Anja Thieme – Orkneys Söhne. Die Lebenserinnerungen des Mordred of Orkney (Anti-Artus-Roman)

Fantasy in Leinen

»Also habe ich Unfrieden zwischen Artus und Mordred gestiftet und den Zorn geschürt… Ich sollte um Frieden ersuchen, damit nicht noch mehr Königssöhne der Insel von Britannien erschlagen werden. Und obwohl Artus mir die gerechtesten Worte, die ihm einfielen, mitgab, überbrachte ich Mordred die schlimmsten, die mir in den Sinn kamen. Und deshalb nennt man mich den Schlächter Britanniens, denn dadurch kam es zur Schlacht von Camlann.« Iddawe, der Bote – Traum des Rhonabwy, Mabinogion

Dieses Buch ist der Lebensbericht des Mordred of Orkney, Sohn des sagenhaften König Artus. Er war der Merlin, ein wahrer König und der, welcher wider Willen seinen Vater erschlug. Aus alten Quellen genau recherchiert und ungeheuer spannend erzählt, ist dieser Roman die schon lange fällige Rehabilitation eines der größten Bösewichter der Literaturgeschichte.

Anja Thieme

Anja Thieme (*1969) wuchs als Tochter einer Buchhändlerin und eines Verlagskaufmannes inmitten von Literatur auf. Bereits während ihrer Schulzeit am Gymnasium arbeitete sie als freie Mitarbeiterin bei einer Tageszeitung und schrieb Kurzgeschichten und teilweise kontrovers diskutierte Artikel für die lokale Presse und die Schülerzeitung, deren Redaktion sie bis kurz vor Ende ihrer Schullaufbahn leitete. Nach dem Abitur begann sie ein Germanistik-Studium mit dem Ziel Lektorin oder Journalistin zu werden. Wegen schlechter Chancen am Arbeitsmarkt und privater Schwierigkeiten mußte sie das Studieren jedoch schließlich abbrechen.

Sie schrieb aber weiter Kurzgeschichten und Gedichte und begann zu verschiedenen Themen für einen historischen Roman zu recherchieren. Die Geschichte Europas, vor allem Englands und Deutschlands faszinierte sie dabei am meisten. Auf die Christianisierung Britanniens und das alte Sagenbuch der Kelten (Mabinogion) aufmerksam geworden, entstand von 1996 bis 2000 der Roman »Orkneys Söhne«, eine neue Interpretation des Artus-Stoffes. Anja Thieme hat nun das Schreiben zu ihrem Hauptberuf gemacht lebt mit ihrem Mann und ihren zwei Kindern im Rheinland. (Amazon.de) Soweit ich feststellen kann, ist „Orkneys Söhne“ ihr bisher einziger veröffentlichter Roman.

Weitere Bücher

1) Elfe auf Erden
2) Der Koboldprinz
3) Küss den Koch!

Sex and Crime an König Artus‘ Hofe

Artus-Geschichten gibt es in allen Varianten. Unter der Vielzahl der zu diesem Thema veröffentlichten Romane findet man diese Legende aus sehr verschiedenen Blickwinkeln beleuchtet. Und auch die Handlung variiert sehr stark. Nun war ich ja sehr gespannt, was eine deutsche Autorin aus diesem Garn für einen Stoff weben würde.

Gwyddion ist ein junger Mann, der bei seiner Mutter Ninian, der Hohepriesterin von Avalion, ausgebildet wird. Als seine Mutter erkrankt, sendet sie ihren Sohn zu Guennera, der ehemaligen Königin, die ebenfalls eine ausgebildete Hohepriesterin sein soll, um diese als „Krankheitsvertretung“ nach Avalion zu bringen. Diese Ereignisse sieht Raven, der König der Orkneys und zugleich der Mann, den Gwyddion als seinen leiblichen Vater kennt, mit seiner Sehergabe. Und Raven sieht die Zeit gekommen, Gwyddion seine Lebensgeschichte zu erzählen. Denn sein Name ist nicht nur Raven, sondern …
Mordred.

