Trevanian – Shibumi. Thriller

Nummer 5 lebt – und wird gejagt

Nach dem PLO-Anschlag auf die Olympischen Spiele 1972 schicken die Israelis fünf Agenten aus, um die Attentäter des Schwarzen September zu töten. Zwei von ihnen werden getötet, zwei weitere sterben bei einem Feuerüberfall in Rom, den die CIA so inszeniert, dass der Verdacht auf japanische Revoluzzer fällt. Doch der fünfte Agent wird einfach übersehen: Die 24-jährige Amerikanerin Hannah Stern.

Sie wendet sich an Terroristenjäger Nicholai Hel, halb Deutscher, halb Russe, aber von einem japanischen General erzogen und zu einem Kämpfer ausgebildet. Der Mann, der bei der CIA das Sagen hat, Mr. Diamond, bläst zur Jagd auf Hannah Stern. Und er hat noch eine Rechnung mit Mr. Hel zu begleichen. Die Spur führt ins Baskenland …



Der Autor

„Trevanian“ war das Pseudonym von Rodney Whitaker, der am 12.6.1931 (nach Angaben des „Who’s Who“ aber am 12.1.1925) in Granville, New York, geboren wurde und am 14.12.2005 in Großbritannien starb. Er veröffentlichte auch unter den Namen Nicholas Seare und Beñat Le Cagot (einer Figur aus „Shibumi“). Sein Kriminalroman „The Main“ sollte ursprünglich unter dem Namen Jean-Paul Morin erscheinen. Den Verdacht, er sei „Robert Ludlum“ wies er jedoch von sich.

Er errang seinen Doktorgrad in Kommunikations- und Filmwissenschaft, arbeitete an Unis in Nebraska und Texas, kämpfte im Korea-Krieg und erhielt ein Fulbright-Stipedium für ein Studium in England. Whitaker lebte viele Jahre im Baskenland und schrieb mehrere Erzählungen über die Basken und ihren Charakter. Er war mit Diane Brandon verheiratet und hatte vier Kinder: die Söhne Lance und Christian sowie die Töchter Alexandra und Tomasin.

Kritiker vergleichen Whitaker mit Autoren wie Balzac, Simenon, Somerset Maugham and J.D.Salinger. „The Eiger Sanction“, verfilmt 1975 mit Client Eastwood, ist eine Agententhriller-Parodie, doch manche Kritiker kapierten nicht, worin der Witz lag. Deshalb verschärfte Whitaker den Parodiecharakter in „The Loo Sanction“ über einen genialen Kunstraub. Leider kopierten Kunsträuber in Turin die beschriebene Methode. Deshalb sah sich der Autor in „Shibumi“, wie er dort in einer Fußnote anmerkt, genötigt, nichts Näheres über die Tötungskunst seines Anti-Helden Nicholai Hel zu verraten, auf dass niemand in Versuchung gerate, sie nachzumachen.

„The Main“ ist ein gewöhnlicher Kriminalroman, „Shibumi“ (1979) transzendiert die Form des Agententhriller durch Lebensphilosophie, und „The Summer of Katya“ (1983) ist ein üpsychologischer Horror-Roman. Nach 15 Jahren Abstinenz erschien 1998 mit „Incident at Twenty-Mile” ein Western, anno 2000 mit „Hot Night in the City” ein Erzählband und mit „The Crazyladies of Pearl Street“ (2006) einen Bildungsroman, der im Albany vor dem und während des 2. Weltkriegs spielt.

„1339 or So: Being an Apology for a Pedlar” (1975) and „Rude Tales and Glorious: The Account of Diverse Feats of Brawn and Bawd Performed by King Arthur and His Knights of the Table Round“ (1983) sind zwei ironische Mittelalterromane. Das Manuskript des Romans „Street of the Four Winds“ über Pariser Künstler während der Revolution von 1848 ist bis heute nur in Auszügen auf der Trevanian-Webseite veröffentlicht worden.

2005 schrieb die New York Times im Nachruf, dass Whitakers Bücher eine Auflage von mindestens fünf Mio. Exemplaren erreicht hätten und in mindestens 14 Sprachen übersetzt worden seien. Das ist ein erstaunlicher Erfolg für einen Autor, der nur selten Interviews gab (daher der Vergleich mit John D. Salinger) und in mehreren Genres schrieb.

