James Tiptree jr. – Beam uns nachhaus

Mission durch Fission: Die Welt wird bekehrt

Dieser zweite deutsche Tiptree-Band versammelt die ersten Geschichten der Autorin, die sie veröffentlichte und die in der SF-Gemeinde zwischen 1968 und 1971 für Furore sorgten. Zusammen mit dem Band „10.000 Lichtjahre von zuhaus“ (|Heyne| SF-Band 3462) erschienen die Geschichten unter dem Titel „10.000 Lichtjahre von zuhaus“ später in der SF-Bibliothek des |Heyne|-Verlags.

Die Autorin

Alice Hastings Bradley Sheldon alias James Tiptree jr. alias Raccoona Sheldon wurde 1915 in Chicago geboren. Ihre Mutter war eine Reiseschriftstellerin, ihr Vater Anwalt. Sie lebte in ihrer Jugend in Afrika und Indien, aber anscheinend war sie lange Jahre für die Regierung, die CIA (bis 1955) und das Pentagon tätig. Im Jahr 1967 machte sie ihren Doktor in Psychologie. Obwohl sie bereits 1946 ihre erste Story veröffentlicht hatte, machte sie die Schriftstellerei erst 1967 zu ihrem Hobby, und nach ihrer Pensionierung schrieb sie weiter bis zu ihrem Tod 1987. Sie beging Selbstmord, nachdem sie ihren todkranken Gatten erschossen hatte.

Obwohl sie einige Romane schrieb, wird man sich an sie immer wegen ihrer vielen außergewöhnlichen Erzählungen erinnern. Ihre besten frühen Storys sind im |Heyne|-Verlag unter dem Titel „10.000 Lichtjahre von zuhaus“ (1973) und [„Warme Welten und andere“ 3638 (1975) erschienen. Unvergesslich ist mir zum Beispiel die Story „Liebe ist der Plan, der Plan ist Tod“, die den |Nebula Award| 1973 errang. Weitere Geschichten sind in „Sternenlieder eines alten Primaten“, „Aus dem Überall“ und schließlich „Die Sternenkrone“ gesammelt. Ihr Roman „Die Feuerschneise“ (Up the walls of the world, 1978, dt. bei |Heyne|) erhielt ebenfalls hohes Lob.

Erzählungen

_1) Beam uns nachhaus_ (Beam us home, 1969)

Lange Zeit wissen die Menschen in Hobies Umgebung nicht, was es mit dem Jungen auf sich hat. Er ist zwar gut in Mathe, Anthropologie und Statistik, aber irgendwie scheint er doch nicht ganz bei der Sache zu sein. Da er Raketen gesammelt und eine Fernglaslinse poliert hat, überrascht es seine Eltern zwar, als er sich zur Luftwaffe meldet, doch sie können es sich wenigstens erklären: Er will Astronaut werden!

Leider wird das Raumfahrtprogramm der Vereinigten Staaten just zu dieser Zeit auf Eis gelegt, denn die Gelder werden für ein paar außenpolitische Krisen benötigt, die sich gerade ergeben. Als entscheidend erweist sich der Krieg gegen die Rebellen in Venezuela. Als die Luftwaffe auch Hobie dort stationiert, darf er wenigstens Fernaufklärung fliegen und muss sich nicht am Kampf beteiligen. So halten sich seine Kopfschmerzen in Grenzen, die er immer bekommt, sobald er zu nahe an die hässliche Wirklichkeit herankommt.

Doch auch ihn erwischt die GG, die Guairas-Grippe, die durch bakteriologische Kampfstoffe ausgelöst wurde. Als die Soldaten einen der Rebellen gefangen nehmen und dieser bei der Landung von Hobies Helikopter bei einem Fluchtversuch erschossen wird, erleidet Hobie einen Nervenzusammenbruch. Gegenüber dem behandelnden Arzt im Lazarett rückt er endlich mit der Sprache heraus. Er habe immer gedacht, er sei von Kirk, Spock und McCoy auf diesen Scheißplaneten abkommandiert worden, um zu kundschaften, aber nie um zu kämpfen. Doch dann hat sich herausgestellt, dass es das Raumschiff Enterprise gar nicht gibt.

