalls an der Suche nach Jens beteiligt hat. Ernst Andersson wurde von seiner eigenen Statue erschlagen. Wirklich, fragt sich Gerlof. Aber nicht laut. Es war Ernst, der die Postkarten fand, die Nils Kant immer an seine Mutter Vera schrieb, als er in Südamerika lebte. Gerlof hat Nils im Verdacht, etwas mit Jens’ Tod zu tun gehabt zu haben. Aber der Ablauf stimmt nicht: 1972, als die Sund-Brücke eröffnet wurde und Jens verschwand, war Nils bereits zehn Jahre unter der Erde. Der Polizist Lennart hat ihn doch persönlich identifiziert, nicht wahr? Und doch …

Nils Kant schreibt 1946 an seine Mutter: Habe letztes Jahr zwei deutsche Deserteure erschossen, die vom Festland zur Insel geschwommen sind. Als einer die Hand in die Tasche steckte, schoss er. Notwehr, ganz klar. Aber der Deutsche wollte ihm lediglich seine Beute anbieten: Edelsteine und Gold, geraubt natürlich. Dabei brauchte Nils das Zeug gar nicht – er stammt aus der reichsten Familie auf der Insel. Dennoch wurde er dafür verfolgt. Den Kommissar Davidsson erschoss er dann auch noch. Musste fliehen, ab nach Südamerika, bis 1962.

Gerlof rät Julia, den ehemaligen Totengräber Torsten zu besuchen. Das mit Nils’ Beerdigung hatte alles seine Ordnung, jau, nur komisch, dass Nils’ Mutter Vera dabei lächelte. Julia fährt zu Lennart, um ihm Jens’ Sandale zur Untersuchung zu geben. Sie lernt einen ordentlichen, unverheirateten und freundlichen Mann kennen, der alleine lebt. Sie will Veras Haus besichtigen, die bei einem Unfall auf der Treppe abstürzte und starb. Seltsam, dass sie da schon völlig verarmt war. Wo ging all ihr Geld hin?

Unterdessen findet Gerlof heraus, dass das Päckchen von Martin Malm abgeschickt wurde, dem ehemaligen Reeder und reichsten Mann der Insel. Seit einem Schlaganfall sitzt Martin allerdings bewegungsunfähig in einem Rollstuhl und kann kaum sprechen. Was macht er nun mit all seinem Reichtum? Gerlof zeigt ihm ein Gruppenfoto: Martin neben August Kant und einem jungen Mann – wer könnte das wohl sein? Welchen Deal schloss Martin anno 1972 mit den Kants ab, der ihm das Überleben erlaubte, während alle anderen Frachtsegler, wie Gerlof, durch die neue Brücke bankrottgingen? Und wer fügte Martin die tiefe Narbe auf seiner Stirn zu?

Viele Fragen, die schmerzhafter Antworten harren. Gerlof ist fest entschlossen, sie zusammen mit Julia zu bekommen. Jens’ Tod darf nicht ungesühnt bleiben. Und die Verantwortlichen leben noch immer auf Öland …

Mein Eindruck

Die Absicht des Autors war es, den Krimi stark in die Nähe der Gespenstergeschichte zu rücken, und das Hörspiel versucht sein Bestes, dieser Intention gerecht zu werden: Nils Kant – ein Wiedergänger? Es hat ja schon verrücktere Stories gegeben. Nur dass das ganze Ambiente der Handlung in einem rauen, realistischen Rahmen platziert ist, der sturmumtosten, meerumspülten Insel Öland vor Schwedens Ostküste. Seit Wallander, Marklund und Larsson ist dieser realistische Ton Pflicht für Schwedenkrimis. Deshalb traut der Leser bzw. Hörer dem suggerierten Gespensterplot nicht so ganz: Es muss eine rationale Erklärung geben. Und es gibt sie, zur Erleichterung des Publikums. Die Erklärung allerdings wirkt um ein Haar tödlich. Das ist der Haken an der Wahrheit.