Weitere Titel als Trevanian:

„The Eiger Sanction“ (1972, verfilmt mit Clint Eastwood)
„The Loo Sanction“ (1973)
„The Main“ (1976)
„The Summer of Katya“ (1983)
„Incident at Twenty-Mile“ (1998)
„Hot Night in the City“ (2000, Stories)
„The Crazyladies of Pearl Street“ (2006)

Als Nicholas Seare:

– „1339 or So … Being An Apology for A Pedlar“ (1975) („1339 or So …“ war in der Urform ein Bühnenstück mit dem Titel „Eve of the Bursting“)
– „Rude Tales And Glorious“ (1983)

Als Rod Whitaker:

– „The Language of Film“ (1970), und andere Fachliteratur.

Handlung

Wir wissen es aus Steven Spielbergs Film „München“. Nach dem blutigen PLO-Anschlag auf die Olympischen Spiele 1972 von München schicken die Israelis fünf Agenten aus, um die palästinensischen Attentäter des Schwarzen September zu töten. Zwei dieser Agenten werden selbst vom Gegner getötet. Doch auf dem internationalen Flughafen von Rom geraten die restlichen drei in einen Hinterhalt. Die zwei jungen Männer Avrim und Chaim sterben im Kugelhagel von japanischen RAF-Untergrundkämpfern, die die CIA über Mittelsmänner angeheuert hat. Die Mörder werden jedoch ebenfalls getötet – von der Flughafenpolizei sowie von CIA-Feldagent Darryl Starr selbst. Fünf Unschuldige sterben bei diesem Massaker.

Die ganze Aktion wird dem derzeitigen Überwacher der Geheimdienste, Mr. Diamond, zur Prüfung vorgelegt. Mr. Diamond leitet das Washingtoner Büro der Mother Company. Diese ist ein Industriekonsortium, das vor allem die Energie- und Öl-produzierenden Staaten gebildet haben, um den Vereinigten Staaten und anderen westlichen Nationen ihre Meinung aufzuzwingen. Denn nachdem die OPEC 1973 den Ölhahn zudrehte, müssen die Wessis nach ihrer Pfeife tanzen. Und weil die Ölproduzenten in Arabien die Palästinenser gegen die Israelis unterstützen, müssen Israelis sterben, egal wie.

Der gestrenge Mr. Diamond ist keineswegs amüsiert über das, was er in den Unterlagen entdeckt, die ihm CIA-Agent T. Darryl Starr gegeben hat. Er setzt seinen Computerspezialisten Llewellyn darauf an. Dieser Hacker versteht es, aus der gigantischen Datenbank des Supercomputers „Fat Boy“ die relevanten Details über die München-Fünf herauszukitzeln. Und da steht es ganz klar: Nummer 5 lebt!

Ihr Name lautet Hannah Stern, sie ist die Nichte des zuvor an Krebs gestorbenen Teamleiters Asa Stern, dessen Sohn in München ermordet wurde. Sie konnte als Einzige dem Massaker auf dem römischen Flughafen lebendig entkommen. T. Darryl Starr schiebt die Schuld hinsichtlich dieses Versehens auf seine arabischen Quellen. Aber damit lässt sich Mr Diamond nicht abspeisen. Er und seine Vorgesetzten befehlen die alsbaldige Liquidierung von Hannah Stern. Die Tickets, die Chaim und Avrim bei sich tragen, weisen den Weg ins Baskenland. „Ausgerechnet!“, stöhnt Mr. Diamond.

Nicholai Hel

Denn im Baskenland lebt kein anderer als Nicholai Alexandrowitsch Hel, ein Terroristenjäger, der sich zur Ruhe gesetzt hat. Natürlich kennt ihn Mr. Diamond gut, und zwar nicht nur durch Fat Boys Datenbanken, sondern weil Hel kurz nach dem Zweiten Weltkrieg Diamonds Bruder getötet hat. Dieser Bruder gehörte zu dem Trio von Beamten der amerikanischen Besatzungsstreitkräfte, die Nicholai Hel folterten und zusammenschlugen, bevor sie ihn ins Gefängnis warfen. Der Grund: Er hatte nach seiner Ermordung eines japanischen Kriegsgefangenen, des Generals Takashi, die Zusammenarbeit verweigert.

