Seldon Truss – Frauen reden zuviel

Als in einer nur scheinbar noblen Pension ein Gast auf unnatürliche Weise stirbt, wird eine junge Frau als Sündengeiß missbraucht, bis ein findiger Polizist ein Komplott aufdeckt … – Auch dieser Krimi des Schriftstellers Seldon Truss ist es wert, der Vergessenheit entrissen zu werden: Mit viel Humor werden „Whodunit“-Klischees auf die Spitze getrieben, ohne dass dadurch Spannung und Handlungslogik leiden. Für die Fans des Genres ein Geheimtipp!

Das geschieht:

Das Schicksal treibt seltsame Scherze mit der jungen Ann Smith aus London: Zwar stammt sie aus gutem Haus, ist aber arm wie eine Kirchenmaus, denn mit einer reichen Tante hat sich die Familie schon lange verkracht. Nun muss sie eine Stelle als Dienstmädchen in der Pension der strengen Miss Melrose annehmen. Ausgerechnet dort hat sich auch Miss Blenkarne, besagte Tante, einquartiert, die von der Anwesenheit der Nichte nichts ahnt.

Die Pension ist der Wohnort zwar wohlhabender aber recht kapriziöser Zeitgenossen. Sie beklagen sich gern und intrigieren noch lieber. Derzeit ist ein seltsamer Vorfall Thema der Tischgespräche: Als der Postbote vor dem Haus den Briefkasten leeren wollte, wurde er überfallen und niedergeschlagen. Der Dieb stahl kein Geld, sondern nur die von den Hausbewohnern eingeworfenen Briefe; eine Tat, die auch bei der Polizei für Ratlosigkeit sorgt.

Wenig später unterläuft Ann offenbar ein fataler Irrtum, als sie eine Dose Lachs, die ihre Haltbarkeit längst überschritten hat, zum Verzehr freigibt. Miss Blenkarne überlebt diese Mahlzeit nicht. Miss Melrose schiebt die Verantwortung auf ihre flugs gefeuerte Angestellte, und auch die Polizei reagiert argwöhnisch. Der mögliche Erbtanten-Mord, von Ann ohnehin energisch bestritten, wäre allerdings nutzlos, denn Miss Blenkarnes Bankkonto ist leer: In den letzten Monaten hat sie ihren gesamten Wertpapierbesitz zu Geld gemacht, das nun verschwunden ist.

Wer hat die alte Dame dazu veranlasst? Wo ist das beträchtliche Vermögen geblieben? Scotland Yard schickt Chefinspektor Gidleigh in das Haus Chester Grove Nr. 36. Geduldig beginnt der erfahrene Ermittler den kriminellen Knoten zu entwirren, was zu überraschenden Ergebnissen führt …

Die Attraktion der Wiederholung

Plot, Figurenpersonal, Schauplatz, Schreibstil: Dies sind die vier Eckpfeiler des typischen Rätselkrimis. Sie stecken ein vergleichsweise überschaubares Gelände ab, in dem nichtsdestotrotz zahllose unterhaltsame Kriminalromane spielen, obwohl ihre Handlungen bereits bei geringem Betrachtungsabstand nur schwer zu differenzieren sind. Dennoch lieben die Fans diese gemütliche („cozy“) Nische, in der sie zumindest lesend dem Alltag eine Weile entfliehen können.

Nichts dagegen einzuwenden, wenn dies so unwiderstehlich offen und (dies freilich unfreiwillig) altmodisch geschieht wie in unserem Fall. Schon der Titel „Ladies Always Talk“ und erst recht seine deutsche Übersetzung würden heute politisch korrekten Widerstand provozieren. Überhaupt spielt das Geschehen in einer überholten Welt, wobei der Zeitfaktor zumindest in einem entscheidenden Detail auch vom historisch uninteressierten Leser berücksichtigt werden muss: Dass in einer Pension des beschriebenen Niveaus Luxus-Lebensmittel nicht nur aus der Konservendose stammen, sondern diese darüber hinaus verrostet und verdorben sein können, ist dem Mangel der ersten Nachkriegsjahre geschuldet, die den zeitlichen Hintergrund unserer Geschichte bilden; der II. Weltkrieg hat auch in England seine Spuren hinterlassen.

Die Pension selbst stellt die im „Whodunit“ unverzichtbare isolierte und übersichtliche Kulisse dar. Hier spielt sich der Mord statt, der das Krimi-Geschehen in Gang setzt, und hier wohnen die der Tat Verdächtigen: So fordert es das Versprechen der Fairness, das der miträtselnde Leser als gegeben voraussetzt.

Im Puppenhaus der unterdrückten Triebe

Bis sich der mit dem Fall betreute Detektiv – der zum sechsten Mal auf einen Fall angesetzte Chefinspektor Gidleigh – blicken lässt, sind beinahe 100 Buchseiten gelesen. Dem Geschick des Verfassers ist zu verdanken, dass wir ihn gar nicht vermissen. Mit der Pension am Chester Grove schuf der Verfasser einen mustergültigen, in sich selbst ruhenden „Whodunit“-Mikrokosmos, den wir uns gern gemächlich vorstellen lassen.

