Thilo Wydra – Alma & Alfred Hitchcock. Eine Liebe fürs Leben (Aus Anlass des 125. Geburtstags von Alfred Hitchcock)

Wertvolle Hintergrundinformationen über Hitch & Alma

Es ist eine außergewöhnliche Verbindung: In 53 Jahren als verheiratetes Paar erschaffen Alfred Hitchcock und seine Frau Alma ein unvergleichliches Werk – 53 Filme, darunter zeitlose Klassiker wie Rebecca, Das Fenster zum Hof, Psycho oder Die Vögel. Doch Almas so erheblicher Anteil am Erfolg ihres weltberühmten Ehemanns wurde bislang kaum gewürdigt. In Los Angeles hat Autor Thilo Wydra sich nun auf die Spuren dieses Jahrhundertpaares begeben und in den Archiven der Oscar Academy Zugang zu unzähligen, teils unausgewerteten Quellen erhalten. Er besuchte in Kalifornien zwei der drei Enkelinnen von »Hitch« und Alma, die bewegend und ganz unmittelbar von ihren Großeltern berichten.

Diese international erste Doppel-Biographie über Alma und Alfred Hitchcock erzählt von ihrem gemeinsamen Leben sowie von Almas maßgeblicher Mitarbeit am Werk des legendären Regisseurs. Alma war »Hitch« ein Leben lang liebender Halt und Stütze. Sie war die kluge, früh emanzipierte Frau neben dem erfolgreichen Genie, die bereits in den 1920er Jahren in den Londoner Filmstudios noch vor ihm zu arbeiten begann. Fünf Jahrzehnte lang war die namhafte Drehbuchautorin und Cutterin stets seine wichtigste Beraterin: Almas Wort galt. (Verlagsinfo)

Der Autor

Thilo Wydra, geboren 1968 in Wiesbaden, lebt in München. Nach dem Studium der Komparatistik, Germanistik, Kunstgeschichte und Filmwissenschaft an den Universitäten Mainz und Dijon (Burgund) arbeitet er seit den frühen 1990er Jahren als freier Autor und Publizist und hat in verschiedenen Zeitungen (Der Tagesspiegel, FAZ, NZZ am Sonntag, etc.) und Zeitschriften publiziert. Von 2004 bis 2011 war er Deutschland-Korrespondent der Internationalen Filmfestspiele von Cannes. Seit 2012 ist er als Fachberater und TV-Experte bei ZDF-History-Dokumentationen tätig.

Er ist Autor zahlreicher Künstler-Biographien und Filmbücher, darunter u.a. Rosenstraße (2003), Romy Schneider (2008), Alfred Hitchcock (2010), Grace. Die Biographie (2012), Ingrid Bergman. Ein Leben (2017), Hitchcock’s Blondes (2018), des Bestsellers Eine Liebe in Paris – Romy und Alain (2020), Gegenwärtig sein. Margarethe von Trotta (2022) und Grace Kelly und Diana Spencer – Zwei Frauen. Zwei Leben. Ein Schicksal (2022). Seine Bücher wurden bislang in sieben Sprachen übersetzt. (Verlagsinfo)

Inhalte

„Die Lady hat ein scharfes Auge“, sagt Janet Leigh schon am Anfang über Alma Reville. Denn die Frau von Hitchcock hat als einzige Mitarbeiterin den Fehler in den vorläufigen Endfassung erspäht: In einem der über 70 Schnitte der Duschszene blinzelt die angeblich tote Marion Crane, die Janet Leigh rund vier Wochen lang auf anstrengendste Weise verkörperte. Da Leichen üblicherweise nicht blinzeln, musste diese Aufnahme herausgenommen und ersetzt werden. Alma Reville hat den Meister der Perfektion vor einer unsterblichen Blamage bewahrt.

