June Thomson – Alter Sarg für neue Leiche

thomson sarg cover kleinDas geschieht:

Auf einem brachliegenden Feld in der englischen Grafschaft Dorset graben Archäologen eine Leiche aus, die nur noch Skelett, doch ganz und gar nicht historisch ist. Chief Inspector Finch übernimmt einen seltsamen Fall, denn der tote Mann wurde zwar ermordet, aber nach seinem Ende vom Mörder sorgfältig aufgebahrt und in eine Wolldecke als Leichentuch gehüllt; sogar ein Kruzifix als Grabbeigabe wird entdeckt.

Das einsame Grab liegt auf der Grenze zwischen den Ländereien zweier nicht gerade befreundeter Bauern. George Stebbing ist ein scheinheiliger Schwätzer, der seine Nase allzu gern dorthin steckt, wo sie nichts zu suchen hat, Geoff Lovell ein grimmiger Sonderling, der seine Schwägerin Betty und seinen geistig zurückgebliebenen Bruder Charlie auf dem Hof gefangen zu halten scheint.

Der erfahrene Ermittler Finch registriert sogleich die Spannungen, die auf dem Lovell-Hof in der Luft liegen. Die Reaktionen der Brüder und ihrer Schwägerin verraten ihm, dass man etwas vor ihm und überhaupt verbergen will. Als Recherchen die Existenz eines drittens Bruders enthüllen, scheint sich das Rätsel zu lösen: Vor fünfzehn Jahren hat Ron Lovell den heimischen Hof und seine junge Gattin Betty verlassen. Sie und Geoff wurden ein Paar. Viele Jahre später ist Ron offenbar heimgekehrt und zeigte sich unzufrieden mit der neuen Situation. Ist es seine Leiche, die man gefunden hat?

Geoff schweigt und liefert sich mit Inspector Finch ein stilles aber erbittertes Katz-und-Maus-Spiel, das von dem Polizisten gezielt forciert wird, hofft er doch, dass einer der Lovells die Nerven verliert und sich verrät. Doch Finch irrt fatal, denn hinter den Kulissen setzt er ahnungslos ein tödliches Spiel in Gang, das auch ihn schließlich in Lebensgefahr bringen wird …

Karge Bühne für übersichtliches Krimi-Stück

Krimis wie „Alter Sarg für neue Leiche“ stellen in ihrem Genre die Mehrheit dar: Sie sind ordentlich geplottet und sorgfältig geschrieben aber bar jeglicher Originalität und ohne jenes Fünkchen Individualität, das z. B. die Werke einer Agatha Christie oder Ngaio Marsh (um zwei ungleich berühmtere ‚Kolleginnen‘ von June Thomson zu nennen) unsterblich werden ließen. (Nicht zum Vorwurf sollte man Thomson den deutschen Titel machen. Er ist das Erbe einer Ära, in der britischen Krimis keine Pseudo-Bibelsprüche – „Denn dunkel soll sein Ende sein“ –, sondern leutselig-‚ironische‘ Plumpwitzel-Titel aufgezwungen wurden)

Alle Elemente eines englischen Landhauskrimis mit viel Lokalkolorit sind da und kommen auch zum Einsatz. Da ist als Kulisse das idyllische Dorset. Dem Dörfchen, vor dem sich das Drama um eine nur scheinbar auf ewig verborgene Leiche abspielt, hat die Verfasserin nicht einmal einen Namen gegeben; er ist unnötig, denn die Handlung beschränkt sich fast vollständig auf zwei Bauernhöfe und ein dazwischen liegendes Landstück.

Die Geschichte ist ein typischer „Whodunit“ und erzählt chronologisch von den Ermittlungen in einem Mordfall. Von der Autorin werden die Fakten offen dargestellt, sie spielt fair und zaubert im Finale keinen bisher unerwähnt gebliebenen Täter aus dem Hut. Einer, den oder die wir kennen, ist auf jeden Fall der Mörder: Den Lesern wird also die theoretische Möglichkeit des Miträtselns geboten.

Dezente Irrungen & Wirrungen

Gestattet ist der Autorin selbstverständlich der Versuch, ihr Publikum auf falsche Fährten zu locken; es wird von diesem sogar erwartet. Viel Mühe macht sich Thomson hier freilich nicht; sie streut Verdachtsmomente so dicht und auffällig aus, dass der erfahrene Leser weiß, dass es die auf diese Weise Getroffenen ganz sicher nicht gewesen sein können. An dieser Stelle soll die Auflösung nicht verraten werden, doch eine Überraschung stellt sie eigentlich nicht dar, zumal sie von der Verfasserin im Originaltitel selbst angedeutet wird.