Was Mr. Diamond jetzt aus den Datenbanken erfährt, gibt ihm zu denken. Nicholai Hel, geboren um 1925 in Shanghai, lebte nach der Besetzung Shanghais durch Japan 1937 und dem Tod seiner Mutter in der Obhut seines Mentors, des Generals Takashi. Weil der General ein vielbeschäftigter Mann war, brachte er den geistig aufgeweckten Jungen bei seinem besten Freund auf dem Lande unter, bei Mr. Otake. Otake war ein Großmeister des Go-Spiels, und so kam es, dass Nicholai seine bereits beachtlichen Fähigkeiten in diesem Strategiespiel mit einem wirklichen Meister messen konnte.

Er verliebte sich in eine junge Verwandte Otakes, Mariko, doch Mariko starb am 6. August 1945 in Hiroshima. Eine Welt, ein Zeitalter versank, und Nicholai musste für die Amerikaner als Übersetzer und Verschlüsseler arbeiten. Bis die Russen General Takashi, seinen Ziehvater, als Kriegsverbrecher vor Gericht in Tokio stellen wollten. Diese letzte Demütigung seines Ziehvaters vereitelte Nicholai durch eine Tötung ohne Waffen – mit Takashis Einverständnis. Unter den wütenden Amerikanern und Russen befand sich auch der bedauernswerte Diamond-Bruder, der Nicholai drei Jahre Einzelhaft verpasste. Bis die CIA sich Nicholais Fähigkeiten wieder erinnerte …

Baskenland

Hannah Stern trifft in Nicholai Hels Chateau auf dem Lande ein. Dort darf sie sich erholen, wird von Hels Konkubine Hana (Hannah glaubt, sich verhört zu haben – „Konkubine“??) verköstigt, bis sie Hel ihre grausige Story vom Massaker in Rom erzählen kann. Das Ambiente, in dem sie diese Horrorstory vorträgt, könnte friedfertiger nicht sein. Hel hat es geschafft, in jahrelanger Arbeit einen japanischen Garten anzulegen.

Nicholai, der Terroristenjäger im Ruhestand, ist Hannahs Onkel Asa einen Gefallen schuldig, denn Asa rettete ihm einst in Kairo das Leben. Doch wenn er Hannah hilft, hinter der bestimmt bereits die Hintermänner des Massakers her sind, dann zieht er die Gefahr, die sie bedroht, auch auf sich. Er bringt Hannah erst einmal davon ab, sich weiter dem Terrorismus zu verschreiben: Sie solle nach Hause zurückkehren, in die amerikanische Provinzsstadt Skokie.

Doch für eine Flucht Hannahs ist es bereits zu spät. Mr. Diamond trifft ein, abgeholt von Hels Gärtner Pierre, und speist mit Hel, Hana, Hannah, Darryl Starr, einem palästinensischen Killer und Hels bestem Freund Le Cagot zu Abend. In einem Vieraugengespräch macht Mr. Diamond unmissverständlich seine Forderungen klar, die Hel zurückweist. Hannah will er nicht aufgeben. Und er ahnt, dass die Mother Company nicht nachlassen wird, sie töten zu wollen – schon aus Prinzip und natürlich, um die Palästinenser bei Laune zu halten. Und weil Mr. Diamond ebenfalls noch ein Hühnchen mit ihm zu rupfen hat, wird auch er wiederkommen.

Hel ergreift im Mittelspiel dieser Go-Partie auf Leben und Tod die Initiative, aber es ist nicht genug. Die Mother Company und Mr. Diamond schlagen mit aller Härte zu. Zeit für das Endspiel …

Mein Eindruck

Zunächst hatte ich erwartet, es mit einem ähnlichen Fernost-Thriller wie denen von Eric Lustbader zu tun zu haben, nur eben in Prototyp-Form: Trevanians Roman erschien 1979, also ein Jahr vor „The Ninja“. Diese Erwartung stellte sich als Irrtum heraus.

„Shibumi“ ist noch in weiten Teilen den althergebrachten Thrillern und Spionageromanen der Marke „Der Spion, der aus der Kälte kam“ eines John Le Carré verpflichtet. Wie sich zeigte, ist dies aber auch in Ordnung. Denn in vielerlei Hinsicht geht es in diesem Buch darum, dass diverse Phänomene ihr Ende finden und abgelöst werden. Das spiegelt sich auch in der Art, wie seit 1980 Thriller über den Fernen Osten geschrieben werden.