Mordred wächst als dritter von fünf Söhnen Königs Lot der Orkneys und seiner Frau Morgause auf. Doch Lot ist – mehr als zu seinen anderen Söhnen – unmenschlich hart und streng mit Mordred und nennt ihn einen Bastard. Mordreds Halt im Leben, seine Stütze und sein bester Freund zugleich ist sein Bruder Gawain (Gawalchmain, Gaven). Da beide Brüder eine seherische Gabe besitzen, werden sie gemeinsam zum Tempel von Avalion zur Ausbildung unter dem Hohepriester Taliesin, dem derzeitigen Merlin gesendet. Doch während Mordred im Glauben des Tempels aufgeht und bald selbst zum Druiden der dunklen Göttin Morrigan und später zum Hohepriester Avalions geweiht wird, fürchtet sich Gawain vor der dunklen Seite der Götter und verlässt den Tempel vor seiner Initiiation, um sich gemeinsam mit dem ältesten Bruder Agravain der Tafelrunde König Artus’ anzuschließen.

Mordred folgt seinen Brüdern dorthin, um als Merlin und Ratgeber an Artus’ Hof zu dienen und erkennt sehr schnell, dass er der Sohn des Königs ist. Das wäre ja schon arg genug, dass Lot mit seinen Bastard-Unkenrufen recht gehabt hätte, doch die Situation ist zusätzlich verzwickt, da Artus und Morgause Stiefgeschwister sind – zwar nicht blutsverwandt, doch das Volk sieht sie als Bruder und Schwester und das macht eine jede heiße Liebesnacht der beiden zu Inzest und bringt zudem Mordred in die Zwickmühle, mit Artus einen Onkel und Vater in der gleichen Person zu haben. Doch Artus ist gar nicht unerfreut, und einen Sohn zu haben, kommt ihm ganz gelegen, denn seine Frau Guennera kann keine Kinder bekommen und Lancelots Sohn Galahad, der für den Fall, dass Artus ohne leiblichen Sohn sterben sollte, als Erbe bestimmt ist, taugt eher zum Priester als zum König.

Guennera, eine Frau von überragender Schönheit und natürlich viel jünger als Artus, der mit ihr lediglich eine politische Heirat geschlossen hat, ist eine nicht nur überzeugte, sondern geradezu fanatische Christin und zofft sich mit dem heidnischen Hohepriester Mordred und auch dessen Geliebter, der Hohepriesterin Ninian, wo sie nur kann. Als sie zu weit geht und die Götter beleidigt, beschwören Mordred und Ninian einen Fluch auf die Königin herab, der ihr wahres Wesen zeigen soll. Und dieser Fluch bewirkt, dass Guennera, die schon immer etwas für Lancelot übrig hatte, komplett den Verstand verliert und sich bei jeder passenden und unpassenden Gelegenheit mit dem Oberst und besten Freund ihres Mannes des Königs unter lautem Stöhnen und lustvollem Gequietsche ins Heu verzieht. So geht das eine Weile. Mordred verhandelt indessen im Namen seines königlichen Vaters mit den ehemals feindlichen Sachsen um ein Bündnis gegen die einfallenden Römer. Und als er zurück am Hof ist, erscheint einigen dort das Bild des Grals, mit dem bekannten Ergebnis der Gralssuche, der sich auch Lancelot anschließt. Guennera ist indessen durch ihren Fluch komplett von der Existenz der Götter überzeugt, doch Mordred zögert, den Fluch von ihr zu nehmen und lässt sie aus persönlicher Rachsucht noch ein bisschen länger schmoren. Dadurch zieht er selbst sich den Zorn der Göttin zu, die ihn damit bestraft, dass er mit der Auflösung des Fluchs erkennt, dass er selbst in Guennera, seine Königin und Stiefmutter verliebt ist. Das kann natürlich nicht gut ausgehen …