Halb im Delirium des Grippefiebers entführt Hobie einen der Bomber und fliegt damit zu den Sternen. „Beam uns nachhaus, Scotty!“ Doch dann verliert er das Bewusstsein, gerade als ihm der Treibstoff ausgeht. Er erwacht an Bord eines Raumschiffes, aber es ist nicht die „Enterprise“ …

|Mein Eindruck|

Streckenweise liest sich die Story wie ein Bericht über die Gräuel des Vietnamkrieges, der ja damals – im Jahr 1969 erschien die Erzählung gedruckt – in Südostasien tobte. Dabei fängt die Autorin ganz harmlos an, so als ob sie eine gewöhnliche Heldenbiografie erzählen wolle. Lange fragen wir uns, zusammen mit den anderen Leuten in Hobies Umgebung, was mit ihm wohl nicht stimmen mag. Dabei ist es lediglich nur ein Gefühl, hier auf der Erde nur als Beobachter stationiert zu sein.

Doch die Distanziertheit, die das TV-Programm und seine Erfindungen liefern, löst sich nach und nach auf. Erste Schockmomente werden durch die Zeugenschaft bei einem Mord – das ausländische Hausmädchen von Hobies Familie wird durch Selbstschutzgruppen niedergestochen – ausgelöst. Den Gipfel der „Schocktherapie“ namens Wirklichkeit erreicht Hobies Leben dann im Krieg.

Der Schluss ist sowohl ironisch als auch versöhnlich. Denn der Weltraum erweist sich tatsächlich als bewohnt. Nur eben nicht von Kirk, Spock & Co, sondern von Aliens mit gespaltenen Nasen. Und sie gehen weitaus barmherziger mit Menschen um als deren eigene Leidensgenossen.

Dies ist die erste Geschichte Tiptrees im Doppelband „10.000 Lichtjahre von zuhaus“, die sich mit der damals aktuellen Geschichte ihres Landes befasst. Es ist typisch, dass die Kritik am Vietnamkrieg nicht die Regierung direkt in ihrer Politik aufs Korn nimmt, sondern sich des Leidens eines Soldaten bedient, um die Vorgesetzten der Unmenschlichkeit anzuklagen. Dadurch wird aus einem potenziellen Politikessay eine bewegende menschliche Tragödie. Doch die Ironie ist bei Tiptree nie fern, und so fehlt sie auch diesmal nicht, als die Science-Fiction-Klischees zunächst entlarvt und dann schließlich bestätigt werden.

_2) Die Friedfertigkeit Vivyans_ (The peacefulness of Vivyan, 1971)

Vivyan ist der Name eines jungen schönen Mannes, auf den die Mädchen fliegen, denn er spendet ihnen Freude, mit seinem Geist, mit seinem schönen Körper. Aber Vivyan ist nicht der, für den man ihn hält. Als der Reporter Keller ihn sprechen will, wird Vivyan abgeschirmt. Vivyan lebt jetzt bei den Robbenmenschen auf McCarthys Welt, einer wunderschönen Meereswelt. Hier hat die terranische Flotte vor kurzem einen Invasionsversuch unternommen – und wurde von den Robbenmenschen zurückgeschlagen.

Nicht, dass Vivyan die Robbenmenschen angeführt hätte, ganz im Gegenteil. Wie Keller von seiner Informantin erfährt, ist Vivyan nach seinen Aufenthalten auf verschiedenen Welten schließlich als Spion des terranischen Imperiums entlarvt worden. Er hatte vor Ort stets einen Kontaktmann, dem er Bericht erstattete – und wenig später waren Vivyans Gespielinnen verschwunden. Ein Mann namens Cox kam ihm auf die Schliche, indem er dem Muster, das Vivyans Leben zeichnete, folgte. Als Cox die Robbenmenschen bat, Vivyan gefangen zu nehmen, stellte sich heraus, dass dessen ursprüngliche Persönlichkeit durch Gehirnwäsche fast ausgelöscht worden und durch eine Schein-Identität ersetzt worden war.