Das Buch ist in sechs Teile unterteilt, die den sechs Phasen eines Go-Spiels entsprechen, von der Eröffnung über Gambits und Sturmangriff bis zur endgültigen Niederlage des Verlierers. In einem der Vorsatzblätter behauptet der Autor von seiner Unterteilung des Buches, dies entspreche der SPIELFORM des Begriffs „Shibumi“. Dieser – inzwischen veraltete – japanische Begriff bezeichnet eine verborgene Wahrheit, die man nur entdecken, aber nicht vermitteln und lehren könne: eine innere Qualität der eleganten Zurückhaltung und der Wahrhaftigkeit und Handeln und Leben. Nicholai Hel strebt nach Shibumi, gespiegelt in seinem japanischen Garten.

Der Killer

Der ganze Mittelteil stellt uns, vermittelt durch Fat Boy und Mr. Diamond, den einzigartigen Charakter dieses Mannes Nicholai Hel vor. Könnte es möglich sein, dass Hel der geflüchteten Hannah Stern wirklich Schutz vor Mother Companys Schergen bietet? Kann sich ein Einzelner wirklich dem langen Arm der Energie-Multis entgegenstellen, wenn diese ganze Regierungen und deren Geheimdienste gegen ihn aufbieten können?

Es ist klar, dass Hel erstens alle unsere Sympathien hat, wenn auch nicht die von Hannah Stern. Er ist viel zu streng zu dem naiven Mädchen, das eigentlich ihr „Jüdischsein“ entdecken wollte und gerne Revolutionärin wäre. Vor so viel Naivität auf einem Haufen hat Hel einen verständlichen Abscheu. Den er aber als Mann von Shibumi-Qualitäten nicht zeigt. Als sie seine Waffen begutachtet, merkt sie nicht mal, dass sie eine Bombe mit Nervengas in der Hand hält.

Hel seufzt und erträgt die Amerikanerin mit Fassung. Seine Stärke ist es, mit bloßen Händen und primitivsten Mitteln zu töten, mit allem, was gerade zur Hand ist. Auch mit einem Trinkstrohhalm. Seinen Ziehvater erlöste er mit einem Bleistift von der Schmach durch die Gefangenschaft. Sollen wir erwarten, dass er die Mother Company und Mr. Diamond mit so etwas in die Flucht schlägt? Natürlich nicht.

Nachrichtenbomben

Nein, Mr. Hels wichtigste Waffe sind Informationen. Brisante Informationen über Regierungsaffären, sexuelle Peinlichkeiten, aber auch über den Hintergrund der Ermordung John F. Kennedys (Lee Harvey Oswald war nicht der einzige Schütze). An die richtigen Stellen der Geheimdienste gerichtet, bildet die Drohung, solche Kenntnisse in westdeutschen Nachrichtenmagazinen zu veröffentlichen, einen wirksamen Schutz vor Verfolgung. Meistens, aber nicht immer.

Hels Quelle für solche pikanten Details ist der Gnom, ein zwergenwüchsiger Privatier im Baskenland. Leider neigt sich das Leben des Gnoms seinem Ende zu, wie so viele Dinge in dieser Geschichte. Hel selbst ist ein letzter Ritter des japanischen Mittelalters. Doch er will partout kein Held sein. Das wäre nicht mit Shibumi zu vereinbaren.

Höhlenforscher

Um den Nicholai Hel der Gegenwart vollständig zu verstehen, führt uns der Autor fünfzig Seiten lang auf ein Abenteuer mit: auf die Erkundung einer unerforschten Höhle. Hel ist unterwegs mit seinem besten Freund, dem bereits erwähnten Le Cagot. Dieser baskische Poet ist ein lebenslustiger Mann vom Falstaff-Typ, ein Miles Gloriosus, der sich selbst für den Größten hält, und dem niemand deswegen böse sein kann. Außer natürlich Krämerseelen wie Mr. Diamond und Konsorten.

Obwohl Nicholai als Erster in die Tiefe steigt, ist es natürlich Le Cagot, nach dem die erste Höhlenkammer benannt wird. Ebenso die Zweite und die Dritte. Nur die schwierigen Stellen werden nach Nicholai benannt. (Die entsprechende Karte des Höhlenkomplexes findet sich im Original auf Seite 214, sodass sich der Leser jederzeit orientieren kann. Im Finale erweist sich diese Karte noch einmal als notwendig.)

Natürlich hat auch Le Cagot, der Narr und Lebemann, eine tragische Geschichte zu erzählen, doch sie tut hier nichts zur Sache. Sie illustriert als weiterer Aspekt die Bedeutung des Baskenlandes als ein Land der Widerstandskämpfer. Sie kämpfen auf beiden Seiten der Grenze gegen das System: das spanische und das französische. In Nicholais Kampf gegen das System „Mother Company“, sind sie seine idealen Verbündeten.

