Thomas Sparr – Todesfuge. Biographie eines Gedichts

Entstehung und Wirkungsgeschichte eines Jahrhundertgedichts

Paul Celans Gedicht „Todesfuge“ gilt als Jahrhundertgedicht. Entstanden unter dem unmittelbaren Eindruck der Ermordung von Celans Eltern durch die Nationalsozialisten, ist es eines der frühesten literarischen Zeugnissen der Shoah. Atmosphärisch dicht zeichnet Thomas Sparr die Geschichte dieses Gedichts nach, das auf besondere Weise auch die Biographie Celans birgt. (Verlagsinfo)

Der Autor

Thomas Sparr, Jahrgang 1956, war nach dem Studium der Literaturwissenschaft und der Philosophie in Marburg, Hamburg und Paris von 1986 bis 1989 an der Hebräischen Universität in Jerusalem tätig, anschließend im Deutschen Literaturarchiv in Marbach. Von 1990 bis 1998 leitete er den Jüdischen Verlag, war Cheflektor des Siedler Verlags und arbeitet heute als Editor-at-large im Suhrkamp Verlag in Berlin. „Er war von 2006 bis zur Umwandlung des Verlags in eine Aktiengesellschaft Anfang 2015 stellvertretender verlegerischer Leiter des Suhrkamp Verlages.“ (Wikipedia)

Er ist mit Arbeiten zu Paul Celan hervorgetreten. Zuletzt erschien von ihm „Grunewald im orient. Das deutsch-jüdische Jerusalem“. (Verlagsinfo) „Darüber hinaus ist er vertretungsberechtigter Vorstand der Literaturbrücke e. V., des Trägervereins des Hauses für Poesie in Berlin.“ (Wikipedia)

Der Autor

Paul Celan (* 23. November 1920 in Czernowitz, Großrumänien (heute Ukraine); † vermutlich 20. April 1970 in Paris) war ein deutschsprachiger Lyriker. Er hieß ursprünglich Paul Antschel, später rumänisiert Ancel, woraus das Anagramm Celan entstand.

Paul Celan gilt als einer der bedeutendsten deutschsprachigen Dichter des 20. Jahrhunderts. Sein Werk ist geprägt von der Reflexion über die Möglichkeit von Sprache und Kommunikation überhaupt und von der Verarbeitung von Grenzerfahrungen, insbesondere der Erfahrung des Holocaust (zum Beispiel in dem berühmten Gedicht Todesfuge). (Quelle: Wikipedia.de)

Werke

• Der Sand aus den Urnen, Wien 1948 (enthält den deutschsprachigen Erstdruck der Todesfuge), im Herbst 1948 auf Celans Wunsch wegen zahlreicher Druckfehler und der unpassenden Illustrationen von Edgar Jené makuliert.
• Mohn und Gedächtnis, Stuttgart 1952; 2000 mit einem Nachwort von Joachim Seng, ISBN 3-421-05223-9.
• Von Schwelle zu Schwelle, 1955.
• Sprachgitter, 1959.
• Der Meridian, 1961 (Rede anlässlich der Verleihung des Georg-Büchner-Preises 1960)
• Die Niemandsrose, 1963.
• Atemwende, 1967.
• Fadensonnen, 1968.
• Lichtzwang, 1970.
• Schneepart (Nachlass), 1971.
• Zeitgehöft (Nachlass), 1976.

Todesfuge

Schwarze Milch der Frühe wir trinken sie abends
wir trinken sie mittags und morgens wir trinken sie nachts
wir trinken und trinken
wir schaufeln ein Grab in den Lüften da liegt man nicht eng…
Ein Mann wohnt im Haus der spielt mit den Schlangen der schreibt
wenn es dunkelt nach Deutschland dein goldenes Haar Margarete (Fine 1)
er schreibt es und tritt vor das Haus es blitzen die Sterne
er pfeift seine Rüden herbei
er pfeift seine Juden hervor läßt schaufeln ein Grab in der Erde
er befiehlt uns spielt auf nun zum Tanz
(da capo bis fine 1: )
Dein aschenes Haar Sulamith

der Tod ist ein Meister aus Deutschland sein Auge ist blau
er trifft dich mit bleierner Kugel er trifft dich genau…
dein goldenes Haar Margarete
dein aschenes Haar Sulamith wir schaufeln ein Grab in den Lüften da liegt man nicht eng

Er ruft stecht tiefer ins Erdreich ihr einen ihr andern singet und spielt
Er greift nach dem Eisen im Gurt er schwingts seine Augen sind blau
Stecht tiefer die Spaten ihr einen ihr anderen spielt weiter zum Tanz auf