Doch seiner wahren Identität will sich Prinz Vivyan von Atlicxo nicht mehr entsinnen, denn zu groß ist der Schmerz der Erinnerung an den Tod seiner Mutter und seines Vaters. Und so berichtet Vivyan bis heute seinen terranischen Kontakten von allem, was vor sich geht. So etwa von einem Reporter namens Keller, der vorgibt, für die „Außerplanetarischen Nachrichten“ zu berichten. Doch etwas stimmt nicht mit diesem Reporter …

|Mein Eindruck|

Man kann sich gut vorstellen, wie sich die Autorin am Strand von Mexiko oder den Bahamas räkelte, den Surfern zuschaute, sich einen Adonis herauspickte und ihm eine Geschichte zudichtete, die so abgründig ist wie die Idylle trügerisch. In diesem Surferparadies ist dieser Adonis ein falscher Fuffziger, bis ihn ein alter Mann mit Eulenaugen entlarvt, weil er tiefer blickt als auf die gefällige Oberfläche. Die Friedfertigkeit täuscht, denn Vivyan ist ein Agent von Kriegstreibern aus dem terranischen Imperium.

Doch nach seiner Entlarvung kann man einen Agenten umdrehen und ins Netz des Gegners einschleusen. Und mit diesem Kniff werden die Rebellen von McCarthy Welt auch andere verlorene, weil von Vivyan verratene Welten zurückerobern. Hoffen sie jedenfalls und sagen es dem Reporter. Doch wer weiß, ob auch dieser Reporter Keller echt ist und nicht doch wieder ein falscher Fuffziger.

Es ist eine paranoide Geschichte wie aus den fünfziger Jahren, die auch Philip K. Dick geschrieben haben könnte – allerdings ohne Surfer, schöne Girls, Robbenmenschen und aztekischen Hintergrund. Dieses Zubehör verrät alles die Handschrift von Alice Sheldon alias James Tiptree, die zeitweilig für die CIA arbeitete.

_3) Mama kommt nach Hause_ (Mamma come home / The mother ship, 1968)

Die Aliens sind gelandet und – Schreck, lass nach! – sie sehen genauso aus wie wir. Äh, nicht ganz. Ihr Mutterschiff landet auf dem Mond und entsendet ein Beiboot, das in Mexico City landet. Die versammelten Herrscher und Honoratioren von der UNO staunen nicht schlecht, als dem Raumschiff drei junge Frauen entsteigen, die etwa zwei Meter fünfzig groß sind – inklusive Raumhelm. Nachdem sie ihr Raumschiff per Fernbedienung abgeschlossen haben, gehen sie auf Erkundungstour rund um die Welt.

Unter den Geheimdiensten der Welt hält man wenig von der Begeisterung über die „Mädels von Capella“, die überall auf der Welt ausgebrochen ist. Schließlich ist es der Job der Geheimdienstler, paranoid zu sein. In einer kleinen Außenstelle der CIA nahe Washington, D.C., sitzt unser Chronist Max und bemerkt zu seinem Erstaunen eine erstaunliche Ähnlichkeit der drei Capellanerinnen mit seiner Mitarbeiterin Tillie. Allerdings ist Tillie in jungen Jahren vergewaltigt worden und reagiert seitdem auf männliche Annäherungsversuche wie die von Max allergisch. Aber, sagt sich Max, das schließt nicht aus, dass Tillie als Dolmetscherin fungiert und zum Mond fliegt.

Gesagt, getan. Die Capellanerinnen sind sehr freundlich zu Tillie, die rasend schnell deren Sprache erlernt. Auch Männer sind an Bord, so etwa einer in der Funkzentrale, der aussieht wie Leif Erikson (roter Bart, stämmig, muskulös), aber etwas mut- und kraftlos wirkt. Merkwürdig, dass die Fremden ständig von einer „Mutter“ reden, die heimkommen soll. Und sie behaupten, vor 2000 Jahren schon einmal hiergewesen zu sein. Eigentlich wollten sie ja bloß eine entsprechend alte, aber umstrittene Angabe auf ihren Sternkarten überprüfen, als sie hier landeten.

