Dr. Stephen Flowers ist in mehrfacher Hinsicht eine Ausnahmeerscheinung – als germanophiler Amerikaner, als Wissenschaftler und auch als Vordenker des westlichen [Pfades zur Linken Hand.]http://de.wikipedia.org/wiki/Pfad__zur__linken__Hand Nach einem Studium der germanischen und keltischen Philologie unter Prof. Edgar Polomè erhielt er 1984 mit seiner Dissertation „Runes and Magic: Magical Formulaic Elements“ (welche später auch in Buchform publiziert wurde) den Doktortitel. Seine akademischen Publikationen scheinen eine überwiegend positive Resonanz zu erfahren: So bestätigt etwa der deutsche Runenexperte Klaus Düwel (welcher sich im Vorwort seiner Abhandlung „Runenkunde“ explizit von jedweder „Esoterik“ distanziert), Flowers habe eine „für runologische Arbeiten brauchbare Bestimmung von Magie“ vorgelegt.
Flowers begnügt sich indes nicht nur mit der Entwicklung wissenschaftlicher Paradigmen: Unter dem Pseudonym Edred Thorsson hat er eine Reihe von Büchern über Runen und „germanische“ Magie verfasst, welche in der „neuheidnischen“ Subkultur ebenfalls einen guten Ruf genießen. Flowers verfolgt eine holistische Strategie – er will die germanische Tradition sowohl auf säkularer als auch auf religiöser Ebene kommunizieren und wiederbeleben.
|“Das jüdisch-christliche Denksystem war sehr dazu geeignet, auf solche Art säkularisiert zu werden, dass man es in ein Modell für moderne politische und ökonomische Theorien umwandeln konnte. […] Judentum und Christentum können von der etablierten akademischen Welt toleriert werden, weil man sie betrachten kann als theoretische Prototypen des materialistischen und positivistischen Modells, das nun im westlichen Denken vorherrscht. Frühere traditionelle Modelle werden weniger als eine Bedrohung der Religion als vielmehr der monolithischen politischen und wirtschaftlichen Ordnung gesehen. […] Eindeutig rührt die Feindseligkeit gegenüber jenen, die einen Wert in vorchristlichen Modellen erkennen, nicht aus der religiösen Seite der Debatte, sondern eher aus der säkularen Bedrohung, die der Traditionalismus für die gegenwärtige politische Ordnung darstellt. Was hier nötig erscheint, ist eine Kampagne für die Umerziehung der akademischen Welt, um zu zeigen, dass die idealisierte Zukunft viel wahrscheinlicher auf dem Mosaik vorchristlicher Traditionen basieren wird als auf dem monolithischen christlichen Vorbild. […]
[Es gab] eine Zeit, da „heidnisches Wissen“ etwas bedeutete, das von Anfang an streng war und sich allmählich in höhere Bereiche des im alltäglichen Unaussprechlichen entwickelte. „Christlicher Glaube“ war etwas, das im Gegensatz zu „heidnischem Wissen“ stand, und wurde von Anfang bis Ende des Prozesses durch Subjektivismus und endlose Anrufungen unverfizierbarer Autoritäten geprägt. Auf diese Weise kann man sehen, wie der typische „New Ager“ oder „Wicca“-Anhänger (sic) in paradigmatischer Hinsicht dem ursprünglich christlichen Denkmodell viel näher steht als der durchschnittliche „gläubige“ Christ von heute. Ernsthafte christliche Seminaristen kämen nie auf den Gedanken, das Studium des Lateinischen, Griechischen und Hebräischen zu ignorieren, doch die vielen Anwärter auf eine „Priesterschaft“ im heutigen Àsatrù glauben, es sei unnötig, die altnordische Sprache zu erlernen. Es ist bemerkenswert, wie viele Menschen noch nicht einmal die Orthographie ihres vermeintlich „nordischen Namens“ richtig hinbekommen!“|
[Aus einem Interview mit Michael Moynihan in der Ausgabe Nr. 6 / 2003 des ZINNOBER]
Kontroversen sind angesichts einer solchen Position natürlich vorprogrammiert. Ein „heidnisches“ Äquivalent zur christlichen Theologie, wohlmöglich noch als anerkannter Studiengang an einer Universität – viele werden dies als spinnerte Utopie abtun. Doch ist die Bibelexegese eines Theologen nur deswegen seriöser, weil SEINE Tradition auf jüdischem Monotheismus und hellenischer Metaphysik aufbaut? Schließen sich neuheidnische Ideen und wissenschaftlicher Anspruch zwangsläufig aus? Flowers‘ Argumentation scheint mir hier durchaus plausibel zu sein: Es ist NICHT auf die Position der christlichen Theologie in unserer Gesellschaft zurückzuführen, dass Àsatrù & Co. gemeinhin mit dem Etikett „Esoterik“ versehen und somit aus dem wissenschaftlichen Diskurs ausgeschlossen werden.
Zwei andere Faktoren sind hier tatsächlich von entscheidender Bedeutung: Erstens, der Unwille vieler Wissenschaftler, sich des christlichen Ursprungs vieler ihrer säkularen Überzeugungen bewusst zu werden und ihr Weltbild dementsprechend zu modifizieren. Zweitens, der Unwille vieler Neuheiden, ihre Überzeugungen den Standards des wissenschaftlichen Falsifikationsprinzips anzugleichen. Wer sich aber weigert, den Anforderungen der Wissenschaftlichkeit Rechnung zu tragen, muss sich nicht wundern, wenn seine persönlichen Überzeugungen von der restlichen Gesellschaft als Unsinn abqualifiziert werden. „Ernsthafte“ Neuheiden sind für Flowers keine Gläubigen, sondern Suchende.