Beim Lesen dieses langen Höhlenkapitels habe ich mich gefragt, was das soll. So etwas hatte ich noch nie in einem Thriller gelesen. Doch die Seiten flogen vorüber, weil es erstens zahlreiche Gefahren zu bestehen gilt und weil zweitens der Charakter Nicholais deutlich zum Vorschein kommt. Und drittens war ich froh, dadurch auf Nicholais Gefangenschaft in der Höhle vorbereitet zu sein, nachdem Mr Diamond zurückgekehrt ist. Mehr soll nicht verraten werden, aber von nun an wird es ganz schön eng für Nicholai. Und ohne das vorherige Höhlenkapitel wäre die zweite Durchquerung des Höhlensystems kaum zu verstehen und nur halb so spannend. Wird Nicholai es schaffen, im Alleingang dessen Ende zu erreichen und das Tageslicht zu erreichen?

Erotik

Shibumi umfasst auch den Bereich der Sexualität – wie könnte es anders sein, wenn Shibumi eine umfassende Lebens- und Geisteshaltung ist? Schon in früher Jugend kommt Nicholai mit Erotik in Berührung, denn seine Mutter, eine Gräfin, sein Vater, ein deutscher Adeliger, und sein Ziehvater, der Geliebte seiner Mutter, enthalten sich keineswegs der Bettfreuden. Und Nicholai lernt auf den Straßen von Shanghai, was Männer und Frauen zueinander hinzieht bzw. was sich in den Bordellen abspielt.

Auf seiner Flucht vor den Amerikanern, Russen und sonstigen Geheimdiensten macht er Station in Ceylon und Madagaskar, erlernt von Prostituierten die Liebeskunst und bringt es zum vierten Grad der Sexualität. Für ihn ist Sex ein Grundbedürfnis wie Essen und Trinken, aber auch ein Spiel, das er zusammen mit seiner Konkubine verfeinert hat, bis er es stundenlang hinziehen kann. Das Spiel bietet dem Leser einige der schönsten und sinnlichsten Szenen. Auch die Amerikanerin Hannah Stern kommt in den Genuss von Nicholais Fähigkeiten, und er scheint ihr Fleisch zum Schmelzen zu bringen. Prompt verliebt sich das naive Provinzblümchen in ihn. Er seufzt: Das war bei einer westlichen Frau vorauszusehen.

Humor

Man kann solche Notlagen des Helden aber auch ironisch als eine Variante des Humors auffassen. Nicholai ist der Außenseiter aus der Kultur der Vergangenheit, der sich nun mit den Auswüchsen der Moderne herumschlagen muss, seien diese nun erotischer Natur, gewalttätiger oder technischer. Er liebt es beispielsweise, seinen alten, behäbigen, aber leider unzerstörbaren Volvo zu treten, zu schlagen oder anderweitig zu traktieren. Es dauert nicht lange, und andere machen es ihm nach. Angeblich soll es inzwischen zum Volvo-Kult gehören, dass Besitzer ihr Schwedenauto regelmäßig treten und mit Schlägen traktieren. Das ist ein Seitenhieb auf die Entstehung von Kulten und Moden.

Eine der herrlichsten Szenen ist die Fahrt von Nicholais permanent angetrunkenem Gärtner Pierre in seinem Volvo. Er fährt nachts – ohne Licht, im ersten Gang und immer in der Straßenmitte, denn Pierre ist nicht nur angetrunken, sondern auch kurzsichtig. Wunderbar, wie die anderen Fahrer in den Graben fahren oder Fußgänger über die Grenzmauern hechten! Pierre wundert sich, dass sich die anderen Verkehrsteilnehmer einer unflätigen Sprache befleißigen und obszöne Gesten machen. Was ist nur aus der Kultur geworden!

Autorenkommentare

Der Autor, vertreten durch seinen Protagonisten Hel, lässt kaum ein gutes Haar an den Amerikanern. Diese Ablehnung wird des öfteren erörtert und von Nicholai Hel präzisiert. Er hat nichts gegen das Land Amerika, nur gegen seine Krämerkultur, die Mittelmäßigkeit fördert und nur in Dollars rechnet. Er findet amerikanische Snacks toll, aber französische Restaurants in New York City lächerlich überteuert. Und über einen gewissen Andy Warhol zieht er ebenfalls her, auch wenn dessen Name nicht fällt.