Max wertet unterdessen die Meldungen aus aller Welt aus, die über die Capellanerinnen berichtet haben. Dabei fällt ihm etwas auf: Mehrmals wurden einheimische Männer zusammengeschlagen, und jedes Mal in einem Park. Max will diese Meldungen prüfen und stellt sich als Versuchskaninchen zur Verfügung. Nachts um zwei im Park: Die zwei „Offizierinnen“ der fremden Kommandantin vergewaltigen ihn auf rücksichtsloseste Weise, und er hat es nur Tillies Eingreifen zu verdanken, dass er noch lebt.

Preisfrage: Wenn die Capellanerin hergekommen sind, um – wie einst die weißen Afrika- und Südseefahrer – männliche Sklaven zu fangen, wie wird man sie dann wieder los? Die geniale Antwort kommt natürlich für die Hunderte von männlichen terranischen Wissenschaftlern, die bereits an Bord des fremden Mutterschiffs gegangen sind, ein wenig zu spät …

|Mein Eindruck|

Erstaunlich, dass diese wunderbare Geschichte nicht in Harlan Ellisons Anthologie „Dangerous Visions“ aufgenommen wurde, denn diese Story ist mit Sicherheit eines: eine „dangerous vision“. Die Behauptung, dass dominante, großwüchsige Frauen, die Männer nicht nur überragen, sondern sie auch noch versklaven und verschleppen könnten, dürfte im Jahr 1968 zu einigen empörten Aufschreien seitens der Leserschaft geführt haben – den Chefredakteur hat’s bestimmt gefreut, denn so etwas steigert stets die Auflage.

Dabei bleibt es allerdings nicht. Ohne allzu viel über die Vertreibungsmethode zu verraten, kann ich doch andeuten, dass auch hier wieder ein sexualpsychologischer Mechanismus zum Tragen kommt. Dabei ist die Autorin in keiner Weise sexistisch. Die sexuelle Psychologie des Menschen ist ja eines der Hauptthemen der Autorin Alice Sheldon. Dass sie selbst einmal für das Pentagon und die CIA gearbeitet hat, ist ihr in der Schilderung der Arbeitsumgebung von Max und Tillie sehr zugute gekommen, denn sie wirkt sowohl glaubwürdig als auch ein wenig ironisch beleuchtet.

Die Story belässt es nicht beim paranoiden Schlagabtausch zwischen zwei Spezies. Auch auf der privaten Ebene wirkt sich die genannte Psychologie aus, aber diesmal positiv. Aus Max und Tillie wird endlich ein Paar, weil Tillie einsieht, was mit ihr los ist und was sie dagegen unternehmen kann.

_4) Hilfe!_ (Help / Pupa knows best, 1968)

Die direkte Fortsetzung von „Mama kommt nach Hause“.

Der Anfang der Invasion der Aliens ist unscheinbar. Zunächst landen blaue Echsenwesen, die sechs Meter groß sind, auf dem Mond, doch sie reagieren nicht auf Anrufe. Als sie mehrere Bomben in der Atmosphäre der Erde zünden, bekommen sie das Waffenarsenal der Erde zu spüren und ziehen Leine. Aber sie haben eine nicht gezündete Bombe zurückgelassen, deren Aufschrift sie ideal als „Stein von Rosette“ geeignet macht, um die Sprache der Wesen zu erforschen. Dieser Entschlüsselungsvorgang wird während der folgenden Ereignisse fortgesetzt und liefert am Schluss ein erstaunliches Ergebnis.

Dann taucht ein Raumschiff mit buttergelben Aliens auf, das nach Kanada dirigiert wird. Mensch, sind die süüüß! Nur ein Meter zwanzig große Kinder scheinen die Wesen von Cygnus 61 zu sein, und als sie dann auch noch so lieblich zu singen anfangen, schmelzen die Frauen- und Kinderherzen dahin. Selbstredend werden sie zu einer Weltumrundung eingeladen, und überall singen sie ihr Lied. Süß, nicht? Rätsel gibt lediglich die große ovale Kapsel vor ihrem Raumschiff auf, die sie als Großen Pupa bezeichnen – einen Märtyrer.

