Tim Akers – Das Herz von Veridon (Veridon 1)

Steampunk noir: Von Engeln, Piloten und anderen Ungeheuern

„Mein Name ist Jacob Burn. Ich war an Bord eines Zeppelins, als er vom Himmel fiel. Ich stürzte mit den Flammen und zerschmetterten Getrieben in den dunklen Fluss hinab und überlebte. Der Himmel mag mich wohl nicht besonders. Aber noch weniger mögen mich die Leute, die mich jagen. Sie sind hinter dem Artefakt her, das mir ein alter Bekannter vor dem Zeppelinabsturz in die Hand gedrückt hat. Keine Ahnung, was es damit auf sich hat, aber es scheint ziemlich bedeutend zu sein. Schließlich will man mich dafür töten. Meine Stadt Veridon ist ein gefährlicher Ort. Aber wenn es sein muss, kann ich noch viel gefährlicher sein …“ (Verlagsinfo)


Der Autor

Tim Akers, geboren in North Carolina, ist der einzige Sohn eines Theologen. Er zog nach Chicago, wo er das College besuchte und noch heute mit seiner Frau und seinem deutschen Schäferhund lebt. Er widmet seine Zeit zu gleichen Teilen der Pflege von Datenbanken und dem Führen von Füllfederhalten. (abgewandelte Verlagsinfo) Im Februar 2012 kündigte er seinen Job am Wheaton College, um sich ganz auf das Schreiben zu konzentrieren. Mehr Info: www.timakers.net.

Die Veridon-Reihe

1) Das Herz von Veridon (2009; dt. 2012)
2) Die Untoten von Veridon (2011, dt. 2013)

Weitere Werke:

1) Dark Kingdom of Jade Adventures (Wraith – the Oblivion). White Wolf Publishing, 1996, ISBN 978-1565046177.
2) The Horns of Ruin. Pyr, 2010, ISBN 978-1616142469.
3) The Pagan Night. Book One of the The Hallowed War (2015) ((http://www.timakers.net/books/pagan-night/))

Handlung

Veridon liegt auf einem anderen Planeten oder auf einer Erde der fernen Zukunft. Es ist eine große Stadt im Delta, wo die Flüsse Dunje, Reine und Ebd zusammenfließen. Unten liegen die Elendsviertel, doch oben auf den Höhen klammern sich die Villen der alteingesessenen Adelsfamilien und der Neureichen an die steilen Hänge des Flusstals. Dort thront auch die Pilotenakademie auf dem Bergkamm. Boote fahren nur selten über den Fluss, denn darin leben die legendären Fehn. Und manchmal bringt der dritte Fluss, der Reine, wundersame Artefakte von einer weitaus größeren Stadt herunter, die im unerforschten Binnenland liegt. Eines dieser Artefakte spielt eine zentrale Rolle in Jacob Burns Leben.

Jacob entstammt zwar einer alten Adelsfamilie, die einen Sitz im Stadtrat hat, doch nachdem er als Pilot für ein Unglück mit einem Luftschiff verantwortlich war, wurde er quasi von seinem Vater Alexander Burn verstoßen. Als Pilot besteht sein Herz aus Metall und seine Augen aus einer Spezialkonstruktion, nichts Besonderes in einer Stadt, in der zahlreiche Wesen mechanisiert worden sind, seit die Kirche des heiligen Algorithmus die Verbindung aus Mensch und Maschine gesegnet hat. Jacob arbeitet inzwischen als Geheimagent für einen Mann namens Valentine, der diverse Aufträge für ihn hat, die durchaus lukrativ sind – wenn auch nie ungefährlich.

Der Absturz

Heute befindet sich Jacob in geheimer Mission an Bord des Luxus-Luftschiffs „Pracht des Tages“. Es nähert sich dem größten Wasserfall des Reine, als etwas schrecklich schiefzugehen scheint. Der Zeppelin beginnt zu schlingern und an Höhe zu verlieren. Als Jacob nach dem Rechten sieht und sich zur Pilotenkanzel durchschlägt, stößt er auf die Leichen der Wachen. Im Pilotensitz klammert sich nur noch ein angeschossener, kaputter Automat an die Kontrollen. Höchste Zeit, sich von Bord zu begeben!