Wegen der Amerikanisierung der japanischen Kultur ist Nicholai letzten Endes auch von Japan, seiner zweiten Heimat, weggegangen, und hat im Baskenland eine dritte Heimat gefunden. Die obige Liste lässt sich schier endlos verlängern, und wer irgendwelche Munition gegen den „Amerikanismus“ sucht, der findet sie hier garantiert.

Das bildet aber auch ein Problem. Denn die „Predigten“ über Phänomene wie den „Amerikanismus“ treten wiederholt auf und bilden mitunter eine ganze Seite von abfälligen Äußerungen. Sicher, sie mögen die Ansichten des Helden sein. Aber dennoch hätte der Autor sie ja auch kürzer halten können. So mancher Leser könnte sie zudem heute gar nicht mehr für politisch korrekt, geschweige denn, sie als den Tatsachen entsprechend bewerten – es sind doch immerhin schon fast 45 Jahre seit dem Erscheinen des Buches vergangen und über 70 Jahre seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs, als Nicholai mit Amis und Russen in Kontakt kommt und seine Urteile über sie bildet. Jeder Leser kann anhand dieser Kommentare aber gut seine eigenen Vorurteile gegen Amerikaner überprüfen.

Unterm Strich

Es gibt etliche Titelbilder für diesen Thriller, darunter ein Go-Spielbrett, aber auch die Kombination aus Bonsai-Baum und japanischem Samuraischwert. Beide haben eine gewisse Berechtigung, aber ein Samuraischwert ist eine Waffe, die Nicholai Hel, niemals anrühren würde. Er tötet mit Alltagsgegenständen wie Bleistiften und dergleichen: quasi mit leeren Händen. Das unterscheidet ihn erheblich von James-Bond-Typen, die einen Revolver für die Verlängerung ihres Penis‘ halten.

Mein Vergnügen beim Lesen dieses frühen Fernost-Thrillers bestand vor allem in der Schilderung von Nicholais Leben und vor allem in seinem Umgang mit den Basken. Dieses ungewöhnliche und sehr alte Völkchen am Rande Europas erscheint quasi als die alten Japaner vor 1945, die sich dem Zugriff der Amerikaner und der Moderne haben entziehen können. Leider wird ihnen sowohl von Spanien als auch Frankreich das kulturelle und wirtschaftliche Wasser abgegraben. Die Dörfer sterben aus. Aber Charaktere wie der Poet und Aufschneider Le Cagot sind ein wunderbares, an Falstaff erinnerndes Phänomen. Eine der besten Erfindungen des Autors. Le Cagot hat sein Gegengewicht in dem schweigsamen Nicholai.

Showdown

Es ist kein Zufall, dass der Showdown alle drei Faktoren zusammenbringt: Hel, Le Cagot, das Baskenland und seine Wetterphänomene. Diesen urtümlichen Wesen und Dingen stehen die Fremdlinge aus der modernen Welt gegenüber, die die Mother Company geschickt hat. Kein Wunder, dass Mr Diamond und seine Leute völlig verunsichert sind, wie kleine Kinder, die sich im tiefen Wald verirrt haben und nun vom bösen Wolf angegriffen werden.

Hier treffen Zeiten und Kulturen aufeinander – das ist der eine Sinn dieses Romans, aber der andere liegt in der Frage: Wie man heute als Individuum noch Frieden für sich finden kann. Nichloai Hel dient als Prüfstein, der unser Zeitalter der Computer und Flughäfen auf die Probe stellt. Wie sich zeigt, versagt unser Zeitalter auf der ganzen Linie, was nichts Gutes verheißt: Rundum kontrollierte Massenmenschen, die sich fernlenken lassen.

Aber auch Hel und Shibumi, soviel wird klar, sind dem langsamen Untergang geweiht. Hels japanischer Garten, das Sinnbild für Shibumi, ist ein Opfer von Diamonds Flammenwerfern geworden, aber in Hanas Erinnerung existiert er fort. Und wenn sich genügend Leute an die Bedeutung von Shibumi erinnern, dann wird vielleicht auch die Moderne eine menschenfreundlichere Zeit.

Hinweis: In der aktuellen Heyne-Ausgabe ist die Karte vom Höhlenlabyrinth, die sich im Original als so nützlich erweist, nicht abgedruckt.

Taschenbuch: 576 Seiten
Originaltitel: Shibumi (1979)
Aus dem Amerikanischen von Gisela Stege
ISBN-13: 978-3453408098

www.heyne.de

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