Vor zehn Jahren hat Ray Lamar Coronado, ein Nest in der Wüste des US-Staates New Mexico, verlassen. Als Söldner des örtlichen Gangsterbosses Memo hatte er gutes Geld verdient, war aber in Memos Krieg gegen ein mexikanisches Kartell geraten, das sich in Coronado ausbreitete. Dabei kam Lamars Ehefrau bei einem vom Kartell fingierten Autounfall um, während Sohn Billy taub und körperbehindert überlebte. Das schlechte Gewissen trieb Lamar in die Flucht. Billy lebt seitdem bei seinem Cousin Tomás Herrera, der damals County Sheriff war.
Nun kehrt Lamar nach Coronado zurück, um wider besseres Wissen einen letzten Auftrag für Memo zu übernehmen. Er will sich mit seinem Sohn versöhnen und benötigt Geld für einen ehrlichen Neuanfang. Für Memo soll er einen Herointransport des Kartells überfallen. Als ‚Lehrling‘ stellt Memo Lamar seinen unerfahrenen Neffen Sanchez zur Seite. Der Überfall gelingt, doch Lamar muss zwei Männer des Kartells töten. Wenig später betrinkt sich Sanchez ausgerechnet in der Bar von Dario Campo, der für das Kartell arbeitet. Mit einigen Männer folgt Campo Sanchez zu dem verlassenen Haus, in dem Lamar gerade noch rechtzeitig Sanchez‘ ‚Begleiter‘ bemerkt.
Nach dem sich anschließenden Feuergefecht bleiben drei Kartell-Leute und Sanchez tot zurück, während Lamar flüchten kann. Die beiden Überfälle rufen Sheriff Edna Kelly auf den Plan. Sie erkennt die Handschrift des Kartells und ruft die Drogenvollzugsbehörde DEA zur Hilfe. Außerdem wendet sich ratsuchend an ihren Vorgänger Tom Herrera. Der gerät in einen Loyalitätskonflikt, da sich Lamar inzwischen bei ihm gemeldet hat: Der Cousin soll ihm bei seiner Flucht aus Coronado helfen.
Campo hat in dem alten Haus Lamars Gepäck durchsucht und weiß jetzt, wer dem Kartell Schwierigkeiten macht. Er vermutet Lamar auf der Farm seines Vaters und stattet dem alten Gus mit seinen Männern einen Besuch ab. Lamar nimmt die Herausforderung nicht nur an – er geht zum kompromisslosen Gegenangriff über …
Keine zweite Chance im Leben
Die Geschichte ist uns bekannt. Sie dreht sich um falsche Entscheidungen, die man getroffen hat. Nachträglich lassen sie sich nicht mehr revidieren, obwohl man es versucht. Doch die Uhr lässt sich nicht zurückdrehen. Stattdessen gerät man erst recht in den einst ausgelösten Schlamassel. Zuletzt bleibt nur, die Bösewichter zu strafen, um die Unschuldigen zu schützen. Der gescheiterte Anti-Held muss dies in der Regel mit dem Leben bezahlen.
Vor allem im US-Western-Kino ist diese Story gern verfilmt worden. Die gewaltige, gleichzeitig karge Wüsten- und Berglandschaft hilft, die Handlung ebenso dramatisch wie kammerspielartig zuzuspitzen. Nur wenige Figuren liefern sich an genannter Stelle ein Katz-und-Maus-Spiel, das stets gewaltreich endet. Wo es keine Deckung gibt, ist es unmöglich, ein Versteck zu finden. Der Konflikt muss irgendwann ausgetragen werden.
Der Western ist (beinahe) tot, doch die Wüste gibt es weiterhin. Der Gangsterfilm hat die Kulisse übernommen. Kino und Fernsehen präsentieren gern die Geschichte vom standhaften Einzelgänger, der einer vom Bösen regierten Kleinstadt die Stirn bietet und ausräumt, was vom Gesetz bisher übersehen oder gar geduldet wurde. Zwar reitet man zum Showdown nicht mehr zu Pferde ein, doch ansonsten hat wich wenig geändert. Die Sonne brennt heiß, man sieht die Schurken heranziehen, während der Anti-Held sich auf die Konfrontation vorbereitet.
Die Vergangenheit lebt weiter
Auf der anderen Seite muss sich dieser Anti-Held mit denen auseinandersetzen, die er einst im Stich gelassen und enttäuscht hat. Da er meist männlichen Geschlechtes ist, wartet eine Frau darauf, ihm Vorwürfe zu machen, obwohl sie ihn insgeheim noch liebt. Weitere Kandidaten für bittere Zwiegespräche rekrutieren sich aus dem Familien- und Freundeskreis. Oft ist der beste Kumpel aus Kindheitstagen inzwischen Polizist und damit zum Feind geworden. Daraus resultieren neue Konflikte, die der Finalauflösung zusätzliche Tragik einhauchen.