Mordred und Artus in der Legende

Mordred (auch Medraut, Modred, Medrawd) ist in den Varianten der Artus-Legende, die wir heute kennen, zumeist der klassische Bösewicht. Die älteste historische Quelle zur Artus-Sage jedoch, die „Annales Cambriae“ gibt keinen Grund, das von ihm anzunehmen. Zwar ist darin die Rede davon, dass sowohl Artus als auch Mordred bei der Schlacht von Camlann im Jahre 537 fallen, doch gibt es darin keinen Anhaltspunkt, der besagt, ob sie auf der gleichen oder auf unterschiedlicher Seite gekämpft haben. Auch auf eine bestehende Verwandtschaft zwischen den beiden gibt es darin keinen Anhaltspunkt.

Eine weitere walisische Quelle, der „Traum von Rhonabwy“ nennt Mordred schlicht als Neffen Artus’, was er ja auch als Sohn Morgauses wäre.
Erst in Geoffrey of Monmouth’s „Historia Regnum Brittonum“ aus dem Jahre 1136, also fast 600 Jahre „Stille Post“ und eifriges Rätselraten später, erscheint Mordred (immer noch als Artus’ Neffe) das erste Mal als Verräter, der den Untergang Camelots und den Zerfall des Artus-Reiches herbeiführt, Artus’ Frau Guinevere heiratet und ihm den Thron streitig macht.

Und erst im Vulgate-Zyklus schließlich, einer französischen Sammlung von Texten über Artus, wird erstmals behauptet, Mordred sei Artus’ Sohn aus einer inzestuösen Beziehung mit seiner Schwester Morgause, der Königin von Orkney. Dabei sind sich auch diese schon nicht mehr ganz so frühen Quellen nicht über die Schuldzuweisung des Inzests einig; wird in einigen behauptet, beide hätten sich ohne über ihre Verwandtschaft zu wissen, einander hingegeben, so wird in einer anderen Quelle behauptet, Morgause habe ihren Bruder absichtlich getäuscht und ihren gemeinsamen Sohn Mordred als Erpressungsmittel gegen ihn genutzt. Doch eine wieder andere Variante gibt auch Artus die Schuld und behauptet, er habe sich als Morgauses Ehemann Lot verkleidet.

Fantasy oder Historischer Roman?

Schon schön, wenn sich die historischen Quellen – sofern überhaupt vorhanden – derart uneinig sind wie im Fall der Artus-Legende. Dann kann man sich als Autor von jeder Variante sein Lieblingshäppchen rauspicken und trotzdem mit der eigenen Recherchearbeit angeben. Das hat Frau Thieme sich wohl auch gedacht und fleißig ausgenutzt. Wo dann noch Lücken in der Geschichte blieben, hat sie diese bunt durchmischt gefüllt mit einem lustigen Potpourri aus historischem Wissen und noch mehr Phantasie und Fantasy.

Man möge mich nicht falsch verstehen, ich finde das nicht verkehrt. Wie soll man auch sonst in einem Fall wie der Artus-Sage vorgehen, wenn niemand nichts Genaues weiß? Aber das bedeutet eben auch unbedingt, dass ich dieses Buch als Fantasy oder meinetwegen als historische Fantasy einordne – ein historischer Roman ist es für mich nicht. Doch Frau Thieme macht hier und da den Eindruck, dass sie mit ihrer Version der Sage ernst genommen werden will. So finden sich im Text zahlreiche Fußnoten, die dann im Buchanhang Hintergründe erläutern, die belegen, dass sich die Autorin durchaus mit der Zeit und der Materie beschäftigt hat, und dem Buch eine gut recherchierte Note wie quasi bei einem historischen Roman verleihen. Wir dürfen aber nicht vergessen, dass es sich letzten Endes nur um eine Themenvariante handelt, eine Spinnerei, wie es hätte gewesen sein können. Einige dieser Fußnoten sind übrigens denn auch für Verständnis und Hintergrund der Geschichte völlig belanglos und merkwürdig aus dem Zusammenhang gerissen, als ob die Autorin ihr Allgemeinwissen unter Beweis stellen wollte.