Das Haus selbst ist alt und mit vielen Gängen und Treppen versehen, die einem Übeltäter Auftritt und Flucht erleichtern. Zudem lebt in jedem Raum eine unterhaltsam exzentrische Figur. Truss spielt hier mit Genre-Klischees, die er gleichzeitig konserviert. Wie ‚realistisch‘ ist eine Verdächtigen-Schar, die u. a. aus einem indischen Militär-Veteranen, einer belgischen Als-ob-Gräfin, einer hysterischen Tante und einem sarkastischen Arzt besteht? Hinzu kommen eine Wirtin mit mysteriöser Vergangenheit, ein sardonischer Butler, der stets dort auftaucht, wo etwas geschieht, das er weder sehen noch hören sollte, ein grenzdebiles Hausmädchen und eine ungerührte Köchin, die ohne einen Blick auf den möglicherweise bedenklichen Zustand der Lebensmittel zu werfen („Dafür bin ich nicht da.“) blind und stur zubereitet, was ihr unter die Finger gerät.

Ann Smith passt gut in diese seltsame Gesellschaft. Auf der einen Seite ist sie die Maid in Not, die unter einen Mordverdacht gerät, der erst in letzter Sekunde von ihr genommen werden kann. Gleichzeitig beschreibt Truss einen Charakter mit Widerhaken, die den Leser in Unsicherheit wiegen: Wie unschuldig ist Miss Smith wirklich?

Kein Held, sondern nur ein objektiver Ermittler

Das fragt sich und sie auch Chefinspektor Gidleigh. Genretypisch lässt er sich dabei nicht wirklich in die Karten schauen. Er gehört zu den stillen aber deshalb nicht weniger gründlichen Ermittlern und nähert sich der Wahrheit ruhig aber unerbittlich, indem er sich auf Indizien stützt und Vorurteile oder falsche Anschuldigungen unberücksichtigt lässt: „Frauen reden zuviel“ ist auch ein Schulbeispiel für die Macht des (falschen) Verdachtes. Ebenso witzig wie in der Sache ernst demonstriert Truss uns dies am Beispiel einer gerichtlichen Leichenschau, in deren Verlauf der Leumund von Ann Smith durch an sich belanglose Aussagen Stück für Stück demontiert wird: Unterm Strich addieren sich diese Informationen zu einem widersprüchlichen Bild, das die junge Frau schlecht dastehen lässt. Die Justiz bevorzugt einfache Lösungen, und die Presse liebt den Skandal: Zwischen Ann Smith und ihrer Verurteilung steht schließlich nur noch Gidleigh.

Ihn kann man trotzdem schwerlich als Helden bezeichnen. Gidleigh ist kein Sherlock Holmes, der ebenso genial wie verschroben und damit unterhaltsam seinem Job nachgeht. Diese Charakterisierung ist für den Verfasser durchaus vorteilhaft: Die Geschichte funktioniert auch ohne Gidleigh, der wie gesagt erst involviert wird, als die Ereignisse im Haus Chester Grove Nr. 36 gründlich so verwirrt wurden, dass nur ein außergewöhnlicher Ermittler die Wahrheit noch aufdecken kann.

Wortwitz im Dienst des Geschehens

Den blassen Gidleigh gleicht Truss durch einen Schreibstil aus, der treffsicher zwischen Ernst und Humor balanciert, was sich – selten genug gelingt dies – in der deutschen Übersetzung erhalten hat: Als die Polizei einen verdächtigen Koffer sicherstellt, schaltet sich der Beamte in der Gepäckaufbewahrung sachkundig so ein: „Zu klein für eine Leiche … Oder es müsste schon ein Baby sein. Und nicht schwer genug für Silber.“ (S. 121) Eher in die heutige Zeit passt auch eine angeregte Diskussion über den Giftgehalt von Erbrochenem, die in einem gut besetzten Speiselokal stattfindet (S. 119f.).

Dass der Verfasser für seinen Mord eine schlüssige und spannende Auflösung findet und sie in ein großes Finale kleidet, ist keine Überraschung mehr, sondern rundet das günstige Urteil über dieses Buch ab und weckt den Wunsch nach einer Wiederentdeckung bzw. Neuveröffentlichung von Seldon Truss, der Krimis zu schreiben vermochte, die gerade so überzeichnet wurden, dass sie der Zeit kurzweilig widerstehen konnten.

Autor

Über das Leben von Leslie Seldon Truss ist – obwohl es beinahe ein Jahrhundert währte – nicht viel bekannt. Geboren wurde er 1892, und zunächst zog es ihn zum gerade erfundenen Film: Truss gehört zu den Gründergestalten des britischen Kinos, für das er in den 1910er und frühen 20er Jahren als Schauspieler, Drehbuchautor und Regisseur tätig war.

In den 1920er Jahren begann Truss eine zweite Karriere als Schriftsteller. Erfolg hatte er mit seinen Kriminalromanen, von denen der erste („The Stolen Millionaire“) 1929 erschien. Sieben Jahre später schuf Truss mit dem Scotland-Yard-Beamten Gidleigh eine Serienfigur, die zwischen 1936 und 1965 in 23 Romanen – klassischen „Whodunits“ – auftrat.

1969 beschloss Truss – der auch einige Bücher unter dem Pseudonym „George Selmark“ veröffentlichte – seine Schriftsteller-Laufbahn mit dem Roman „The Corpse That Got Away“. Sein Ruhestand währte lange, denn Sheldon Truss starb erst 1990 im gesegneten Alter von 98 Jahren.

Taschenbuch: 171 Seiten
Originaltitel: Ladies Always Talk (London : Hodder & Stoughton 1950)/Why Slug a Postman? (Garden City/New York : Doubleday 1950)
Übersetzung: Maria Meinert
http://www.fischerverlage.de

Der Autor vergibt: (4.0/5) Ihr vergebt: SchrecklichNa jaGeht soGutSuper (No Ratings Yet)

Schreibe einen Kommentar