Reville

Doch wer ist diese eminent wichtige Frau, fragt sich der Leser. Der Autor beeilt sich, die Biographie von ihrem Geburtsjahr 1899 bis zum Jahr 1923 nachzuzeichnen, als sie von dem aufstrebenden Regisseur Hitchcock als Cutterin engagiert wird. Denn selbst wenn Reville ein paar Mal VOR der Kamera auftrat, so sind doch diese Aufnahmen – mit einer Aufnahme – längst verschollen. (Diese eine Ausnahme ist ein Spielfilm über den Großbritannien-Premierminister Lloyd George.) Stattdessen stieg sie als ausgezeichnete und vielfach respektierte Cutterin und Drehbuchautorin hervor. In den Islingtoner Gainsborough-Studios begegnete sie zwei Jahre lang A. Hitchcock, ohne dem Zeichner und Designer näherzukommen. Sie wurde leicht übersehen, denn sie war gerade mal 1,50 Meter groß. Aber wie ihr späterer Mann war sie „filmverrückt“, wie ihre Tochter sagte.

Hitch

Das zweite Kapitel ist naheliegenderweise Alfred Hitchcock gewidmet, der nur ein paar Tage später im Jahr 1899 auf die Welt kam und ein ebenso abgesondertes, beobachtendes Leben führte wie Reville. Wie sie war er „filmverrückt“ und erblickte in dem neuen Medium Film eine mögliche Zukunft. Selbst wenn die Bilder noch stumm und schwarzweiß waren. Während er in einem Büro für Kabeldesign – er war auf Unterwasserkabel spezialisiert – arbeitete, besuchte er doch die Kunsthochschule, um für sich die Metiers Zeichnen, Design und Kunstgeschichte zu erschließen. Er liebte es, Cartoons zu zeichnen, die er stets mit HITCH signierte. Und er liebte es, anderen fiese Streiche zu spielen. Die vielfach kolportierte Geschichte, dass er einmal für fünf bis zehn Minuten hinter die Zellengitter einer Polizeiwache wanderte, scheint der Wahrheit zu entsprechen, wie seine Schwestern bestätigt. So habe er gelernt, die Polizei zu hassen und lächerlich zu machen, sagt nicht nur Hitch, sondern auch der Autor der Biografie – Beispiele dafür gibt es genug.

1923-1938

Die ersten Aufträge führte Hitch und Reville nach Babelsberg bei Berlin, wo sich Hitch unter den Top-Regisseuren der Weimarer Republik wiederfand: Fritz Lang, F.W. Murnau, G.W. Pabst und Ernst Lubitsch. Von ihnen lernte er beispielsweise, eine Geschichte ohne Worte zu erzählen und das Licht dramatisch einzusetzen, v.a. die Beleuchtung von Räumen und Gesichtern. Die ersten eigenen Filme als Erster Assistenzregisseur und dann als Solo-Regisseur führten ihn und Reville nach München und Tirol. In Paris und München trieb ein amerikanischer Star namens Virginia Valli die beiden in den Bankrott: Das Budget des Produzenten ging für Vallis Ausstattung drauf.

An letzterem Ort entstand „The Mountain Eagle“, ein Film, der seit seinen ersten Vorführungen 1927 verschollen ist und zu den Most Wanted Films des British Film Institute (BFI) zählt. Hitch und Reville, seine rechte Handy, mussten finanzielle (s.o.) und körperliche Strapazen auf sich nehmen. Auf dem Schiff, das sie wieder in die Heimat brachte, machte er seiner seekranken Cutterin einen Heiratsantrag. Sie nahm an, und so wurde 1926 in Kensington geheiratet und ein eigenes Haus bezogen.

Mit dem recht eigensinnig gestylten Film „The Lodger“ erzielte Hitch 1926 einen großen Erfolg. Darin war beispielsweise eine Zimmerdecke aus Glas zu sehen. Er gewöhnte sich an, seinen obligatorischen Cameo-Auftritt während den ersten fünf Minuten zu absolvieren, damit sich der Zuschauer auf den Rest der Handlung konzentrieren konnte. Die Flitterwochen führte das Paar zunächst nach Paris. Das Wiedersehen mit Bergadler-Star Nadi wird beinahe ein Desaster: Die lebenslustige Amerikanerin, die soeben geheiratet hat, füllt die beiden ahnungslosen Briten nach allen Regeln der Kunst ab, dass sie kaum noch ins eigene Hotel finden – eine Lektion fürs Leben. Wie anders dagegen St. Moritz: Das Palace Hotel soll bis Anfang der 1970er Jahre ihr Rückzugsort werden und bleiben.