Gerlof und seine Tochter sind ja alles andere als ein gewieftes Ermittlerduo, ganz im Gegenteil. Eine einsame Alkoholikerin mit gebrochenem Herzen und ein alter gebrechlicher Mann aus dem Altersheim – wen sollen die denn schon aufstöbern, fragt man sich. Aber sie werden verzweifelt angetrieben von dem Wunsch, Aufklärung über das Schicksal von Jens zu erhalten und die Täter, sofern sie noch existieren, anzuklagen. Und sie kommen weit, viel weiter als erwartet.

Im Hörspiel muss der Hörer logische Sprünge vollziehen, um mit den Lücken in der Handlung zurechtzukommen. Das ist leichter als es klingt. Denn der nächste Schritt wird stets durch einen Verdacht oder einen Hinweis vorbereitet. So gelangt der hartnäckige Gerlof von A nach B und schließt zu dem Mann, der ihn umbringen will. Ein unscheinbarer Mensch, ein freundlich daherredender Bursche, der einen gerne ein Stück des Wegs nach Hause bringen möchte – und dann unerwartet vom Weg abweicht …

Die zweite Ebene der Handlung betrifft natürlich die drei Ebenen der Vergangenheit: die Zeit vor 1962/63, dann das Jahr 1962/63 und schließlich 1972. Der Leser muss diese Ebenen, die laufend vermischt werden, auseinanderhalten und die Informationen entsprechend zuordnen, um ein Bild der Ereignisse in der Vorgeschichte zu erhalten, das stimmig ist. Schlauerweise fehlen die entscheidenden Puzzleteilchen jedoch bis zum Schluss. Für Gerolf bedeuten sie fast den Tod.

Und wer ist dieser Nils Kant überhaupt, der in den Köpfen herumgeistert? Aus den Postkarten erhalten wir Andeutungen, in was er verwickelt war. Er ist nicht nur einmal der Auslöser tragischer Ereignisse, sondern mindestens zweimal: 1945 und 1972. So beschwört er seine eigene Nemesis herauf. Und was 1972 vertuscht worden ist, findet noch 20 Jahre später die gerechte Strafe.

Der Autor legt hier ein optimistisches Weltbild an den Tag, in dem Gerechtigkeit möglich ist. Ja, sogar Wahrheit und Sühne. Nötig zur Erlangung dieser Ideale sind offenbar Mut, Unerschrockenheit und sicher auch ein gewisses Maß an Verzweiflung in Gerolf und Julia. Aber auch Kommissar Zufall spielt eine gewisse Rolle, andernorts auch „Glück“ genannt. Mehr darf hier nicht verraten werden, aber es wirkt schon ein wenig aufgesetzt, was mit Nils Kants Kriegsbeute geschehen ist.

Die Sprecher/Die Inszenierung

Zunächst ist es für den mit der schwedischen Aussprache etwas gewöhnungsbedürftig, wenn hier von einer „jülja“ (Julia) und einem „järluf“ (Gerlof) die Rede ist. Dafür klingen Namen wie Ernst, Astrid, Torsten, Jens und Nils für unsere Ohren doch sehr vertraut.

Die Sprecher

Die zentrale Rolle spricht Traugott Buhre. Der 2009 im Alter von 80 Jahren gestorbene Schauspieler war „einer der großen Charakterdarsteller des deutschsprachigen Theaters“. Da hat das Booklet völlig recht. Außer an den großen Bühnen wie Wien oder Hamburg trat er auch in „Derrick“- und „Tatort“-Krimis auf. In „Öland“ trägt er Gerlof die Ermittlung der Davidssons in das Auge des Sturms und riskiert dafür ohne weiteres das eigene Leben. Buhre klingt dabei nicht rachsüchtig, sondern wie ein rücksichtsloser Wahrheitssucher. Doch Gerlof ist ja kein junger Springinsfeld, sondern an die 70 Jahre alt. Der Drahtzieher hinter Jens’ Verschwinden hätte theoretisch leichtes Spiel mit ihm. Das macht das Finale so packend.

Julia, gesprochen von Astrid Meyerfeldt, ist eine gebrochene Frau, hängt an der Flasche und ist einsam. Aber von ihrem Vater hat sie den Durst nach der Wahrheit geerbt. Sie fällt auf den Polizisten Lennart Henriksson herein und gerät so in Gefahr.