(Da capo bis Fine 1)
dein aschenes Haar Sulamith er spielt mit den Schlangen

Er ruft spielt süßer den Tod der Tod ist ein Meister aus Deutschland
Er ruft streicht dunkler die geigen dann steigt ihr als Rauch in die Luft
Dann habt ihr ein Grab in den Wolken da liegt man nicht eng

Schwarze Milch der Frühe wir trinken dich nachts
wir trinken dich mittags der Tod ist ein Meister aus Deutschland
wir trinken dich abends und morgens wir trinken und trinken
der Tod ist ein Meister aus Deutschland sein Augen ist blau
er trifft dich mit bleierner Kugel er trifft dich genau
ein Mann wohnt im Haus dein goldenes Haar Margarete
er hetzt seine Rüden auf uns er schenkt uns ein Grab in der Luft
er spielt mit den Schlangen und träumet der Tod ist ein Meister aus Deutschland

dein goldenes Haar Margarete
dein aschenes Haar Sulamith

Inhalte

Paul Celan wurde 1920 als Paul Antschel, rumänisch Ancel, in eine bürgerliche jüdische Familie in Czernowitz geboren. Czernowitz in der Bukowina, einem Teil von Galizien, war k.u.k. österreichisch geprägt und in der Folge wurde Deutsch auch Antschels Muttersprache. Alle Straßennamen waren bis 1918 in deutscher Sprache, denn 1918 wurde nach dem Versailler Vertrag die Bukowina Rumänien zugeschlagen. Also lernte Antschel auch die Sprache der Eroberer. Englisch und Französisch hatte er in der Schule gelernt, später kam Russisch hinzu (S. 35).

Allerdings gab es eine große jüdische Gemeinde, die über ein Viertel bis ein Drittel der Stadtbevölkerung ausmachte, und so blieb es nicht aus, dass sich Paul mit der hebräischen und der jiddischen Sprache und Literatur und Presse beschäftigte. Mehrere Zeitungen repräsentierten die Intelligentsia und das Gemeindeleben der jüdischen Gemeinde.

Mit 16 oder 17 Jahren schrieb er Gedichte, die von Rainer Maria Rilke und Stefan George inspiriert waren, also den neuesten Autoren, und zwar in reinem Deutsch, nicht in Jiddisch. Er tauschte sich mit anderen jungen Autor*innen aus, darunter Rose Ausländer. Im Juni 1938 legte er das Abitur bzw. Baccalaureat als Viertbester seines Jahrgangs ab. Noch im gleichen Herbst zieht er nach Paris, wo er beim Bruder seiner Mutter, Bruno Schrager wohnt (S. 38).

Er absolviert in Tours ein vorbereitendes Medizinstudium, zusammen mit anderen Czernowitzer Juden. An Ostern 1939 besucht er die Schwester seines Vaters, Berta Antschel, Im Juli 1939 verbringt Paul die Sommerferien in Czernowitz, doch am 1.9.1939 überfallen deutsche Truppen Polen teilen dieses Land mit der Sowjetunion unter sich aufgeteilt. Da Frankreich Deutschland den Krieg erklärt hatte, kann Paul nicht mehr zurück und muss erleben, wie die Russen am 18. Juni 1940 in die Nordbukowina einmarschieren – die rumänische Regierung hat Hitler nachgegeben.

Nun beginnt für Paul das erste Russenjahr. Er verliebt sich in die jüdische Schauspielerin Ruth Kraft, die am Jiddischen Staatstheater von Czernowitz auftritt. Im Mai 1941 deportieren die Russen „Klassenfeinde“ nach Sibirien: Sozialdemokraten, Kaufleute und andere. Der einzige Weg, dem zu entgehen, besteht darin, sich der Roten Armee anzuschließen. Die Deportationen sind nur ein Vorspiel zu dem, was kommen soll.

Kriegsjahre

Am 5.Juli 1941 marschierte rumänische Armee in Czernowitz ein, wenig später die die deutsche Einsatzgruppe D unter dem Schnittstellen-Brigadegeneral und Generalmajor der Polizei Otto Ohlendorf. Wenig später werden 3000 jüdische Männer zum Fluss getrieben und dort erschossen, die Synagoge wird völlig zerstört. Eine zweite Welle von Verhaftungen und Morden folgt, um die jüdische Führungsschicht zu eliminieren. 8S. 44ff)

Das Ghetto

Am 11.10.1941 wird in Czernowitz ein Ghetto für 50.000 Menschen eingerichtet, gleich am nächsten Tag verlässt der erste Deportationszug die Stadt Richtung Transnistrien (heute Moldawien). Traian Popovici, der Bürgermeister, schafft es 24.000 Juden in der Stadt zu behalten. Leider wird er im Juni 1942 seines Amtes enthoben und stirbt 1946. Als erster Rumäne wird er in Yad Vashem zu den „Gerechten unter den Völkern“ gewählt.