Drei zurückgehaltene Filme Hitchs kommen Anfang 1927 ins Kino und lösen einen Hype aus. Zudem bekommt er jetzt bei BIP, einer neuen Produktionsgesellschaft, das Dreifache des früheren Gehaltes. Zehn Filme soll er nun für John Maxwell drehen, und schon mit „The Ring“ (1928) macht er die Kritiker auf sich aufmerksam, die gerne übersehen, dass Alma Reville am Drehbuch mitgearbeitet hat – das gilt auch für die restlichen neun Filme.

Das Familienglück steht 1928 im Vordergrund, und zwar auch filmisch: Alma bringt Patricia auf die Welt und zwar im neu erworbenen Landhaus in Surrey. Fortan wird das Leben auf Film gebannt und zwar bis zur Umsiedlung nach Amerika -einzigartige Filmdokumente, die heute in der Academy of Motion Picture Arts (die den OSCAR verleiht) aufbewahrt werden.

Der erste britische Tonfilm ist zugleich auch der letzte Stummfilm: „Blackmail“ (1929) ist beides und markiert nicht nur diese Zäsur, sondern auch technische Innovationen, die Hitch einführt. Der tschechische Akzent der Hauptdarstellerin Anny Ondra (die später Max Schmeling heiratete) wird live während der Dreharbeiten von einer englischen Sprecherin synchronisiert und simultan mit dem Bild aufgenommen – eine filmhistorische Premiere.

Der Thriller wird ein Erfolg, doch ästhetisch folgt für Hitch eine lange Durststrecke, bis 1934 „The Man Who Knew Too Much“ zu Weihnachten in die Kinos kommt. Dieser Film wird wie die bis 1939 folgenden Arbeiten wieder mit Michael Balcon realisiert, aber leider vom Kino-Verleiher Woolf sabotiert, der Hitch seit jeher auf dem Kieker hat. Bis 1938 realisiert Hitch mit Alma und seiner neuen Sekretärin Joan Harrison, einer Oxford-Absolventin u.a. noch „Die 39 Stufen“ und „The Lady Vanishes“, um nur die wichtigsten des Sextetts zu nennen. „Riff-Piraten“ verleugnet Hitch als „das ist kein Hitchcock-Film“. Er dreht ihn nur, um einen Vertrag zu erfüllen.

Joan Harrison geht mit in die USA und hält den Hitchcocks die Treue, selbst als sie schon den Drehbuchautor Eric Ambler geheiratet hat. Sie starb mit 87 Jahr anno 1994, also lange nach den Hitchcocks. Ebenso folgen weitere Freunde über den Atlantik, und Drehbuchautor Charles Bennett ist ihnen bereits ein Jahr voraus.

Zweiter Teil: Übersiedlung und Erfolg in USA

1939-1949

Hollywood-Mogul David O. Selznick hat Hitch und Alma unter Vertrag genommen, sein Bruder Myron, der als Agent arbeitet, holt die Hitchcock-Entourage am Bahnhof ab und quartiert alle im Wilshire Palms Hotel ein. Sie lernen die Schauspielerin Carole Lombard, die Gattin von Clark Gable, kennen, was sich als Glücksfall erweist, denn ihr gehört ein Haus in Bel Air, das sie nun loswerden will; da schlagen die Hitchcocks natürlich gleich zu. Als Lombard mit nur 33 Jahren bei einem Flugzeugabsturz ums Leben, ist nicht nur ihr Ehemann geknickt, sondern alle ihre Freunde.