Das Verhalten eines jungen Außenseiters unter diesen „Siggies“ liefert den ersten verworrenen Hinweis darauf, dass die Aliens ihre Singerei ganz anders verstanden haben wollen. Doch als sie eines Tages in der Kathedrale von Sao Paulo den Altar in die Luft sprengen, ist ihre Botschaft ziemlich deutlich. Sie betrachten die Menschen als Heiden, die es zu bekehren gilt. Sogleich fangen sie mit ihrer Missionierung an. Begleitet von pausenlosen Botschaften sprengen sie eine heilige Stätte nach der anderen in die Luft. Leider kann man sie davon nicht abhalten, denn sie haben einen unsichtbaren Schutzschirm um sich ihre Einrichtungen errichtet. „Mission durch Fission“, bringt es Mrs. Peabody von der CIA-Außenstelle auf den Punkt. (Fission = Kernspaltung)

Die Spezialisten bei der CIA sehen schon den Weltuntergang voraus, als ein zweites Schiff mit Siggies auftaucht. Weil sie orangefarben sind, nennt man sie bald die Roten Siggies. Diese Burschen vertreten offenbar eine andere Richtung in der Verehrung des Großen Pupa und greifen die Gelben Siggies an. Dennoch geht die Pulverisierung von Gotteshäusern auf der ganzen Welt weiter. Was tun?

Da entsinnt sich CIA-Agent Max der blauen Echsen und ihrer Botschaft, deren Dekodierung noch im Gange ist. Er berücksichtigt die Lehren der Geschichte zur Ausbreitung von Religionen sowie die Infos des Dekodierers auf dem Mond und was bekommt er? Einen Notfallplan. Daumen drücken!

|Mein Eindruck|

Nach dem Sex vom anderen Stern nun also die Religion der Aliens. Dabei überträgt die Autorin die Phänomene des 19. Jahrhundert, die mit der Missionierung der „Heiden“, „Wilden“ und „Barbaren“ zu tun haben, einfach auf die Alien-Invasion. Das Resultat ist eine bissige Satire auf eben diesen religiösen Dünkel.

Damit nicht genug. Was passiert, wenn zwei Mächte unterschiedlicher Mächte im „unzivilisierten“ Paradies auftauchen und dort je einen Militärstützpunkt errichten wollen? Max‘ Mitarbeiter und seine Frau Tillie sind an Vietnam erinnert, wo alles ja auch mit der Kolonie der Franzosen begann, denen dann die Amis und die Nordvietnamesen folgten.

Es könnte aber auch noch einen Tick schlimmer kommen. Weiß noch jemand über den ursprünglichen Sinn des Wortes „Bikini“ Bescheid, fragt die Autorin am Schluss – eine tolle „punchline“, die direkt unter die Gürtellinie der Amis zielt. Denn das Bikini-Atoll war bekanntlich ein Testgelände für Atombomben. Und irgendwann muss es wohl auch in Besitz genommen worden sein. Wir warten also auf die nächsten Siggies und hoffen, dass sie die Erde nicht als Atomtestgelände verwenden wollen.

_5) Der Mann, der sich auf den Heimweg machte_ (The man who walked home, 1972)

Am 2. Mai 1989 ereignet sich in einem Forschungslabor nahe Salt Lake City eine Explosion, die einen mächtigen Krater hinterlässt. Bedauerlicherweise zündet die Explosion auch eine nahe gelagerte Atomrakete. Den Rest kann man sich denken: Der Atompilz wird für einen Angriff der Gegenseite gehalten, der Dritte Weltkrieg bricht aus, Ende der Zivilisation. Nicht ganz …

Die Menschen, die sich nahe dem radioaktiv verseuchten Krater einfinden, beobachten jedes Jahr an jenem Tag, der in der früheren Zeitrechnung als 2. Mai galt, eine erschreckende Erscheinung. Manche nennen es ein Ungeheuer, das in Bewegung ist, sich aber doch nicht bewegt, und außerdem eine Menge Lärm macht. Andere wiederum sehen einen Mann in einem Schutzanzug und einem roten Sauerstoffgerät auf dem Rücken, der zu gehen scheint und etwas in der Hand hält.