Paul Eltern werden am 28. Juni 1942 verhaftet und in das SS-Zwangsarbeiterlager Michailowka in der Ukraine verschleppt, während ihr Sohn im Jüdischen Arbeitsdienst schuften musste. (Juden durften nicht in der rumänischen Armee dienen.) Der Vater stirbt 1942 an Typhus, die Mutter im Herbst 1942 in Krasnopolka am Bug durch einen Genickschuss. Erst 1944, nachdem russische Truppen Czernowitz besetzt haben, erfährt Paul vom Tod seiner Eltern. Er wird Krankenpfleger in der psychiatrischen Klinik und wohnt im elterlichen Haus in der Masarykgasse. Seiner Freundin Ruth Kraft fällt seine Hinwendung zur jiddischen hebräischen Sprache auf. Er fertigt seine erste Sammlung von 93 Jugendgedichte in drei Typoskripten an, von denen zwei bis nach Israel gelangten, eines gilt als in Bukarest verschollen. (S. 58)

Todestango

Ende 1944 oder um die Jahreswende zu 1945 liest Paul in der Zeitung „Iswestja“ über Vorkommnisse in den Ghettos von Lemberg (Lwow) und im Lager Janowska. Die Juden musste Musik spielen, während ein Lagerleiter mit seinem auf Menschen abgerichteten Hund Rex nur darauf wartete, den Hund auf die zu hetzen. (Dies wurde u.a. in den Nürnberger Kriegsverbrecherprozessen bezeugt. S. 61-63) Die „Todesfuge“ erschien 1947 zuerst als „Todestango“ in Bukarest auf Rumänisch. Gemäß dem Zeugnis des ersten HÖRERs der „Todesfuge“ Alfred Kittner, selbst ein Dichter, liegt das Entstehungsdatum schon im Sommer oder Herbst 1944, als die Stadt bereits wieder sowjetisch ist und vor Pauls Lektüre der „Iswestja“ im Dezember. Diese Frühfassung kommt Kittner „allzu kunstvoll, zu vollendet“ vor, als dass sie die in drei Jahren Lager erlebten Schrecknisse einfangen und wiedergeben könnte. (S. 65)

Die Metapher „Schwarze Milch“ hat sich Celan anno 1939 aus Rose Ausländers Gedicht „Ins Leben“ geborgt. (S. 67) Der „Meister aus Deutschland“ ist eine konkrete Figur: Der jeweilige Befehlshaber der Kapos in den Lagern wurde so bezeichnet, wie David Rousset bezeugt in „Das KZ-Universum“ (2020) bezeugt (S. 69). Celans Kritiker im Nachkriegsdeutschland zweifelten dies an. Nun, sie waren nicht dort.

Bukarest 1945

Ab 1945 arbeitet er als Übersetzer und Verlagslektor für russische Literatur in Bukarest. Im Mai 1947 erscheinen zum ersten Mal Gedichte von ihm, und zwar in der einzigen Nummer der rumänischen Zeitschrift „Agora“, die von Ion Caraion herausgegeben wurde und die zum ersten Mal nach dem Krieg wieder deutsche Gedichte druckte. Seit seinen ersten Veröffentlichungen benutzte er – auf Anraten der Frau des Verlegers Margul-Sperber – das rumänisierte Anagramm seines Namens (Ancel – Celan). Im Dezember 1947 macht er sich auf den zwei Monate dauernden treck nach Wien, gerade noch rechtzeitig, denn gleich danach riegeln Ungarn und Rumänien ihre Grenzen hermetisch ab: Der Eiserne Vorhang nimmt Gestalt an.

Wien 1947/48

Wien ist von den Alliierten in fünf Zonen aufgeteilt worden, und Paul wohnt in der zentralen, internationalen Zone. Sein Gedichtband „Der Sand aus den Urnen“ erscheint hier 1948; dieser Band enthält den deutschsprachigen Erstdruck der Todesfuge, doch im Herbst 1948 wird der Band auf Celans Wunsch wegen zahlreicher Druckfehler und der unpassenden Illustrationen von Edgar Jené makuliert. Jenés surrealistische Zeichnungen entrücken den Text der Todesfuge aus dem konkreten historischen Kontext in ein artifizielles Nimmerland. So beginnt also die internationale Rezeption der „Todesfuge“ mit einem Fehlschlag. Viele weitere sollen noch folgen.