Letztlich ist es der geliehene Zauber größerer Vorbilder, die „Alter Sarg für neue Leiche“ zu einer angenehmen Lektüre werden lassen. June Thomson kann plotten und schreiben; nicht ohne Grund umfasst die Serie der Inspector-Finch-Romane zwanzig Bände. In Deutschland fristet sie dagegen ein Schattendasein. Nur wenige Episoden erschienen in den 1980er und 90er Jahren in der Reihe der „Scherz“-Krimis. Finch und sein gemächlich-treuer Sidekick Detective Sergeant Boyce konnten offensichtlich keine wirklich begeisterten Anhänger finden. „Alter Sarg für neue Leiche“ liefert freilich auch kein schlagendes Argument dafür, dass sich dies ändern sollte.

Nostalgie aus zweiter Hand

Was bereits erwähnt wurde, gilt auch für die Figurenzeichnung: „Alter Sarg …“ ist ein Krimi der klassischen Art, wobei der Nostalgiefaktor allerdings inzwischen auch dem Alter des Romans geschuldet ist. Er entstand bereits 1978 und somit in einer fremd gewordenen Vergangenheit. Dabei macht Thomson durchaus deutlich, dass ‚ihre‘ Gegenwart durchaus auch auf dem Land begonnen hat. Die Provinz mag ein hübscher Ort sein, doch das Leben ist ebenso hart wie in der ‚modernen‘ Stadt und prägt die Menschen im Guten wie im Bösen.

George Stebbing kommt dem Klischee vom fröhlichen Landmann noch am nächsten, doch auch das relativiert sich, als hinter der treuseligen Fassade ein eher unerfreulicher Zeitgenosse zum Vorschein kommt. Ansonsten treten immerhin einige geplagte Dorfpolizisten auf, die Finch permanent um ihren Nachmittagstee bringt, nach dem sie gieren, sowie eine Archäologen-Gruppe, deren Treiben Thomson mit den bekannten Scherzen über weltfremde Wissenschaftler schildert.

Kleine Bosheiten addieren sich

Über dem Lovell-Hof hängt dagegen von Anfang an ein Fluch wie eine dunkle Wolke. Hier geht etwas Tragisches vor, das die Betroffenen zeichnet. Kein Hund von Baskerville oder ein ähnlich malerisches Verhängnis aus ebensolcher Vergangenheit ist dafür verantwortlich. Menschliches Versagen und die Folgen bestimmen das Geschehen. Thomson übertreibt es wie gesagt mit dem Verwirbeln der Indizien. Trotzdem klärt sich im Finale das seltsame Verhalten der in den Mordfall verwickelten Personen zufriedenstellend.

Inspector Finch ist keine Figur, der man die Kraft zubilligen würde, sich über dreißig Jahre und zwanzig Bände auf dem Buchmarkt zu behaupten. Daran kann sein treuer, die Laufarbeit übernehmender weil etwas schwer von Begriff gezeichneter Sergeant Boyce als typischer Wasserträger & Stichwortgeber des Helden kaum etwas ändern. Hier mag sich der Rezensent täuschen: Womöglich gehört „Alter Sarg für neue Leiche“ einfach zu den schwächeren Titeln der Autorin. Ein wirklich schlechtes Buch ist es jedoch nicht, und die Schwafel-Thriller einer Elizabeth George oder Tana French lässt es in Sachen Unterhaltung allemal hinter sich …

Autorin

Die britische Kriminalschriftstellerin June Valerie Thomson wurde 1930 in Rettendon, Essex, geboren. Sie besuchte die Chelmsford High School und wurde später selbst Lehrerin. 1971 debütierte sie mit `Not One of UsA, dem ersten Roman ihrer Serie um die englischen Polizisten Inspector Finch und Sergeant Boyce, die dreieinhalb Jahrzehnte fortgesetzt wird. Bekannt wurde Thomson außerdem durch zahlreiche _neue= Geschichten um Sherlock Holmes & Dr. Watson, die in mehreren Bänden gesammelt wurden. Juni Thomson lebt und arbeitet in St. Albans, Hertfordshire.

Taschenbuch: 154 Seiten
Originaltitel: A Matter of Identity (New York : Doubleday 1977)
Übersetzung: Hedi Hummel-Hänseler

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