Auf dem Weg zu den Rettungsbooten kreuzt Jacobs Weg den seines avisierten Kontakts. Seinem ehemaligen Pilotenkameraden Marcus Pitts geht es gar nicht gut: Er ist schwer verletzt und berichtet, er werde von einem schrecklichen Mann verfolgt. Um diesen abzuschütteln, habe er das Schiff sabotiert, in der Hoffnung, im allgemeinen Durcheinander der Panik unterzutauchen. Er übergibt Jacob ein Artefakt, das dieser als Mechagen, eine Minimaschine, erkennt. Doch was es bewirkt, ist ihm schleierhaft. Er gibt Marcus den Gnadenschuss und macht, dass er wegkommt. Angeblich überlebt er den Absturz der „Pracht des Tages“ als einziger. Schon bald stellt sich dies als Irrtum heraus. Jemand verfolgt ihn, um ihm das Artefakt abzujagen.

Ruhestörung

Emily, seine Kontaktfrau zu Valentine und ihres Zeichens bewaffnete Buchhalterin, weiß auch nicht, was das für ein Objekt ist und nimmt es vorerst in Verwahrung. Dann schickt sie Jacob mit zwei Aufträgen zu einer Villa auf den Höhen. Dort veranstaltet die Adelsfamilie der Tombs eine Dinnerparty. Angela Tomb war einst Jacobs Schulfreundin, also freut er sich auf einen angenehmen Abend. Er trifft seinen ersten Kontakt namens Prescott, tauscht Dokumente aus und nimmt einen Revolver in Empfang. Seltsamerweise trägt dieser das Messingetikett der „Pracht des Tages“. Er wird die Waffe schon bald gut gebrauchen können.

In einem privaten Zimmer des weitläufigen Anwesens, das sich über mehrere Terrassen erstreckt, ist Angela Tomb bereit, ihn zu sprechen. Schließlich ist er ein Ausgestoßener, und sie muss auf ihren guten Ruf achten. Das Kästchen, das er ihr übergeben soll, entpuppt sich als Spieldose, die eine alte Melodie spielt. Angela ist bemerkenswerterweise nicht amüsiert, sondern wirkt nachdenklich.

Auftrag erledigt, Ruhe verdient. Doch bevor Jacob sein müdes Haupt betten kann, hört er Rufe, Schreie, Donnerschläge – und ein hartnäckiges Klopfen an seiner Zimmertür. Da dies nichts Gutes verheißt, verduftet er durch das Fenster, klettert über die Veranda und betritt andere Korridore. So gelangt er in die billigen Quartiere, wo die Schauspieler untergebracht sind, die das Märchenspiel „Das Sommermädchen“ aufgeführt haben. Auch diese Szene ist enttäuschend: Alle Schauspieler sind ermordet worden, und vom Sommermädchen fehlt jede Spur.

Die Engeljagd

Stattdessen erscheint am offenen Fenster eine Art Engelsgestalt und fragt Jacob nach seinem Namen. Diese Auskunft verweigert der Agent wohlweislich: Der Engel sollte eigentlich eine mythologische Gestalt der Schöpfer sein, die von der Kirche des Algorithmus vertrieben wurden. Doch dieser Engel hier hat Flügel aus Metall, und seine Federn laufen in tödlichen Stahlspitzen aus. Offenbar hat er die Schauspieler auf dem Gewissen. Jacob entscheidet, dass Flucht die bessere Hälfte der Tapferkeit ist.

In einer wilden Jagd über die Dächer der Villa entgeht er den Stahlfedern des Engels nur um Haaresbreite, gleichzeitig nehmen ihn die Wachen der Tombs ins Visier. Die Luft wird definitiv zu bleihaltig, findet er. Höchste Zeit, den Verfolger abzuschütteln. Es kommt zu einem heftigen, beinahe tödlichen Zweikampf mit dem Engel. Der will nur das Artefakt, doch Jacob hat es ja Emily gegeben. Als das Wesen endlich am Boden liegt, verwandelt es sich – in das Sommermädchen. Eine erstaunliche Kunstfertigkeit steckt dahinter, doch von wem stammt sie?

Anansi

Als Jacob eine Droschke kapert und in die Unterstadt prescht, hat er eine Menge Fragen an Emily und seinen Boss Valentine. Er muss feststellen, dass er ihn nun alle jagen – und nur zwei Veridaner noch zu ihm halten. Emily ist einer davon, doch was von dem Spinnenwesen Wilson zu halten ist, muss sich erst noch erweisen…

Mein Eindruck

Kyborgs und Zeppeline

Dieser Steampunk-Roman folgt der Genretradition, indem er Menschen mit Maschinen vermischt und Maschinen mit Menschen. Interessant ist dabei aber, wie diese Kybernetik funktioniert. Ähnlich wie in der einfallsreichen Novelle „27 Buchstaben“ von Ted Chiang müssen Muster und Befehle geschrieben und auf das zu steuernde Kyborg-Objekt geschrieben werden, um es quasi zum Leben zu erwecken. Es dürfte nicht verwundern, dass dem Leser allmählich verraten wird, dass auch der Held so ein Mischwesen ist. Das ist es, was die Akademie mit Piloten macht: Kyborgs. Sie sind leistungsfähiger als bloße menschliche Biomasse, aber das ist auch ihre Achillesferse, wie man noch sehen wird.