Nach Paris

Im Dunstkreis der Literaten und Verleger um Otto Basil lernt er Ingeborg Bachmann kennen, in die er sich zutiefst verliebt: Seine „Herzzeit“ beginnt. Obwohl sie aus dem Haus eines Kärtner Nazis stammt, ist sie unabhängig und freigebig. Es ist mit die schönste Zeit seines Lebens. Er siedelt im Juli 1948 nach einem Abstecher an das Grab des Dichters Georg Trakl nach Paris um, und bei dessen Förderer Ludwig von Ficker wird Celan auf eine Stufe mit Else Lasker-Schüler gestellt. 1948 lernt er Marie Luise Kaschnitz, die besonders von der „Todesfuge“ beeindruckt ist und sie in einer kleinen deutschen Zeitschrift veröffentlicht. Ein Echo bleibt indes aus.

Adorno

Im November 1949 macht er die Bekanntschaft von Yvan Goll, dessen Witwe ihn im Frühjahr danach bittet, Golls Gedichte zu übersetzen. 1950 beginnt er das Studium der Germanistik und Sprachwissenschaft an der Sorbonne, Licence ès Lettres. 1952 heiratet er die Graphikerin Gisèle Lestrange. 1952 wird sein Sohn Francois und 1955 sein Sohn Eric geboren, doch Francois stirbt schon bald nach der Geburt. Unterdessen bereitet Theodor Adorno den Boden für eine ablehnende Haltung gegenüber jeder Art von Lyrik, indem er 1951 sein folgenschweres Diktum „Nach Auschwitz ein Gedicht zu schreiben ist barbarisch“ in die Welt setzt. Es wird diskutiert, missverstanden und schlussendlich zurückgenommen. Doch da ist der Schaden bereits angerichtet.

Die Gruppe 47

Es kommt noch schlimmer. Vom 23. bis 25. Mai 1952 liest er auf einer Tagung der Gruppe 47 in Niendorf an der Ostsee. Ingeborg Bachmann, betrieb seine Einladung, damit der NDR seine Aufenthaltskosten (aber nicht seine Reisekosten) übernahm. Sein Vortrag der „Todesfuge“ stößt auf konsternierte Ohren. „Das klingt ja wie Goebbels!“, ist ein Zwischenruf zu hören. Wie sich später erweist, stammt er von Hans Werner Richter, dem Kopf der Gruppe. In einer detaillierten Analyse zeigt der Autor Sparr, wie es zu dieser absurden Verkehrung der geschichtlichen Verhältnisse und Wertungen kommen konnte: Das Opfer der Nazis wird nun auf eine Stufe mit ihnen gestellt. Hier trifft der Neo-Realismus, um den sich die Gruppe bemühte, auf das Pathos, das Celan auf den Synagogen und Lesungen seiner Jugend mitgebracht hat. Diese beiden Epochen sind offensichtlich inkompatibel. Anfang der sechziger Jahre wird auch Günter Grass Celans Gedichte niederbügeln, die der homosexuelle Jude Joachim Neugröschel als Übersetzer vorgetragen hat. (S. 160ff.)

Mohn und Gedächtnis

Einziger Lichtblick anno 1952: Sein erst auf Deutsch veröffentlichter Gedichtband „Mohn und Gedächtnis“ erscheint in der Deutschen Verlagsanstalt (DVA) in Stuttgart und bringt ihm einen Monatslohn als Honorar ein. Ohne dass er davon informiert wird, werden seine Gedichte auch in den USA übersetzt und zwar mehrere Male. Einer der Übersetzer trifft ihn anno 1967 in Paris und ist positiv überrascht von Celans freundlichem Empfang.

Scheveningen 1957

Ein junger niederländischer Komponist schreibt Celan aus Scheveningen: Er habe eine chorale Komposition zur „Todesfuge“ geschrieben. Doch aus der erbetenen Zusammenarbeit wird nichts, weil Celan seine Alltagsarbeit eingespannt ist und zudem keinen Abstand verspürt zu dem, was die „Todesfuge“ beinhaltet und ausdrückt. Es gibt weitere Vertonungen woanders. Doch die enge Identifikation mit der „Todesfuge“ soll schon bald auf eine harte probe gestellt werden.

1959

Seit 1959 arbeitet Celan als Übersetzer, freier Schriftsteller und als Lektor für deutsche Sprache und Literatur an der École Normale Supérieure. Zu seinem lyrischen Werk tritt in dieser Zeit eine umfangreiche übersetzerische Arbeit (u.a. Rimbaud, Valéry, Ungaretti, Jessenin, Mandelstam). Er bleibt in Briefkontakt zu Ingeborg Bachmann, Max Frisch, Hermann Lenz und Hermann Kesten, sowie zu seinem neuen Verlag S. Fischer in Frankfurt/Main, Er wird sie dringend brauchen.