1979 gründet Flowers seine eigene initiatorische Gruppe, die Rune-Gild, welche sich der ernsthaften Erforschung des inneren Erlebens innerhalb der indoeuropäischen Tradition im Allgemeinen und der germanischen Tradition im Besonderen verschreibt. „Okkultisten“, welche ihre Praxis nicht auf harte Fakten stützen wollen, sind in der Gilde nicht willkommen. Jeder neue Adept muss sich zunächst als Lehrling bewähren, bevor er seine Gesellenprüfung absolvieren und schließlich sein persönliches „Meisterstück“ anfertigen darf. Erst wenn er oder sie all diese intellektuellen und spirituellen Hürden genommen hat, darf er oder sie sich als „Runenmeister“ bezeichnen.
„Die Neun Tore von Midgard“ wurden ursprünglich als exklusiver Lehrplan für die Mitglieder eben dieser Runengilde entwickelt. Mittlerweile hat Flowers diesen Lehrplan aber auch öffentlich zugänglich gemacht, und im |Arun|-Verlag ist nun auch die deutsche Übersetzung erschienen.
Flowers selbst ist darüber übrigens so erfreut, dass er es sich nicht nehmen ließ, ein zusätzliches Vorwort für die deutsche Ausgabe zu verfassen. Der „Geist“ des Buches sei nun nach Hause gekommen: „Die viel gepriesenen deutschen Neigungen zu Gründlichkeit und Disziplin, verbunden mit dem nun meist vergessenen deutschen Drang zu Idealismus und heldenhafter Bemühung, liegen der ursprünglichen Vision des Buches zugrunde.“ Kein Kommentar … 😉
Was bringt ein solcher Lehrplan nun Nichtmitgliedern der Gilde? Zunächst einmal einen kohärenten, in dieser Form völlig neuen Überbau für Neuheidnisches Denken. Im Gegensatz zu Àsatrù & Co. strebt Flowers keine Wiederbelebung des Polytheismus an, sondern führt den Begriff des „Odianers“ ein:
„Odianer meint, im Gegensatz zur Bezeichnung Odinist, jemanden, der den Gott Odin (Wodan) nicht anbetet, sondern ihm vielmehr nacheifert. Der Odinist betet an, der Odianer wird selbst zu ihm. Dies ist die wahre Natur des Odinkultes. Der Odianer sucht keine Vereinigung mit Odin, sondern mit seinem einzigartigen Selbst. Dies ist die fromme Aufgabe von Odin selbst. Wenn wir danach streben, unser Selbst irgendeiner anderen Macht zu unterwerfen, wird Odin das mit Sicherheit nur erbärmlich finden. Wahre Odianer gibt es nur wenige.“
An dieser Stelle ist es vielleicht hilfreich zu wissen, dass Flowers in gutem Kontakt zu Michael Aquino und Don Webb vom Temple of Set steht. Man könnte „Odianer“ und „Odin“ ebenso gut durch „Setianer“ und „Set“ oder „Satanist“ und „Satan“ austauschen. „Odin“ ist in diesem Kontext als Archetyp des „Fürsten der Finsternis“ bzw. der „Isolierten Intellegenz“ zu betrachten, wie ihn etwa Don Webb in seinem [„Uncle Setnakt’s Essential Guide to the Left Hand Path“ 278 beschreibt.
Flowers Festlegung auf das „germanische“ Paradigma ist aber durchaus ernst gemeint: Wer sich die Mysterien der Neun Tore wirklich erschließen möchte, dem empfiehlt Flowers eindringlich, sich für dieses Vorhaben a) mindestens ein oder zwei Jahre Zeit zu nehmen und b) es auf keinen Fall „in ein unübersichtliches Wirrwarr alternativer Ideen“ einzureihen.
Wer sich dazu entschließt, die „Neun Tore von Midgard“ tatsächlich für seine eigene Praxis zu verwenden, sollte sich allerdings darüber im Klaren sein, dass Flowers / Thorsson hier keineswegs das Paradigma der altnordischen Magietradition eins-zu-eins rekonstruiert – dafür ist der wissenschaftliche Erkenntnisstand einfach zu lückenhaft. Vielmehr versucht er, auf den gesicherten Fakten aufzubauen und sie durch eigene Erfahrungen zu ergänzen. Im Prinzip bleibt ihm ja auch nichts anderes übrig, da wir die Zeit nicht einfach um 1000 Jahre zurückdrehen können.
Der Großteil der einzelnen „Tore“ bzw. Kapitel widmet sich der Übung ritueller Techniken. Zusätzlich vermittelt Flowers aber auch einige Anleitungen zur Herstellung persönlicher Utensilien. Aber auch wer sich aus bestimmten Gründen nicht diesen praktischen Übungen widmen möchte, profitiert dennoch von Flowers theoretischen Grundsatzerklärungen und den zahlreichen Lektüreempfehlungen.
Alles in allem wird dieses Buch vermutlich nur wenige Leute dazu anregen, seine Inhalte von A bis Z praktisch umzusetzen – dafür ist es einfach zu straight und fordernd, zumal ja der gemeine Leser nicht auf die Unterstützung der Gilde zurückgreifen kann. Hinzu kommt, dass Flowers auf seinem Gebiet keine wirkliche Konkurrenz hat. Das spricht zwar einerseits für die Qualität der „Neun Tore von Midgard“, sollte aber andererseits nicht dazu führen, dass man jede seiner Thesen kritiklos als Gesetz akzeptiert.
Wer sich für Flowers Runengilde interessiert, kann unter http://www.runegild.org weitere Informationen einholen.