500 Jahre später ist die Erscheinung zu einer Touristenattraktion der Ortschaft geworden, der Krater ist eingezäunt, die Beobachter haben sich ebenso eingefunden wie mehrere Sekten, die die Erscheinung als Omen und Weissagung ansehen. Sie bezeichnen den Mann, der jährlich erscheint, als „Herr John“. Ein frisch vermähltes Paar kommt in die Stadt, um seinen Onkel zu besuchen, und liest die Broschüre, die die Stadt für Besucher hat drucken lassen …

Es war also einmal ein Mann, der hieß John Delgado und arbeitete an einem Teilchenbeschleuniger in Bonneville. Die Beschreibung stammt von seinem Bruder Carl, der sich am Tag des Weltuntergangs gerade in Kanada befand und daher nicht atomisiert wurde. Carl berichtet von den Antischwerkraft- und Zeitexperimenten, an denen John teilnahm. John reiste an jenem Tag in die Zukunft, doch als er wieder zurückwollte, passierte das „Missgeschick“. Seither befindet sich John auf dem Heimweg. Wer weiß, wann er endlich eintrifft …

|Mein Eindruck|

Dies ist eine der ungewöhnlichsten Zeitreisestorys, die ich je gelesen habe. Und eine der bewegendsten. Denn „der Mann, der nach Hause ging“, braucht dafür mehrere hundert oder gar tausend Jahre. Für jede Sekunde, die er erlebt, vergeht auf der Erde, zu der er will, ein ganzes Jahr. Wenn er für 20 Minuten Sauerstoff hat, stehen ihm 50.000 Jahre zur Verfügung. Danach ist die Luft weg. (Diese Kalkulation steht in der Geschichte, sie ist nicht von mir.) Auf der Erde hat er seine Frau und seine beiden Kinder verloren. Das Wortbruchstück, das die Zuschauer bei seinem jährlichen Erscheinen hören, ist nicht etwa „Gerät“ oder „zu spät“, sondern „Käthe“, denn Katherine hieß seine Frau.

Der eigentliche Grund, warum die Geschichte mich so bewegt hat, ist die subjektiv-psychologische Schilderung am Anfang und Schluss des Textes, die vom realistisch-objektiven Mittelteil erklärt, aber zugleich auch kontrastiert wird. Der Gegensatz zwischen innerem Empfinden und äußerem Beobachten ist auch der zwischen der rasch vergehenden Gegenwart der Beobachter und der an die Ewigkeit grenzenden Erlebniszeit des Zeitreisenden John Delgado. Die zwei Zeitlinien werden sich hoffentlich irgendwann schneiden, doch wann das sein wird …? Daumen drücken!

_6) Wer rastet, der rostet_ (I’ll be waiting for you when the swimming pool is empty, 1972)

In ferner Zukunft macht der nette terranische Junge Cammerling seinen Uni-Abschluss und kriegt zur Belohnung von seinen netten terranischen Eltern einen neuen Weltraumflitzer geschenkt. Doch statt diesen ausgetretenen Pfad zu beschreiten, klappert er lieber abgelegenen Gegenden der Galaxis ab, und so kommt es, dass er auf Godolphus 4 landet, von dem kaum jemand gehört hat.

Seine Landestelle liegt direkt neben einem Schlachtfeld, auf dem gerade zwei Armeen von Barbaren dabei sind, sich gegenseitig nach alter godolphischer Sitte den Schädel einzuschlagen und sich auch sonst ihrer ewigen Feindschaft zu versichern. Das findet Cammerling allerdings irgendwie unangemessen und macht den netten Vorschlag, dass sich die beiden Heerführer vertragen und einander die Hand reichen.

Stattdessen wird er jedoch mit gefährlichen Geschossen angegriffen. Bevor er reagieren kann, schießen aus seinem Schiff zwei blaue Pfeile hervor und verwandeln die beiden Heerführer in Plasmapfützen. Auf Cammerlings Nachfrage erklärt ihm sein Schiff, dass seine Mutter einige Vorsichtsmaßnahmen eingebaut hat. Daraufhin lässt er die zwei Wesire kommen und Freundschaft schließen.