Georg-Büchner-Preis 1960

Dieser Preis ist der wichtigste Literaturpreis in Deutschland überhaupt. Nach der Veröffentlichung von „Sprachgitter“ spricht ihn die Deutsche Akademie für Sprache und Dichtung Celan zu. Damit geht der Ärger los. Denn Claire Goll, die Witwe des von Celan 1949 übersetzten Yves Goll, richtet gegen Celan heftigste Plagiatsvorwürfe und agitiert in der europäischen presse gegen ihn. Sie findet zu Celans Missvergnügen einen bereitwilligen Resonanzboden vor, der von beleidigenden Verrissen (durch den Kritiker Blöcker, wie Hans Egon Holthusen ein Ex-Nazi) bis hin zu Neonazi-Schmierereien in Köln und Berlin reichen: Antisemitismus hat wieder einen Nährboden. (S. 182)

Und Celan ist sich völlig bewusst darüber, woher das kommt: die Leugnung der individuellen Verantwortung, wie sie schon nach dem Krieg von anderen (Bernanos) diagnostiziert worden war. Die Akademie lässt Claire Golls Plagiatsvorwürfe prüfen und schmettert sie mit einem Freispruch erster Güte ab. Am 22. Oktober 1960 nimmt Celan den preis entgegen und hält seine brillante MERIDIAN-Rede. (S. 189) Der Grund für Claire Golls Invektiven: enttäuschte Liebe. In den folgenden Jahren erlebt Celan Wechselbäder von wütender Ablehnung und streitbarer Unterstützung. Er schreibt dagegen an, und diese Gedichte sind genau analysiert, so etwa „Engführung“ in „Sprachgitter„, das noch länger als die „Todesfuge“ ist.

1961-1966

Die „Todesfuge“ wird als lebendige Erfahrung und als deren Bericht und Deutung vom ungarischen Nobelpreisträger Imre Kertész (1920-2016) übersetzt (S. 191ff.) und 30 Jahre lang als gültige Formulierung verarbeitet. Als Insasse des KZ Buchenwald teilt er seine Erfahrung mit dem spanischen Autor Jorge Semprún, der ebenfalls in Buchenwald gedemütigt wurde (s. S. 197ff.). Auf faszinierende Weise zeigt der Autor Sparr Parallelen in den Biographien der beiden herausragenden Autoren auf, verbunden durch die Erfahrung eines deutschen Todeslagers.

Er tut dies noch einmal mit den Biographien von Celan und Nelly Sachs (S. 213-223). 1966 sollten beiden den Nobelpreis gemeinsam erhalten und ihn sich teilen. Daraus wurde nichts. Sachs und Celan waren seit Kriegsende durch ähnliche Erfahrungen unter den Nazis, vor denen Sachs und ihre Mutter 1940 nach Schweden hatten fliehen müssen, freundschaftlich verbunden. Sie trafen sich erneut am Zürcher See im Haus einer Philosophin namens Susman, um als Juden über Gott, Religion und Glauben zu sprechen. Daraus entsprang Celans Gedicht „Zürich, Zum Storchen“.

In der Parallelität der Entwicklung ihrer Persönlichkeiten und Biografien erleben beide 1965 schwere psychische Krisen und landen in der Psychiatrie, Sachs in Schweden, Celan bei Paris. Die Krankenakten sind unter Verschluss und offenbar bis heute nicht zugänglich. So mutet es wie ein Wunder an, dass Nelly Sachs 1965 einen Preis in Berlin, dem Land ihrer Verfolger, empfängt und 1966 den Nobelpreis, den sie sich mit einem israelisch-hebräischen Autor, der sehr gut Deutsch spricht und schreibt, vom schwedischen König entgegennimmt. Sachs stirbt am gleichen Tag, an dem Celan beerdigt wird: am 12. Mai 1970. (S. 223)

Ermittlungen der deutschen Justiz 1960-63

Anfang der sechziger Jahre bereitet die deutsche Justiz, angeregt durch den hessischen Generalstaatsanwalt Fritz Bauer und durch die „Zentrale Stelle der Landesjustizverwaltungen zur Aufklärung nationalsozialistischer Verbrechen“, einen Prozess gegen die Ex-Nazis vor, die für die Ermordung zahlreicher Juden in den Lagern in Rumänien und der Ukraine verantwortlich gewesen sein müssen: die SS-Leute Christoffel, Maas und andere. Weil Christoffel unbehelligt in Lübeck lebte, sollte der Prozess von der dortigen Staatsanwaltschaft geführt werden. Prozessort sollte Itzehoe werden.