Das Projekt ist nicht, wie geplant, „Titanic“, sondern „Rebecca“. Der Film erhält zwar einen OSCAR, aber der geht nicht an den Regisseur, sondern an den Produzenten, eben Selznick. Der besteht auf der nur 22 Jahre jungen Hauptdarstellerin Joan Fontaine, für die sich Hauptdarsteller Laurence Olivier, Gatten von Vivien Leigh, gar nicht erwärmen kann. An diesen Erfolg schließen die Filme „Foreign Correspondent“, „Mr and Mrs Smith“, der große Erfolg „Suspicion“ und das Remake „Saboteur“ an. Die Krönung dieser Reihe stellt zweifellos „Shadow of a Doubt“ dar. Weil Selznick seinen Star-Regisseur lukrativ an andere Studios auslieh bzw. vermietete, sind heute einige dieser Filme in Editionen von UNIVERSAL zu finden.

Im Anschluss geraten die Produktionen in schweres Fahrwasser. Während Hitch eine eigene transatlantische Produktionsgesellschaft gründet, stoßen seine Filme in Kriegszeiten auf ein geteiltes Echo, so etwa „Lifeboat“, „Spellbound“ (mit Entwürfen von Salvador Dali), „Notorious“ und vor allem „The Paradine Case“ (1947), in dem sich eine Rückblende als Lüge entpuppt – ein Fauxpas, den Hitch nie wieder machte. Die transatlantische Produktionsgesellschaft wagt zwei filmische Experimente: den Krimi „Rope“ und den historischen Kostümfilm „Under Capricorn“ – beide floppen, obwohl sie bereits in Farbe gedreht worden waren. Nach diesen Misserfolgen verließ Ingrid Bergman das Hitch-Team und ihre Familie, um mit Roberto Rossellini in Italien zu leben.

1950-1963

So viele Misserfolge in einer Reihe konnten nicht ohne Folgen bleiben. Alma Reville beschloss zwei Dinge ohne Hitch: Sie ließ sich nie wieder in den Credits aufführen und nahm die US-amerikanische Staatsbürgerschaft an. Auch „Stage Fright“ von 1950, in dem Marlene Dietrich auftritt, war nicht der Hit, dafür aber der folgende Krimi: „Strangers on a Train“. Hier tritt Patricia Hitchcock, mittlerweile eine vollständig ausgebildete Schauspielerin, in der B-Riege auf. Die Romanvorlage von Patricia Highsmith war eine Steilvorlage, und der Film ist eine spannende Augenweide. Zu den Gerüchten, Alma habe eine Affäre mit dem Drehbuchautor Whitfield Cook gehabt, gibt keiner der Hitchcocks einen Kommentar ab.

Dennoch bricht nun das Goldene Zeitalter in Hitchs Karriere an. Er hat seinen Vertag mit Selznick erfüllt und geht zur UNIVERSAL. Hier entstehen „Rear Window“, „To Catch a Thief“, „The Trouble With Harry” (beide 1955), das Remake “The Man Who Knew Too Much”, “The Wrong Man”, “Vertigo” und schließlich 1959 “North By Northwest” mit Cary Grant und Eva Saint-Marie. Weitere Höhepunkte sind 1960 “Psycho” (mit Patricia Hitchcock) und 1963 “The Birds” mit Rock Hudson und Tippi Hedren. Danach gibt es eine Zäsur.

Die Familie Hitchcock erlebt tiefgreifende Veränderungen. Tochter Pat lernte auf einer Urlaubsreise nach Europa, die auch PR-Zwecken dient, Joseph O’Connell kennen und lieben. Da er ebenfalls irischer Katholik ist, steht der Verbindung nichts im Wege und noch im gleichen Jahr heiraten Joe und Pat – ein Fest für die Sensationspresse. 1953 engagiert Hitch eine Schauspielerin namens Grace Kelly, die bislang nur in dem Western „High Noon“ hervorgetreten war, doch schon für „Dial M for Murder“ bekommt sie eine Hauptrolle. Sie wird zu einer engen Freundin der Familie, selbst als sie 1956 bereits Fürstin von Monaco geworden ist. Ihr glanzvollster Auftritt dürfte in dem Film „To Catch a Thief“ an der Seite von Cary Grant sein – einer der bis heute dank Almas Mitarbeit schönsten Filme Hitchcocks. Alma hatte den Einfall mit der Verfolgungsjagd. Zwei Fernsehserien von 1955 bis 1965 machten Hitchcock weltberühmt.