Die von Kyborgs gesteuerten Luftschiffe sind ebenso obligatorisch wie veraltete Schusswaffen und geheimnisvolle Mechanismen. Alles ist ein wenig verschachtelt und verwinkelt, weil es so alt ist: Veridon existiert offenbar schon seit vielen Jahrhunderten und hat zahlreiche Adelsfamilien hervorgebracht, solche die bedauernswerten Burns, aber auch solche wie die glorreichen Tombs. In jedem Fall spiegeln die verwinkelten Anwesen der Familie ihren Zustand wider: ob verfallen und verwahrlost wie bei den Burns, oder strahlend wie bei den Tombs. Haus und „Haus“ sind eins, ein uralter Topos, den schon E.A. Poe in „Der Untergang des Hauses Usher“ zu nutzen wusste.

Das Herz der Kirche

Auch in der Kirche des hl. Agorithmus sind die Prinzipen der Verschachtelung und Vermischung deutlich zu erkennen. Hierhin führt Jacob und Emily eine weitere Spur. Wie in einer richtigen Kathedrale gibt es Kapellen und Küster, aber auch Dampfmaschinen, die seltsame Mechanismen antreiben. Wie es seine gewohnheit ist, geht jacob dem Geheimnis buchstäblich auf den Grund. Ganz unten im tiefsten Keller findet er das titelgebende „Herz“ von Veridon: ein von Maschinen durchdrungenes, halb amputiertes Mädchen. Es ist, als wäre H.R. Giger, der Schöpfer des ALIEN-Monsters, hier Pate gestanden.

Das Herz der Maschine

Dass das „Herz“ noch eine weitere Verkörperung hat, dürfte nicht verwundern: Es ist das rätselhafte Artefakt, das Jacon von Marcus Pitts, einem ehemaligen Piloten, übergeben worden ist, um es vor einem todbringenden „Engel“ in Sicherheit zu bringen. Aber wer hat diesen Kyborg-Engel geschickt, und zu welcher Fraktion gehörte der bedauernswerte Marcus? Um diese Fragen beantworten zu können, muss Jacob mit vielen Leuten reden. Leute, die gar nicht mit ihm reden, sondern ihn liebend gern loswerden wollen.

Wegen dieser Interessenskonflikte zwischen den verschiedenen Fraktionen Veridons gerät Jacob in die Schusslinie. Es kommt fortwährend zu aufregenden, mitunter bizarren Actionszenen, die selbst einem James Bond – Jacob ist ja auch Geheimagent – gut zu Gesicht stünden. Dieser Agententhriller ist aber auch mit der Tradition des Hard-boiled-Krimi vereint worden. Mit Raymond Chandlers und Dashiell Hammetts schwarzem, trockenem Humor werden die irrwitzigsten Dialoge bestritten.

Jeder ist verdächtig und undurchsichtig, jeder verfolgt seine eigene Agenda, und es gibt verdammt wenige Leute, denen Jacob vertrauen kann – nicht einmal sich selbst. Denn die Maschine in seinem Körper verhält sich mitunter unerwartet: Auch sie will sich das Artefakt einverleiben, als sehne sie sich nach einem richtigen Herzen. Auch Emily, die von Jacob wirklich geliebt und mehrfach gerettet wird, erweist sich nicht ganz als das, was er erwartet hat. Das war zu erwarten.

Tod, wo ist dein Stachel?

An der Grenzlinie, an der sich Mensch und Maschine vermischen, ist aber auch der Tod nicht mehr das, was er mal war. Der Tod ist nicht das Ende, schon gar nicht, wenn der Leichnam den Fehn in die Hände fällt. So kommt es, dass Jacob eine recht kuriose Unterhaltung mit einem längst Verblichenen führt, um weitere Informationen zu erhalten. Auch der patriarch der Tombs weilt nur noch deshalb unter den sogenannten Lebenden, weil er sein Gehirn hinter Glas konserviert hat.