Grundlagen der Anklagen waren die Notizen von Arnold Daghani alias Arnold Korn, die er ab 1944 im Arbeitslager Michailowka etc. führte, wo Celans Mutter ermordet worden war (s.o.). Aber auch die Aussagen von über tausend Zeugen sowie den Hinterbliebenen der Täter wurden berücksichtigt. Das Ergebnis: Der Prozess platzte. Weil die wichtigsten Aussagen zurückgehalten oder vereitelt bzw. entwertet wurden, konnte den Angeklagten nicht zweifelsfrei eine Schuld an einem individuellen Tod nachgewiesen werden. (S. 201-211)

Moskau 1967

Sein alter Freund Erich Einhorn, den er zuletzt 1947/48 in Wien gesehen hatte, schreibt Celan aus Moskau, dass dort erstmals die „Todesfuge“ übersetzt und veröffentlicht worden sei. Da Celan selbst russische Lyrik liebt und übersetzt, freut ihn dies. Doch es ist die Zeit des Kalten Krieges, und in der Sowjetunion herrscht strenge Zensur, Dissidenten wie Ginsburg und Sinowjew werden verfolgt und in den GULAG geschickt. Das Kapitel beleuchtet die Rezeption Celans im Osteuropa. Zudem wird die Lebensgeschichte von Celans Nachbar Gustl Chomed aus Czernowitz erzählt, der erst 2002 in Israel starb. (S. 225-235) Dem Dichter Ossip Mandelstam (1898-1938) widmete quasi Celan seinen Gedichtband „Niemandsrose“.

Westberlin 1967

Anlässlich einer Lesung per Prof. Peter Szondi besucht Celan die Ruine des Anhalter Bahnhofs (S. 237ff). Hier war er auf dem Weg nach Paris als Jugendlicher angekommen, von hier gingen die Deportationen von Juden in die KZs. Erst seit 2008 erinnert eine Stele daran. Hier ebensowenig wie in Israel trägt er die „Todesfuge“ vor. Er hat sich davon distanziert. Ab 1968 ist er Mitherausgeber der Zeitschrift „L’Éphémère“.

Israel 1969

In Jerusalem, Haifa, Tel Aviv trägt er im Oktober 1969 auf Einladung von Gershom Sholem, dem Leiter der Akademie der Künste, aus seinen Gedichtbänden vor, aber nie die „Todesfuge“. Dies ist jedoch seinem deutschsprachigen Publikum aus der Bukowina etc. sowie den hebräisch vortragenden Dozenten und Dichtern allgegenwärtig, denn das Gedicht wurde seit 1958 schon mehrere Male übersetzt und in verschiedensten Zeitschriften abgedruckt. Aus diesem Besuch, den er vorzeitig abbricht, ergibt sich die Liebschaft mit der 45-jährigen Jüdin Ilana Shmueli, die ihn in Paris mehrmals besuchen kommt. Er hat sich von seiner Familie getrennt.

Die letzte Reise: Stuttgart, Freiburg

Schon wieder ein Plagiatsvorwurf: Im Winter 1970 erhält Celan ein Bukarester Heft mit dem Abdruck des Gedichts „Er“ von einem gewissen Immanuel Weissglas. Es soll entweder 1944 oder 1947 entstanden sein, wurde aber erst 1970 veröffentlicht. Verblüffende sprachliche Parallelen zur „Todesfuge“ ergeben sich aus den gleichen Metaphern, aber ohne „Schwarze Milch“ (s.o.). Prompt wird dieses Gedicht in einer FAZ-Rezension dazu herangezogen, um die „Todesfuge“ zu entwerten – und mit ihr die jüdische Holocaust-Erfahrung. Zu Weissglas sind jedenfalls noch viele Fragen unbeantwortet. Auf Vorwürfe, die hinter den Parallelen ein Plagiat Celans vermuteten, wandte sich Weissglas gegen das „schakalartige Schnüffeln […] mit dem unlauteren Ziel, eine dichterische Erscheinung von hölderlinscher Prägung in Frage zu stellen.“ (Wikipedia)

Im März 1970 kommt Celan nach Stuttgart zu einer Tagung der Hölderlin-Gesellschaft. Danach reist er weiter nach Freiburg im Breisgau, wo er, nach 1967, zum zweiten Mal Martin Heidegger trifft. Er ahnt, dass der Philosoph ein Nazi-Apologet ist, weiß aber nicht, wie tief dieser Abgrund reicht. Hatte er schon im Frühjahr 1969 einen Selbstmordversuch unternommen, so macht er nun ernst: Vermutlich in der Nacht vom 19. auf den 20. April 1970 begeht er Selbstmord in der Seine. Sein letzter Gedichtband „Lichtzwang“ erscheint posthum im Juni bei Suhrkamp.