Während das Publikum den Doku-Thriller „The Wrong Man“ zu ernst fand und den raffinierten Krimi „Vertigo“ einfach nicht verstand, schlug „Psycho“ im Sommer 1960 ein wie eine Bombe. Bevor dieser Film nicht nur die Kultur, sondern auch die Zivilisation veränderte, wie Wydra behauptet, mussten die beiden Hitchcocks ein Martyrium durchstehen: Er unterzog sich gezwungenermaßen zwei Operationen, und als auch bei Alma Krebs entdeckt wurde, musste sie ebenfalls wochenlang ins Krankenhaus. Einziger Lichtblick waren wohl die drei Enkelinnen, die Tochter Pat bis 1959 in die Familie einbrachte. Pat ist ganz am Anfang von „Psycho“ als Kollegin von Marion Crane zu sehen, der Diebin, von Janet Leigh gespielt wird.

1964-1970

Schon 1963 wurde „The Birds“ veröffentlicht, um das stark gewachsene Publikum abermals zu schockieren. Tippi Hedren spielte eine weitere kühle Blondine, deren Innenleben einem Vulkan gleicht. Diese Kombination sollte auch in dem Psychothriller „Marnie“ (1964) funktionieren, wobei James-Bond-Star Sean Connery als ihr Amateur-Therapeut fungiert. Aber ursprünglich war Grace Kelly für die Hauptrolle vorgesehen, und die hätte auch liebend gerne wieder mit den Hitchcocks gearbeitet, aber das des Fürsten stimmte mit einem Veto gegen diese „unwürdige“ Betätigung ihrer Fürstin.

Also wurde es wieder Tippi Hedren, die doch überhaupt keine Schauspielausbildung hatte. Die Kritik verstand den Film nicht, und die Zuschauer mochten der kruden Psychologie der Story nicht folgen. Hedren griff Hitch in ihren Memoiren immer wieder an, obwohl er sie erst das Schauspielhandwerk gelehrt hatte. Und bis heute – auch im Buch – geben die Enkelinnen nur eine Antwort: „No comment.“

1964 hat Hitch viele Mitwirkende seiner Stammtruppe verloren: den Komponisten, den Cutter, den Kameramann und den Bühnenbildner. Die nächsten beiden Filmprojekte sind „Torn Curtain“ mit Paul Newman und Julie Andrews – eine klare Fehlbesetzung, sagte Hitch später – und „Topaz“ (Buch von Leon Uris) mit wenig bekannten B-Movie-Schauspielern, darunter Karin Dor (mit ihrem berühmten purpurfarbenen Kleid). Da beides Thriller sind, vermisst das Publikum den Suspense, für den Hitch bekannt ist, und die Filme floppen ebenfalls.

Inzwischen hat sich Alma längst aus den Filmen zurückgezogen, sich aus den Credits streichen lassen, ging auf keine Pressekonferenzen usw. mehr. Sie fühlt sich nicht gut, und es dauert nicht lange, bis sie die erste Operation über sich ergehen lassen muss, während Hitch zunehmend mit seinem Gewicht und der sich daraus ergebenden Arthritis zu kämpfen hat. Viele Projekte scheitern, aus den unterschiedlichsten Gründen, zum Schluss „The Short Night“, ein Agententhriller.