Die Story selbst ist sowohl von Atmosphäre und Schreibstil her als auch von der Charakterisierung der Hauptpersonen in zwei Hälften gespalten – vor und nach der entstehenden Liebe zwischen Mordred und Guennera.

Der erste Teil zeigt uns einen kecken Mordred; ständig eine dralle Maid auf dem Schoß, ist er ein verlässlicher Freund und Bruder, aber er kann auch boshaft sein und, wenn man ihn zu sehr reizt, auch rachsüchtig. Das stört mich nicht, im Gegenteil, dieser Mordred ist ein sympathischer „Bösewicht“, eine faszinierende, dunkle Persönlichkeit zwischen all den farblosen „guten“ Christen Camelots, sein Charakter ist tief und wirkt auf mich überaus anziehend. Ich bin selbst halb verliebt in diesen Mordred, der links den Becher und rechts die Weiber stemmt, seine böse Zunge nicht zurückhält und doch den Menschen, die er liebt, stets Loyalität beweist. Überhaupt trieft dieser erste Teil des Buches nur so vor Sex. Ganz Camelot scheint nichts anderes im Sinn zu haben, als sich von einer Orgie in die nächste zu stürzen. Die ganze Pallette der sexuellen Ausschweifungen ist hier vertreten: Untreue Ehefrauen (Ehemänner sowieso), dralle Mägde, flotte Dreier und Vierer und rituelle Liebesakte zur Ehrung der Götter – so viel ist davon vertreten, dass es mir schon wieder etwas zu viel ist. Und auch gebechert wird heftig.

Doch dann kommt der Bruch. Die Strafe der Göttin. Und sie trifft nicht nur Mordred, sondern auch mich. Aus dem Mann, den ich eben noch nicht von der Bettkante gestoßen hätte, wird ein depressiver, von Liebeskummer umnachteter Junge. Aus dem schwarzen Hengst wird ein kolikkranker Wallach. Und in ein spannendes, mitreißendes Buch schiebt sich eine alberne, kitschige Liebesroman-Atmosphäre, begleitet von Unglaubwürdigkeiten. Nun – zumindest stellenweise. Da wäre zunächst einmal Guennera. War sie im ersten Teil noch „der Feind“, von fanatisch christlichem Glauben und erschien wie der Fluch von Camelot, so erlebt sie nun in der zweiten Buchhälfte die völlig unglaubwürdige Verwandlung in eine Hohepriesterin des keltischen Glaubens mit Sehergabe. Und Mordred. Mein Mordred! Eben noch ein sinnenfreudiger Casanova, wird er plötzlich reduziert auf sehnsüchtige, liebeshungrige Blicke. Und nicht nur das. Frau Thieme „rechtfertigt“ die Liebe zwischen Mordred und Guenevera auch noch damit, dass beide bereits in einem früheren Leben vereint waren. Dass ihre Verbindung zum Wohle des „Landes“ von den Göttern geplant ist. Nein, das war zwar auch im ersten Teil schon ein „Fantasy“-Roman, aber jetzt wird es mir einfach zu bunt!

… und zugleich zu trist.

Denn ab dieser verbotenen Liebe zwischen Stiefsohn und Stiefmutter mischt sich denn nun auch die bei diesem Thema natürlich vorprogrammierte Endzeitstimmung in das Buch. Dem Leser schwant nichts Gutes. Aber da der Bruch in zwei Teile bereits ziemlich genau in der Mitte des Werkes passiert, zieht sich diese Depri-Phase denn auch über mehr als 300 Seiten hin. Fortan ist Mordred hin- und hergerissen. Loyalität gegenüber dem Vater oder endlich Kissenschlacht mit Stiefmama? Und um ihn herum sinkt auch der Rest von Camelot so langsam in den Morast.