Nachwirkungen

Eine unerwartete Wirkung hatte die „Todesfuge“ auf die aufkeimende Untergrundbewegung in der DDR. Dieses Kapitel erzählt, wie es zur Inspiration und Veröffentlichung der Radix-Blätter kam, die im Samisdat der DDR verteilt wurden – unter den Augen der Stasi. Daraus entwickelte sich dann mehr, wie bekannt.

Die „Todesfuge“ wurde am 10.11.1988 im Bundestag vorgetragen, zur Feierstunde im Gedenken an die Opfer des Naziterrors („Reichskristallnacht„). Ida Ehre, eine hochbetagte Wegbegleiterin Celans, trug sie, ein Jahr vor ihrem Tod, vor. Danach hielt Bundestagspräsident Philipp Jenninger eine Rede zum Thema kollektive Verantwortung, die, trotz korrekter Aussage, so unglücklich formuliert war und missverstanden wurde, dass er schon am nächste Tag sein Amt niederlegte – als erster und einziger Bundestagspräsident der BRD.

Mein Eindruck

Der Autor ist kein Freund der textimmanenten Gedichtinterpretation, wie er den Lesser wiederholt wissen lässt. Diese Methode war in den fünfziger Jahren unter Kritikern und Literaturwissenschaftlern verbreitet, doch sie missachtete nach Ansicht des Autors entscheidende Faktoren, die Einfluss auf die Entstehung eines Textes wie etwa „Todesfuge“ hatten. Folglich mussten sie nicht nur die Verszeilen für aus der Luft gegriffene Metaphern halten, sondern auch zu völlig verfehlten Urteilen gelangen. Ihnen kam der fertige Text kunstvoll, um nicht zu sagen: künstlich vor. Das spricht der inhaltlichen Aussage Hohn.

Das Gegenteil sei der Fall, so der Autor, wenn man den historischen Kontext der „Todesfuge“ berücksichtigt. In erstaunlichen Detailgenauigkeit zitiert er für fast jede Zeile einen historischen Hintergrund, eine belegte „Inspiration“ wie etwa für „Schwarze Milch“ und Einzelheiten aus Zeitungsberichten herbei, um zu belegen: Die „Todesfuge“ ist nicht etwa Erfindung, sondern Erinnerung an belegbare historische Geschehnisse. Angesichts dieser Erblast müssen dem Urheber Celan die kritischen Urteile über sein Gedicht wie eine Verhöhnung nicht nur seines persönlichen Verlusts der Eltern, sondern auch der gesamten Judenvernichtung vorgekommen sein. Besonders heftig trafen ihn deshalb die negativen Urteile so prominenter Autoren wie Hans Werner Richter und Günter Grass aus der Gruppe 47.

Der Holocaust bildete für Celan, so der Autor, nicht eine Erinnerung, eine abgeschlossene Vergangenheit. Vielmehr bestand dieses Unheil permanent als Grundton in seiner Seelenstimmung. Jeder Zeuge, jede Zeugin – etwa Ilana Shmueli – erwähnt die leise Melancholie in Celan. Auch Trakl und Rilke kannten diese Melancholie. Sie waren Celans Lieblingsdichter in seiner Jugend. Es war beileibe kein Zufall, dass er auf der langen Reise von Wien nach Paris am Grab Trakls einen Halt einlegte und innehielt.

Textschwächen

S. 74: „bot ihm für die erst[e] Zeit in Bukarest…“ Das E fehlt.

S. 81: „vorbei an Grenzp[f]osten, die den Eisernen Vorhang schon vorbereiteten.“ Eine aktive Rolle bei dieser Vorbereitung würde ich von Pfosten weniger erwarten, von Posten hingegen schon.

S. 125: „die dreitätige Tagung“. Eine dreitägige hätte es auch getan.

S. 154: „mit den heraufziehenden Gräuel[n] der nationalsozialistischen Verfolgung“: Das N fehlt.

S. 155: „ihr Ruach“: Kein Druckfehler. „Ruach“ ist das „alte hebräische Wort für Wind, Atem, Geist…“

S. 198: „seinen ersten Roman…, der durch ihren (!) Assoziationsreichtum überrascht.“ Da „Roman“ männlich ist, muss das darauf verweisende Possessivpronomen ebenfalls männlich sein, also „seinen“.