Dritter Teil: Die letzten Jahre

1970-1979

Die Reihe der „Misserfolge“ ändert sich erst mit „Frenzy“, den Hitch in London auf seinem ureigenen Territorium inszeniert, mit einem deftigen Touch von schwarzem Humor, basierend auf einem Drehbuch von Anthony Shaffer. Der Erfolg war groß und eine Erleichterung. Die Hitchcocks drehten regelmäßig „home movies“, und das letzte Tape zeigt die Dreharbeiten zu „Frenzy“, quasi als B-Roll (S. 375). Am 13. August wird Hitchs Geburtstag gefeiert, dann auch der von Alma. Wenig später erleidet sie im Claridge’s Hotel einen Schlaganfall und fällt aus. Ihre Enkelin Mary Stone will sie besuchen, nun wird sie Vollzeitpflegekraft. Ihre Mutter Patricia folgt, und es wird klar, dass Alma zurück nach Los Angeles muss. Trotz dieses Rückschlags stellt Hitch die Dreharbeiten nach 55 Tagen fristgerecht fertig.

Nach seiner Rückkehr in die Staaten kann Hitch nur noch ein Projekt fertigstellen: „Familiengrab“ hat den vieldeutigen O-Titel „Family Plot“ und weiß einige Stars aufzubieten, darunter William Devane, Karen Black und Bruce Dern. Die betörende Musik stammt von John Williams, dem Stammkomponisten von George Lucas. Hier gilt es für den Zuschauer, gleich zwei komplexe Rätsel zu entschlüsseln, und so wurde der Film gut aufgenommen. Hitch jedoch stirbt – nach vielen Ehrungen wie etwa dem Adelsstand – am 29. April 1980, zwei Jahre später folgt ihm Alma am 6. Juli 1982, nach einem zweiten Schlaganfall. Beider Asche wird im Pazifik verstreut.

Mein Eindruck

Der Filmfan, den dieses Buch in erster Linie ansprechen dürfte, kennt aus den großen Filmen und vielleicht noch den selten gezeigten Fernsehkrimis nur die halbe Wahrheit. Die andere Hälfte besteht erstens aus der Vita und dem unentbehrlichen Beitrag von Hitchs Frau Alma Reville. Sie kamen auch nicht aus dem Nichts, sondern stellten eine Revolution der Filmtechnik und -inszenierung auf die Beine, die auf alle anderen Filmschaffenden ausstrahlte.

Zweitens bekommt der Fan hier einen Einblick in Filmproduktionen Hitchs, die praktisch nie das Licht einer Filmdokumentation erreichen würden: so etwa Propagandafilme, die er während des Zweiten Weltkriegs gedreht hat, aber auch Filme, die sofort nach Fertigstellung entweder konfisziert wurden (ein Film über Lloyd George) oder verschollen gegangen sind, so etwa „Der Bergadler“.

Bewegende Momente

Das ist die Faktenseite. Mindestens genauso wichtig ist der Einblick in die emotionale und berufliche Beziehung zwischen beiden Filmschaffenden, ihren Familien, ihrer Tochter Patricia und deren drei Töchtern. Alle erreichbaren Personen wurden interviewt, um einen umfassenden und möglichst lückenlosen Eindruck von den Erfolgen und Schicksalsschlägen dieses Paares zu verschaffen. Bis zum Schluss ergeben sich daraus zahlreiche bewegende Momente in der Lektüre.

Fun Facts

Wer hätte gedacht, dass Grace Kelly aus Gründen der Staatsräson nicht am „Marnie“-Projekt teilnehmen durfte? Dass Hitch eine panische Angst vor Polizisten hatte, ist vielleicht ein wenig bekannt, aber der konkrete Auslöser ist selten an die Öffentlichkeit gelangt: Er wurde auf Veranlassung seines Vaters auf der Polizeiwache eingesperrt, um ihn Respekt vor dem Gesetz zu lehren.

Diese Angst ist wohl die Ursache für die häufige Wahl des Plot-Motivs des unschuldig verdächtigten und gejagten Mannes, ebenso wie seine negative, oft spöttische Darstellung von Cops. Auch Freund- und Vaterfiguren erweisen sich häufig als trügerisch (vergleiche dazu in VERTIGO den Betrug durch seinen Freund). Das Misstrauen ist stets ein dunkler Partner in den Film-Plots. Zimmerdecken aus Glas („The Lodger“) können sich hingegen als hilfreich erweisen – aber wohl nur in Träumen.