Lancelot, den wir aus so manch anderer Variante der Artus-Sage als strahlenden Ritter für die gute Sache kennen (wenn natürlich auch mit dem nahezu nichtigen Abstrich, dass er mit der Frau seines Freundes und Königs ins Bett geht) mutiert unter der Feder von Frau Thieme zu unserem neuen Bösewicht. Denn so ganz ohne schwarzes Schaf und Feindfigur schafft es auch diese Autorin nicht. Jemandem muss man ja die Schuld in die Schuhe schieben …. Hier ist es also Lance (nein, das habe ich mir nicht noch halb im Tour-de-France-Fieber ausgedacht, Lancelot wird tatsächlich im Buch so genannt, das wirkt auf mich so überhaupt nicht nach 500 n. Chr., ein echter Stilbruch zwischen so viel mühseliger Recherchearbeit …), der hinterhältig Verrat begeht und es auf Artus’ Thron und Frau abgesehen hat. Dabei sind Vater und Sohn Pendragon ihm gehörigst im Wege.

Mordred erscheint uns hier nicht als Thronräuber. Da er ein geweihter Druide ist, hat er zunächst kein Interesse daran, seinem Vater als Hochkönig auf den Thron zu folgen. Seine Interessenslage ist einfach anders. Dass er letztlich doch seiner Thronfolge zustimmt, erklärt die Autorin damit, dass das Land selbst es so will:

(

„Plötzlich flackerten Bilder vor meinen Augen, gegen die ich mich verzweifelt wehrte, doch ohne daß ich es verhindern konnte, wurde ich zum Raben und flog über das Land. Wachend und suchend. Ich flog mit dem goldenen Drachen. Getragen von seinen gewaltigen Schwingen. Gleichzeitig riß der Nebel um Avalion auf und die Wolkendecke auch. Da lag die Insel in strahlendem Glanz vor mir. Ich konnte die blühenden Apfelbäume an ihrem Ufer sehen. VERNIMM DEN RUF, MORDRED OF ORKNEY, RABE, SOHN, PRIESTER. Und es geschah, das Land bat mich, forderte nachdrücklich sein Recht, sang meinen Namen, ein ewiges auf- und abschwellendes Lied, das mein weit geöffnetes Herz erreichte und erhört wurde. Artus wandte sich um und lief langsam in Richtung der Zelte. ‚Halt!‘, rief ich, noch immer in der Sicht. Meine ganze verwundete Seele schrie auf. ‚Ich tue es. Ich nehme den Reif an. Nicht Galahad, er ist zu schwach, es ist falsch. Ich muß, das Land fordert es.‘ …

“ S. 194)

Für mich ist das einfach zu dick aufgetragen. Quer durch das Buch zieht sich diese vor Pathos triefende Verbindung zwischen Mordred und „dem Land“ und wenn ich auch Fantasyelemente wie Magie und Götter in „Orkney’s Söhne“ sehr gut dargestellt finde, hier endet die Begeisterung für mich.

Dann haben wir noch Artus, der im ersten Teil ein weiser Hochkönig sein darf, der Britannien geeint hat. Da wirkt er noch, wie ein großer König wirken muss: weise und majestätisch. Im zweiten Teil fragt man sich nur noch, wer dieser Artus eigentlich ist, dass er nicht sieht, dass seine Frau mit seinem Armeeführer fremdgeht. Dass er nicht sieht, dass sein Sohn sich in sie verliebt hat. Dass er nicht sieht, dass Lancelot ihn verrät. Dass er durch ein falsches Urteil zwei von Mordreds Brüdern auf dem Gewissen hat. Und dass überhaupt immer seltener im Buch die Rede von ihm ist und Frau Thieme ihn einfach wegrationalisiert. Von dem weisen König aus der ersten Hälfte finde ich hier keine Spur mehr. Stattdessen verkommt Artus zu einem schwachen Kerl, der dem erstbesten Schwätzer alles für bare Münze abnimmt.