Da plagt ihn das Gewissen. Eigentlich sollte man sich ja nicht einmischen und nur ganz behutsam ein paar Vorschläge machen, aber die Eingeborenen sehen das etwas anders. Die Wesire halten ihn für einen Gott, schaffen ihre alten Bräuche ab, und ihre Untertanen sind froh, wenn sie die von ihm eingeschleppten Krankheiten überleben. Da erkennen die Wesire, die Not mache aus Feinden Freunde, und beschließen, den Fremden durch eine List loszuwerden. Sie sagen ihm, in den Bergen gebe es ein übles Ungeheuer, das sie alljährlich heimsuche. Mit Freuden zieht Cammerling los, um sie von dieser Plage zu befreien, denn schließlich ist er ja hier, um zu helfen, nicht wahr?

Doch dieses „Projekt“ geht anders aus, als die Wesire erwartet haben.

|Mein Eindruck|

Eine herrliche Satire auf die Auswirkungen der Entwicklungshilfe. Aus dem aufgeklärten und wohlmeinenden Friedensstifter (mit Missgeschicken) und Entwicklungshelfer wird ein Kulturwandler, der die Barbaren in aufgeklärtester, wissenschaftlich und politisch korrekter Weise in die Neuzeit führt. Das ist schön und gut, doch eines Tages landet ein nettes terranisches Mädchen und holt Cammerling – im Auftrag seiner Mutter wohlgemerkt – wieder nach Hause.

Doch es dauert nicht lange, bis die so Beglückten ihn per Funk fragen, was sie als Nächstes tun sollen. Als er ihn „vorschlägt“, sie sollen den Raketenantrieb entwickeln (Bauplan anbei) und ihre gute terranisch-godolphische Kultur exportieren, so führt dies leider zur Eroberung von mehr als 10.000 Welten. Nach Vollzugsmeldung fragen sie schon wieder: „Was sollen wir als nächstes tun?“

Auf diese Weise wird die Vorstellung, man könne irgendjemandem per Entwicklungshilfe Glück bescheren, ad absurdum geführt. Und dass es sich um eine überspitzt formulierte Satire handelt (warum sonst sollte ständig die Rede von „netten terranischen“ Personen sein?), liegt die Übertragung auf tatsächliche terranische Verhältnisse nahe. Ich musste sofort an den Vietnamkrieg denken, aber auch an das von JFK ins Lebens gerufene Friedenkorps, das, wenn ich mich nicht irre, eine Entwicklungshilfeorganisation war. Tiptrees Story nimmt beides auf die Schippe und treibt die Idee zur letzten, absurden, tödlichen Konsequenz. Wunderbar und lustvoll zu lesen!

_7) Geburt eines Handlungsreisenden_ (Birth of a salesman, 1968)

T. Benedict leitet die Kontrollstelle für den Export in Xenokulturen, kurz KEX. Heute ist hier mal wieder der Teufel los, er selbst und seine „Bürohäschen“ müssen auf Hochtouren schuften. Das optische und das auditive Telefon stehen nicht mehr still. Das terranische Imperium ist eben so groß, seine Handelsbeziehungen reichen bis zu Deneb, Altair und Fomalhaut. T. Benedicts Job ist es, Ausfuhrgenehmigungen auszustellen, allerdings nur für sichere Güter. Der Haken dabei: Auf jeder Welt, auf jeder Umladestation gelten andere Normen für das, was „sicher“ bedeutet.

Ein Tintenfisch ist für andere Sinneswahrnehmungen empfänglich als ein Mensch (männlich/weiblich), ein Denebianer wiederum für andere als ein Tintenfisch usw. Von Qualität ganz zu schweigen. Die erste Kontrolle führt die KEX mit ihren eigenen (menschlichen und außerirdischen) Wissenschaftlern im Labor durch. Dort arbeiten Jim, Splinx und Freggleglegg. Letzterer hat an den Chargen, die Mr. Marmon vorgelegt hat, fünf verschiedene Gefühlsregungen festgestellt. Offenbar hat ein Telepath in der Herstellung von Mr. Marmon die Kisten als K-Objekte benutzt und sie mit entsprechenden Emotionen aufgeladen: Hoffnung, Glück, sexuelle Erregung, schwere Depression und schließlich Heimweh. Ein Wunder, dass der arme Freggleglegg diesen Gefühlssturm überhaupt überlebt hat.