Textschwächen

S. 36: „in einer HGroßproduktion“: Das H ist überflüssig.

S. 38: „Obgleich, zu sehen ist eigentlich niemand, wird (…) konfisziert.“ Hier steht also kein Einschub. Korrekt müsste es „Obgleich eigentlich niemand zu sehen ist…“ heißen.

S. 56: Hitch und Co. kommen in New York City an. Dennoch ist hier die Rede von der „West Coast“, was ja für Los Angeles zuträfe. Sehr verwirrend.

S. 240: „auf den 28. Juli 1928 datiert, innseitig mit letzten Änderungen vom 10. August versehen“ Der Ausdruck „innseitig“ kommt mir an dieser Stelle zum ersten Mal unter die Augen.

S. 326: „Tippi Hedren ist gerade von New York City nach Los Angeles gezogen.“ Dennoch wird ihre jetzige Position als „East Coast“ bezeichnet – eine weitere Vertauschung von East und West, siehe oben.

S. 356: „ein Glück schneit es an diesem Dezembertag“: Dies ist ein echter Einschub, allerdings mit einem falschen Auftakt. Statt „ein“ sollte es besser „zum“ heißen.

S. 380: „(W[i]lliam Devane)”: Das i fehlt.

Die Ausstattung

Der Autor hat das Buch mit zahlreichen zusätzlichen Informationen und Bilddokumenten ausgestattet, die es zu einem lohnenswerten Sammlerobjekt machen. Mehrere Fotostrecken sind auf Hochglanzpapier gedruckt, weitere Schwarzweißaufnahmen von Fotos und Faksimiles (Drehbücher usw.) sind auf das hochwertige Druckpapier übertragen worden; sie stehen meist am Anfang eines Kapitels.

Die rund 70 Seiten umfassenden Anhänge sind eine wertvolle Ergänzung des Textes, denn sie helfen, alle Ereignisse und Projekte zeitlich einzuordnen. Die Filmografie umfasst verschollene Werke wie „Der Bergadler“ sowie Fernsehspiele.

Die Anmerkungen belegen alle Zitate und Quellen.

Biografische Daten bzw. eine Zeittafel für Alma Reville und A. Hitchcock schaffen Klarheit über Abläufe und Entwicklungen.

Das Register macht alle Angaben leicht zugänglich.

Unterm Strich

Ich habe nur wenige Tage für die Lektüre dieser spannenden Doppelbiografie gebraucht. Als eingefleischter Hitchcock-Fan fand ich erstens viele werkbezogene Infos, die mir neu waren, aber auch etliche Hintergrundinfos über Hitch, seine Frau und ihrer beider Familien. Seine Mutter spielte eine ebenso prägende Rolle wie sein Vater (s.o.). Dass Alma Reville eine Ausnahmefrau war, wurde zunehmend deutlicher, und sie hatte einen Ausnahmehumor, aber auch einen scharfen Blick (s.o.).

Das Zusatzmaterial ist sehr willkommen und macht das Buch auch für alle Hitchcock-Fans interessant und wertvoll, durch das Register wird es leicht nutzbar. Was das Werkverzeichnis anbelangt, so kann man die Tatsache, dass bis heute jegliche Spur von „Der Bergadler“ fehlt, als Aufruf verstehen, nach diesem echten Hitchcock zu fahnden. Beruhigend ist hingegen, dass Werke wie „Riffprimaten“ und andere vom selbst offiziell abgelehnt wurden: „This is not a Hitchcock film“ sagt er mehrmals. Das sollte jedem Filmfan als Warnung dienen. Und das ist einer der vielen Boni, die das Buch bietet.

Gebunden: 496 Seiten
ISBN-13: 9783453218260

www.heyne.de

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