Den wesentlichen Teil der Geschichte machen die Erinnerungen Mordreds aus der Perspektive des Ich-Erzählers aus. An einigen Stellen wird der Text jedoch durch kursiv eingeschobene Passagen durchbrochen, die uns in ein Geschehen blicken lassen, an dem Mordred nicht selbst beteiligt ist. Dabei handelt es sich dann entweder um Erlebnisse der anderen Personen oder auch um Dinge, die Mordred mit seiner Gabe „sieht“. Dadurch umgeht Anja Thieme geschickt die Einschränkungen, die einem Autor durch Verwendung der ersten Person aufgelegt sind, und kostet zugleich die Intimität mit dem Leser aus, die diese Schreibweise dennoch bietet. Der Schreibstil ist relativ ausführlich und gefühlsbetont, an manchen Stellen sogar andeutungsweise poetisch. Im Großen und Ganzen fand ich den Erzählstil zwar dennoch eingängig, an einigen Stellen passiert aber schon mal ein stilistischer Lapsus, gibt es mal eine merkwürdige Formulierung und dazwischen fallen mir immer wieder ein paar Sätze auf, die ganz süß zweideutig oder missverständlich formuliert sind. Ein schönes Beispiel von Seite 565: „Agravain ist schon die ganze Zeit allein auf den Orkneys. (…) Wer weiß, ob er sich nicht schon zu Tode getrunken hat. Wenn nicht, kann ich ihm vielleicht helfen.“ Sehr gut gelungen finde ich hingegen die Einflechtung von Liedern und Gedichten in den Text – etwas, das mich sonst in vielen Büchern langweilt und anödet, hat die Autorin hier wirklich mit Gefühl vollbracht.


Unterm Strich

Nun habe ich in meiner Kritik und Meinung so viel über das Buch hergezogen und muss doch letzten Endes zugeben, dass es mir dennoch sehr gut gefallen hat. Wie kommt’s? Nun, es fällt zunächst immer etwas einfacher zu motzen. Mir fallen tausend Kleinigkeiten auf, die mich stören, aber es ändert nichts daran, dass ich dieses Buch mit Begeisterung gelesen habe, mich in die Geschichte katapultiert sah, mit Mordred gelitten habe und von dem Britannien um Fünfhundernochwas nach Christus, so wie Anja Thieme es aufzeigt, sehr angetan bin. Zwar kann ich dieses Buch nicht als historischen Roman durchgehen lassen, aber als historisch oder legendenangehauchte Fantasy ist es wirklich sehr gut gelungen. Für die erste Hälfte würde ich denn auch gerne eine „Unbedingt Lesen“-Empfehlung aussprechen, doch leider fallen Spannung und Lesefreude in der zweiten Hälfte des Buchs merklich ab. Trotzdem würde ich jederzeit wieder ein Buch der Autorin mit dieser oder einer ähnlichen Thematik lesen.

Ausstattung

„Orkneys Söhne. Die Lebenserinnerungen des Mordred of Orkney“ gibt es bislang nur in einer gebundenen Ausgabe des Verlags |Neue Erde| mit einem Volumen von 634 Seiten inklusive Anhang. Ich kann an dieser Stelle dem Buch zugute halten, dass es sich um eine wirklich schön gemachte Ausgabe handelt, gebunden in dunkelblaues Leinen mit einem gewebten Lesebändchen und einem sogar ganz nett aussehenden Schutzumschlag. Das Schriftbild ist absolut in Ordnung und sehr schön finde ich sogar die ungewöhnlich gestalteten Teilüberschriften. Dazu bietet das Buch einen reichhaltigen Anhang aus Stammbäumen, Fußnoten, Karten, Personenregister und einer Danksagung der Autorin. So viel Stil hat allerdings seinen Preis. 25,80 Euro müsst ihr derzeit für dieses Werk auf den Tresen legen.

Taschenbuch: 638 Seiten
ISBN-13: 978-3890603216

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