Vor Anfechtungen erotischer Natur bleibt T. Benedict ebenfalls nicht verschont. Miss Krupp von der Joanna Lovebody AG sieht aus wie eine rothaarige Gazelle in einem Silberanzug. TB bricht der Schweiß aus. Miss Krupp oder Klapp oder Krepp – TB kann sich keinerlei Namen merken – möchte ihre weltberühmten Hautcremes zur Nachbarwelt verschiffen. Nach eingehender Analyse und der Zusage, dass die Döschen in die KEX-Standardverpackung umgeladen wird, erteilt TB die Ausfuhrgenehmigung. Allerdings erlebt er damit am Ende dieses langen Tages eine böse Überraschung. Als das Licht ausgemacht wird, beginnen die Döschen, erotische Liebeslieder zu singen …

|Mein Eindruck|

Dies ist die erste Erzählung, die Tiptree veröffentlichen konnte, und es ist eine ihrer verrücktesten, unbekümmertsten obendrein. Der Text liest sich zwar wie eine Soap Opera auf Speed und besteht fast nur aus Mono- und Dialogen, doch die zahlreichen Einfälle machen die Lektüre zu einem erfrischenden Vergnügen. Man denke beispielsweise an die Star-Trek-Episode „The trouble with Tribbles“. Ungefähr so lustig geht es hier ab.

_Unterm Strich_

Der heutige Leser kann sich wohl nur andeutungsweise vorstellen, welch großen Eindruck diese subversiven, poppigen und mitunter düsteren Erzählungen auf die damalige SF-Gemeinde gemacht haben müssen. Robert Silverberg war sich ziemlich sicher – siehe sein Vorwort zu „Warme Welten und andere“ -, es mit einem männlichen Autor zu tun zu haben, der sich hinter dem Autorennamen „James Tiptree jr.“ verbarg.

Tiptree gab niemals Interviews, antwortete nicht auf Briefe und war auch telefonisch nicht zu erreichen. Aber dieser geheimnisvolle Bursche schrieb umwerfend über Wettrennen auf anderen Welten, über die Ermordung John F. Kennedys, über Sex mit und zwischen Außerirdischen und vieles weitere, was in der ausgelaugten SF-Szene der USA aufhorchen ließ.

In den USA hatte man die britische New Wave assimiliert (von Disch bis Sladek), und die ersten feministischen Stimmen erhoben sich in Gestalt von Ursula K. Le Guin und Joanna Russ. Wenig später wurde auch Tiptree wegen gewisser Storys für eine Feministin gehalten. Zu aller Verblüffung entpuppte sich Alice Sheldon als eine ältere Dame von 55 Jahren. Und sie schrieb weiter bis in die achtziger Jahre hinein.

|Aufforderung|

Es wäre an der Zeit, wie der mal eine kritische Ausgabe ihrer Erzählungen zu veranstalten, denn die alten Storys sind über mehrere Bände verteilt, die heute nur noch im modernen Antiquariat zu bekommen sind. Und deren Anordnung spiegelt die Erzählungen keineswegs in deren chronologischer Reihenfolge wider, sondern nur in den Zusammenstellungen der Originalausgaben.

Man nehme nur mal den kompletten Band [„10.000 Lichtjahre von zuhaus“. 4324 Dieser Band Nr. 65 der |Heyne| SF-Bibliothek erschien 1987, also vor exakt 20 Jahren. Inzwischen wäre den Ausführungen des damaligen Nachwortautors, des Herausgebers Gardner Dozois, doch einiges hinzuzufügen. Was ist von Tiptree übrig geblieben, was hat Bestand, was gälte es für die jetzige Genration neu zu entdecken? Mit dem vorliegenden Band wäre schon mal ein guter Anfang gemacht. Vielleicht ringt sich der |Heyne|-Verlag, der ja auch sämtliche Storys J. G. Ballards und P. K. Dicks veröffentlicht hat, auch zu einer Gesamtausgabe Tiptrees durch.

Taschenbuch: 160 Seiten
Originaltitel: Ten thousand light-years from home, 1973, 2. Teil
Aus dem US-Englischen von Gertrud Baruch
www.heyne.de