J.R.R. Tolkien – Bauer Giles von Ham (Lesung)

Seit 2005 ist eine der besten Geschichten John R. R. Tolkiens auch auf CD als Hörbuch zu haben, und das zu einem günstigen Preis und in guter Qualität.

Die Geschichte ist voll Humor, wenn nicht sogar voll Ironie, und beschreibt den Einbruch des Fantastischen in die ländliche Gesellschaft des englischen Mittelalters – bei „Bauer Giles“ in Gestalt eines Drachen. Ungewöhnlich für Fantasygeschichten: In „Farmer Giles“ findet eine Revolution von unten statt! Gewöhnlich wird in Fantasy der Zustand der Harmonie wiederhergestellt, was sie häufig so schrecklich konservativ erscheinen lässt. Nicht so bei Tolkien!

Geeignet ab 7 Jahren.

Handlung

Ein Bauer, ein Schatz und ein Drache sind die wichtigsten Zutaten zu einem vergnüglichen Abenteuer mit Tiefgang. Tatsächlich tut Tolkien in seiner „mock-heroic tale“ so, als handle es sich bei dieser Erzählung um die Wiedergabe einer Familienchronik à la 11. oder 12. Jahrhundert. Stets wird der alte, natürlich lateinische Name für irgendwelche Phänomene (wie diese Erzählung) angegeben und dann – in der „vulgären Zunge“ der englische Name: „The Rise and Wonderful Adventures of Farmer Giles, Lord of Tame, Count of Worminghall, and King of the Little Kingdom“ – was für ein pompöser und völlig lächerlicher Titel!, denkt man. Und doch macht sich Tolkien daran, sämtliche dieser nie gehörten Titel zu rechtfertigen und schließlich sogar heutige Ortsnamen in der Umgebung von Oxford/England davon abzuleiten.

Farmer Giles heißt mit richtigem, d. h. lateinischem Namen Aegidius Ahenobarbus (= Rotbart) Julius Agricola (= Bauer) de Hammo (= Ham, Weiler). „Da es so wenig Leute und so viel Zeit gab, legten sich die Leute bedeutende Namen zu, die sehr lang sein durften“, erzählt uns Tolkien. Und jedes Dorf ist stolz auf sich, ebenso wie jeder Bauer – so auch Giles.

Er hat einen treuen, wenn auch nicht sehr tapferen Hund namens Garm, der sich gerne mit Giles unterhält, welcher ihn jedoch für einen Nichtsnutz hält. Garm stößt eines Tages auf einen Riesen, der des Weges kommt und die Kuh seines Herrn tottrampelt. Von Garm alarmiert, schnappt sich Giles seine Donnerbüchse und verpasst dem Riesen eine Ladung ins Gesicht. Der Riese findet die Stiche der hiesigen Insekten ein wenig zu schmerzhaft für seinen Geschmack und kehrt nach Hause zurück in seine Berge.

Durch diese Tat wird Giles zum Helden des Landes, und sein Ruf eilt ihm voraus bis an den Hof des Königs von Middle Kingdom (damals gab es in Britannien noch viele Königreiche). Man kann sich denken, dass auch dieser König einen ellenlangen Namen sein Eigen nennt. Nennen wir ihn der Einfachheit halber Augustus (= der Erhabene). Er schickt Giles ein gesiegeltes Dokument mit seinem Lob und einem langen Schwert, das für ihn selbst, da es unmodisch ist, keine Wert hat. Giles‘ Ansehen steigt noch um etliche Grade.

Drachen sind bereits rar. Doch eines Tages taucht ein echter Drache auf und beginnt, das Königreich zu verwüsten. Sein Name ist Chrysophylax (= Goldschuppe in der „vulgären Zunge“) Dives (= der Reiche), und er speit Feuer. Garm stößt mal wieder als Erster auf die Gefahr und warnt seinen Herrn. Doch der Drache tobt noch weit entfernt, und so schickt er Garm erst einmal weg. Der verbreitet die Nachricht im gesamten Dorf. „Oh toll, aber was ist mit den Rittern des Königs?“, fragt man sich dort.

Woher nun einen Drachentöter nehmen?, fragt sich seinerseits der König – und wird von seinen Rittern schmählich im Stich gelassen: Schließlich ist Weihnachten und bald gibt’s ein wichtiges Turnier. Auch die Dörfler sind enttäuscht von den Rittern und wenden sich daher an den „Helden von Ham“.

Giles jedoch zögert lange, schließlich ist ein feuerspeiender Drache nicht sein täglicher Umgang. Da entdeckt der Pfarrer in seinen Büchern, dass Giles‘ Schwert das berühmte Schwanzbeißer (richtig: Caudimordax) ist, das berühmteste Drachentöterschwert weit und breit. Wenn das keine Verpflichtung ist!