Die dritte Hauptfigur, die hier preisgegeben werden kann, ist ohne Zweifel der unheilvolle Geist von Öland, Nils Kant. Andreas Schmidt spricht ihn, in den Postkarten-Zitaten voll Liebe für seine Mutter Vera, dann in den Rückblenden mit zunehmender Emotionalität, denn Nils ist nicht nur frustriert, sondern auch in Lebensgefahr.

Dass Regisseur Naleppa eine Rolle innehat, hat nichts zu bedeuten: Sein Martin Malm ist praktisch sprechunfähig.

Geräusche

Durch verschiedene Effekte versucht die Inszenierung den Eindruck zu erwecken, die Handlung spiele auf einer windumtosten, meerumspülten Insel. Das ist für die Dramaturgie wichtig, denn es lässt die Entwicklung der Ereignisse unentrinnbar erscheinen: eine kleine Bühne, auf der sich ein Drama um Leben und Tod abspielt.

Der Sound der Wellen, die an den Strand rauschen, klingt echt, aber mit dem Wind hapert es doch gewaltig. Ich war in den Universal Studios und weiß, wie ein künstliches Windgeräusch erzeugt wird – mit einem gerät, das ich selbst kurbeln durfte. Genauso handgemacht klingen die Windgeräusche. Zumindest an einer Stelle.

Realistischer wirken da schon mechanische Geräusche, wie etwa von einem Automotor oder von einem Helikopter sowie von einer Schusswaffe. An einer Stelle schlagen Autotüren zu, so dass es klingt wie Schüsse; das ist entweder keine besonders gelungene Überschneidung oder eine völlig beabsichtigte …

Musik

So etwas wie melodische Musik im üblichen Sinn ist hier nicht zu finden. Vielmehr erzeugt Komponist Cee eine „Wall of Sound“, die eine bestimmte Stimmung erzeugt – meist eine bedrohliche oder mystische. Sie hält den Krimi stets im Bereich der Gespenstergeschichte. Nur im Intro ist eine klagende Frauenstimme wie in einer Kantilene zu hören. Im Outro ist nur jene Wall of Sound zu hören und der ewige Wind.

Booklet

Das vierseitige Booklet liefert Infos zum Autor, den Sprechrollen, den Mitwirkenden sowie die Credits.

Unterm Strich

Die Handlung des Krimis ist selbst noch in der stark verdichteten und reduzierten Form als Hörspiel noch packend und anrührend. Die Auflösung des Rätsels wird den Leser auf jeden Fall schocken, das garantiere ich.

In der Originalform als Buch spielen sicher die menschlich-sozialen Hintergründe und die Landschaft eine viel stärkere Rolle. Wer sich für Öland interessiert, sollte deshalb unbedingt zum Buch greifen. Auch im Hinblick auf die drei Fortsetzungen, die der Autor entweder bereits publiziert hat oder noch veröffentlicht (siehe oben).

Das Hörspiel

Mit bescheidenen Mittel und in der kurzen Zeitspanne von rund 60 Minuten eine solch komplexe, über vier Zeitebenen verteilte Geschichte umzusetzen, ist schon eine ungewöhnliche Leistung. Dabei bleibt die Handlung durchweg verständlich, sofern man ein wenig Erfahrung mit Schwedenkrimis hat. Gewöhnungsbedürftig ist allerdings die korrekte Aussprache der Namen, aber auch die eingeschobenen Postkarten-Zitate von Nils Kant. Nicht so begeistert war ich von der Musik und den Geräuschen. Alles in allem bekommt man für rund 13 Euronen ein spannendes und bewegendes Hörspiel, das aber gebraucht sicherlich noch billiger zu erstehen ist. Ich empfehle dennoch die Buchform.

Audio-CD mit 67 Minuten Spieldauer
Originaltitel: Skumtimmen (2007)
Aus dem Schwedischen übersetzt von Kerstin Schöps
ISBN-13: 978-3-86717-648-4

https://www.penguinrandomhouse.de/Verlag/der-Hoerverlag/70000.rhd

Johan Theorin bei Buchwurm.info:
[„Öland“]http://buchwurm.info/book/anzeigen.php?id__book=4855