S. 245: „auch er trug Gedichte von Celan auf Hebräisch vor[trug]“: Einmal „trug“ reicht völlig.

S. 278: Abbildung von Anselm Kiefers Bild mit einer Textzeile aus „Todesfuge“. Laut Untertitel soll das Bild den Titel „Dein aschenes Haar, Margarete“ tragen. Im Bild steht jedoch die Zeile „Dein goldenes Haar, Margarete“. Kann der Untertitel korrekt sein?

Unterm Strich

Das Buch wendet sich an Leser, die den Schriftsteller Paul Celan noch kennenlernen wollen, und an Literaturwissenschaftler, die einen bestimmten Text – siehe Titel – diachronisch von der Entstehung bis zur Gegenwart verfolgen wollen. Dabei ist es unvermeidlich, dass dieses Publikum die Wechselwirkung zwischen der Rezeption, die das titelgebende Gedicht erfuhr, mit seinem Urheber wie in einem Brennglas kennenlernt. Celan war von manchen Momenten dieser Rezeption so bestürzt, dass er ab einer gewissen Zeit (späte Fünfziger, frühe Sechziger) dieses Gedicht gar nicht mehr las. Das wiederum holten seine Gastgeber nach, etwa in Israel.

Die „Todesfuge“ steht mittlerweile in jedem Deutsch-Lehrbuch und in praktisch jeder Anthologie über die (deutsche oder europäische) Lyrik des 20. Jahrhunderts, zumal wenn es um die Verarbeitung des Holocaust geht. Der Autor Sparr erwähnt nebenbei, dass sich Celan nicht gegen die Verwertung in den Schulbüchern wehren konnte, und er sah offenbar auch keinen müden Centime für die Abdruckrechte. Und in fünf Jahren, 2025, so steht zu befürchten, wird sein Gedicht – nach den üblichen 70 Jahren – Gemeingut, das jeder abdrucken kann, wie es ihm gefällt. Seine Erben sehen dann ebenfalls keine Tantiemen mehr.

Sparr setzt sich wiederholt kritisch damit auseinander, auf welchen Widerstand das Gedicht und sein Autor stießen. Die „Todesfuge“ etwa in Celans Wiener Zeit als surrealistisches Kunstwerk zu inszenieren, führte dazu, dass er die Veröffentlichung zurückzog. Dieses Missverständnis beruht darauf, die meisten Zeilen des Gedichts als Metaphern („schwarze Milch“ usw. ) aufzufassen und nicht als historische Beobachtungen.

Das veranlasst den Autor Sparr, wiederholt auf ein bemerkenswertes Defizit hinzuweisen: Die Geschichtswissenschaft habe sich immer noch nicht dazu herabgelassen, eben diese Fakten zu untersuchen und zuzuordnen. „Der Tod ist ein Meister aus Deutschland“ meint eine ganz konkrete Kategorie von Aufsehern in den KZs und Arbeitslagern. Sparr ist es positiv anzurechnen, dass er die Arbeit der Historiker schon weitgehend erledigt hat. Er benennt die SS-Kommandanten und ihre Schergen in der Bukowina und Ukraine bei Rang und Namen. Das er laubt es, sie zu verfolgen.

Wer hier eine Biographie Celans erwartet, wird seine Erwartung nur zum Teil erfüllt sehen. An keiner Stelle erklärt Sparr, warum sich Celan von seiner Familie trennte. OK, er attackierte seine Frau und versuchte sich umzubringen. Die genauen Abläufe dieses Trennung bleiben unerwähnt. Auch die Beziehung zu Ingeborg Bachmann hätte ich gerne tiefer dargestellt gesehen, von der „Herzzeit“ in Wien bis zu Bachmanns Aktivitäten in der Gruppe 47 und an der Seite von Max Frisch.

Celans Schicksal vor, während und nach dem Krieg wurde von vielen Weggefährten geteilt. Ihr Schicksal ist ebenso wichtig wie das von Celan. Denn früher oder später halfen sie ihm oder urteilten sie über ihn und sein Werk. Das hilft dem Leser zu beurteilen, was von dem Fall Weissglas zu halten ist. Hat Celan wirklich ein Plagiat veröffentlicht? Und was ist von Claire Golls Verleumdungskampagne zu halten, die Celan erheblich verletzt haben dürfte? Nach der Lektüre dieses Buches vermag der Leser kompetenter und objektiver mit solchen Vorwürfen umgehen. Dennoch: Es bleibt noch viel Forschungs- und Erinnerungsarbeit zu leisten. Und viele der Mörder laufen noch frei herum.

Hardcover: 334 Seiten
ISBN-13: 9783421047878

https://www.randomhouse.de/Verlag/DVA/36000.rhd

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