Doch ein Drachentöter braucht auch eine Rüstung und ein Pferd. Weitere Probleme! Und als Giles endlich auf Chrysophylax trifft, fällt er glatt von seinem Ross. „Verzeihung“, fragt der Drache voll Argwohn, „aber haben Sie zufällig nach mir gesucht?“ „Aber nie im Leben“, gibt sich Giles entrüstet. „Wer hätte gedacht, dass man Sie hier treffen würde. Ich wollte nur mal ausreiten.“

Es ergibt sich, dass Schwanzbeißer den Drachen verletzt und so flugunfähig macht, dass dieser dem Schwert nur durch Rennen zu entkommen versuchen kann. Allerdings führt die Flucht des Drachen mitten ins Dorf Ham, wo er um sein Leben fleht. Die Dörfler wollen es ihm schenken, falls Chrysophylax ihnen seinen riesigen Schatz übergibt. Der hinterlistige Drache verspricht es und haut ab.

Kaum hört der König davon, fordert er bereits seinen Anteil. Doch leider hat der Drache nicht die Absicht, sich dem gnadenlosen Schwanzbeißer nochmals auszusetzen und bleibt daheim, so dass der gierige König wütend in die Röhre guckt, als er sein Lager in Ham aufschlägt und am verabredeten Übergabetermin vergeblich wartet.

Da erinnert er sich an Giles. Dieser soll die königlichen Ritter gegen den Drachen führen und diesen wegen Meineids etc. bestrafen. Die Ritter vernehmen’s mit finsterer Miene. Ein Bauer als Anführer?! So weit kommt’s noch.

Doch was kann ein Bauer schon gegen den Befehl des Königs tun? Also macht sich Giles wieder auf zum Drachen. Allerdings schließen die beiden einen Handel ab, bei dem König schon wieder in die Röhre schaut. Schließlich führt Aegidius Ahenobarbus seinen Königstitel nicht umsonst.

Mein Eindruck

Die Geschichte

„Famer Giles of Ham“ ist von einer ganz besonderen Tonart. „Farmer Giles“ tritt wie ein derber Hobbit-Bauer auf, und er redet auch so: eben vulgär. Der Drache Chrysophylax hingegen zeichnet sich durch ein Schlauheit aus, die mit Hinterlist gepaart ist, ein wahrer Materialist obendrein. Und so weiß er einen Kampf zu meiden und mit Giles einen Deal abzuschließen, der beiden das Leben rettet, ja sogar immens erleichtert.

Tolkien beschreibt sehr genau, wie sich die einzelnen Gesellschaftsteile mit der Bedrohung arrangieren, aber auch, wie sie mit dem Reichtum des Drachen umgehen. Die Dorfgenossen Giles‘ sind ebenso gierig wie der König, doch Giles ist mit dem zufrieden, was er selbst besitzt. Er bräuchte den Drachenschatz im Grunde nicht, doch er weiß dennoch etwas damit anzufangen: Er nutzt ihn zugunsten seiner Mitmenschen. Davon leitet sich in Tolkiens Augen seine moralische Legitimation als rechtmäßiger König des Little Kingdom ab.

Auch wenn sich „Bauer Giles“ vordergründig als fröhliche Drachentöterparodie liest, so versteckt sich dahinter eine harsche Kritik an egoistischen Herrschern, die für ihre Untertanen nichts übrig haben und deren Ritter (= Beamte, Minister) nichts taugen. Aber natürlich wird auch der Drache nicht unkritisch präsentiert. Er verkörpert die Versuchung materialistischen Reichtums, doch das Geld kaschiert nur seinen Hunger nach (Menschen-)Fleisch. Immerhin lässt sich sein Reichtum und seine bedrohliche Präsenz sinnvoll in Diensten eines selbstlosen Königs wie Giles einsetzen.

Der Vorleser

Hans Paetsch (1909 bis 2002) arbeitete ganze 28 Jahre lang am Hamburger Thalia-Theater als Schauspieler. (Daher wurde die vorliegende Lesugn auch vom NDR produziert.) Schon zu Lebzeiten galt Paetsch als der Märchenerzähler par excellence. Er spricht die Worte nicht einfach, sondern scheint sie zu formen und ihre Endsilben zu beschweren, so dass sie klar und deutsch das Bewusstsein der – meist sehr jungen – Zuhörer erreichen und die Fantasie entzünden.

Ich habe mich selten so gut unterhalten gefühlt wie bei dieser Lesung von Tolkiens klassischer Fantasy-Erzählung.

1 CD mit einer Gesamtlaufzeit von 59 Minuten
Gelesen von Hans Paetsch, produziert vom NDR 1984
ISBN-13: ‎978-3899406566

https://www.penguin.de/Verlag/der-Hoerverlag/70000.rhd

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