Der Leser darf sich darauf freuen, solchen Gestalten in „Die Untoten von Veridon“ wiederzubegegnen. Solche und andere Einfälle machten mir die Lektüre zu einem Vergnügen, das durch die haarsträubenden Actionszenen und das Actionfinale bestens gewürzt wurde.

Die Übersetzung

Der Übersetzer hat sich viel Mühe gegeben, und das ist in zahlreichen Szenen zu erkennen. Aber er hat auch etliche Tippfehler begangen und sich den einen oder anderen Stilfehler geleistet. Folgende Stellen habe ich mir notiert.

S. 30: „Awugen“ statt „Augen.

S. 36: „Eine Hängeleiter wurde abgelassen, und Fähnriche kletterten hinunter, um es (!) zu befestigen.“ Statt „es“ müsste es „sie“ heißen, denn die Hängeleiter ist weiblich.

S. 54 und 97: „Samtausnehmung“ in einem Kästchen: „Ausnehmung“ ist ein mir unbekannter Ausdruck, aber „Aussparung“ ist mir geläufig.

S. 84: „Ich konnte jemanden Atmen hören.“ „Atmen“ wird hier klein geschrieben.

S. 172: „dann kannst du wir wohl denken…“ Statt „wir“ muss es „dir“ heißen.

S. 186: „So, wie die Fragen stellen?“ Der Bezug von „die“ ist zwar vom Kontext abhängig, aber ich denke, dass hier „Sie“ korrekt wäre. Dann ergibt der Satz einen einleuchtenden Sinn.

S. 205: „wentstanden“ sollte korrekt „entstanden“ heißen.

S. 222: „wnach“ sollte „nach“ heißen.

S. 247: „Dabei nahm ich beiläufig wie [ein] Fleischer, der seine Auslage dekoriert…“ Das Wörtchen „ein“ fehlt.

Unterm Strich

Sein Name ist Burn, Jacob Burn. Und dieser Agent ist die Schöpfung eines Theologensohnes. Neben der üblichen Agentenaction à la James Bond und der Ermittlung à la Philip Marlowe tauchen deshalb immer wieder religöse Begriffe auf: Engel, Heilige, Celesten und so weiter. Es ist nicht einfach, die religiöse Metaphorik in halbwegs verständliche Begriffe zu übersetzen, die jeder verstehen kann.

Aber es sieht ganz danach aus, als würde Jacob Burn den freien Willen verkörpern, während ihn diverse Kräfte ihren eigenen Regeln zu unterwerfen trachten. Jacob mag zwar nicht ganz Mensch sein, denn ein Gutteil von ihm ist Maschine, aber er weigert sich beispielsweise, den Vorgaben der Kirche des heiligen Algorithmus zu gehorchen. Und den Agenten des Stadtrats, des Veridon-Parlaments, will er schon gleich gar nicht die Hand reichen.

Folglich sieht es für den unaufmerksamen Leser stets so aus, als sei Jacob ein Agent des Chaos, der es verbreitet, wo er auch hinkommt. Ich sehe ihn vielmehr als Katalysator, der Konflikte aufbrechen lässt, um sie zu einer Lösung, im Guten wie im Schlechten, enden zu lassen. Er findet heraus, dass ihn sein eigener Vater an den Rat und die Akademie der Piloten verkauft hat, um einen Pluspunkt zu erringen. Dort wurde Jacob zu einem Kyborg umgestaltet: Frankensteins Ungeheuer sozusagen.

Die Versuchung, sich zu einem mächtigen Monster aufzuschwingen, das selbst stählerne Engel besiegt, ist sehr groß: Jacob bräuchte sich nur jenes geheimnisvolle Artefakt einzuverleiben, hinter dem der Engel her ist, und wäre dann nahezu allmächtig. Sein Maschinenkörper sehnt das Artefakt als neues „Herz“ herbei. Doch würde die Vereinigung aus diesem Ödipus mehr einen Gott oder einen Teufel machen?

Man sieht also, dass sich hinter der Action und dem schwarzen Humor noch mehr verbirgt als nur gute Unterhaltung, die mit Steampunk-Versatzstücken garniert ist. Der Roman hat auch etwas zu sagen, und deshalb lohnt sich auch eine zweite Lektüre. Für die vielen Druck- und Stilfehler ziehe ich einen Punkt ab.

Taschenbuch: 352 Seiten
Originaltitel: Heart of Veridon
ISBN-13: 978-3404206667
www.luebbe.de

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