Mit „Wüste der Toten“ ist Urban Waite ein Paradebeispiel für dieses Genre gelungen. Für einen Missklang sorgt der nichtssagende Titel, aber der ist nicht auf Waites Mist gewachsen. Er nannte seinen Roman stilecht „The Carrion Birds“, was man mit „Die Aasgeier“ übersetzen kann. Die kreisen bereits über Coronado, bevor Ray Lamar heimkehrt. Aus der stolzen, einst reichen Öl-Stadt ist eine von der Rezession gebeutelte Gemeinde geworden, in der die Ölfirmen Tag für Tag weitere Arbeiter entlassen. Die Menschen haben Angst, ihr Zusammenhalt löst sich auf. Der eigene Bürgermeister behindert die Polizeiarbeit, denn schlechte Publicity könnte Coronado weiter ins Abseits treiben.
Selbst die Aasgeier geraten in Schwierigkeiten. Drogen können nur gekauft werden, wenn die Kundschaft dafür zahlen kann. Coronados Attraktivität für das mexikanische Drogenkartell besteht in der Nähe zur Grenze. Der Ort kann zumindest als Umschlagplatz genutzt werden. Drogenboss Memo kämpft um die Vorherrschaft, ohne einen offenen Krieg mit dem Kartell zu wagen: Aasgeier kämpfen nicht, sondern schlagen zu, wenn die Beute hilflos am Boden liegt. Alternativ sollte man einen Sündenbock bereithalten, den man dem Kontrahenten ausliefern kann.
Der falsche Mann am falschen Ort
Diese Rolle soll Ray Lamar übernehmen. Zunächst geht alles nach Memos Plan. Doch der ausgebrannte Loser ist nur die eine Seite des Ray Lamar. Mehrfach erinnert Autor Waite daran, dass die Lamars vor nicht allzu langer Zeit noch eigene Ölquellen besaßen und Großgrundbesitzer waren. Sie gehören zum US-Adel der alten Pionierfamilien, die ihr Land im zähen Kampf gegen die Natur und die Ureinwohner an sich rissen. Dieser Menschenschlag ist stolz und nur bis zu einem bestimmten Punkt zu biegen. Wichtiger als das Gesetz sind ungeschriebene aber strikt befolgte moralische Regeln.
Wird der erwähnte Punkt überschritten, bricht nicht das Rückgrat des Mannes, sondern seine Zurückhaltung. Memo und Campo haben dies vernachlässigt. Sie kennen nur den entschlossenen aber folgsamen Söldner Ray Lamar und glauben ihn einschätzen zu können. Doch nur die wenigen Menschen, die ihm wirklich nahestehen, können Lamar wirklich verstehen. Dazu gehört vor allem Tom Herrera, mit dem Ray wie ein Bruder aufgewachsen ist. Selbst als Sheriff hatte sich Tom für den Cousin einspannen lassen und damit seine Karriere aufs Spiel gesetzt. Zehn Jahre später ist das unsichtbare Band weiterhin vorhanden.
Blut ist dicker als Wasser. Auch in diesem Punkt hat sich Campo geirrt. Mit dem Mord an Rays Vater wollte er den Sohn blind vor Zorn auf sich einstürmen sehen. Stattdessen rächt sich Lamar eiskalt und planvoll. Er will sich nicht mehr manipulieren lassen. Das Gesetz gestattet ihm keine befriedigende Lösung. Also nimmt es Lamar nach Pionierart selbst in die Hand und ist überaus gründlich dabei.
Dass Lamar ein Verlorener ist, weiß der Leser von vornherein. Im Grunde ist sich auch Lamar der Tatsache bewusst, dass er sich etwas vormacht. Doch er will nicht mehr flüchten. Gleichzeitig geht er den Neuanfang auf bekannte Weise an, obwohl er es besser wissen müsste, ist er doch schon einmal damit gescheitert. Aber diese Einsicht ist Lamar nicht gegeben.
Der griechische Chor in New Mexico
Denen, die in Coronado zurückblieben, geht es nicht besser. Herrera klammert sich zäh an die Reste seiner Farm, die nur noch dem Namen nach besteht. Ex-Gattin Claire schleicht sich weiterhin regelmäßig in sein Bett; beide finden nicht die Kraft, diese gescheiterte Beziehung zu beenden. Der alte Gus Lamar müht sich mit über 80 Jahren weiter in einem Ölgeschäft, das zumindest in Coronado in den letzten Zügen liegt. Sheriff Kelly ist muss mit drastisch zusammengestrichenem Personal eine Stadt voller zorniger, verzweifelter Bürger kontrollieren, was über ihre Kräfte geht.
Nicht einmal Memo oder Diego Campo sind in sich selbst ruhende Kapitalverbrecher. Memo kämpft um seinen Platz in Coronado. Campo sieht sich sehr richtig als Scherge des Kartells. Sobald er nicht mehr die erwünschte Leistung erbringt, wird man ihn austauschen, was seinen Tod bedeuten würde. Also foltert und mordet er weiter, obwohl er es satt hat. Auch er findet keine Alternative.
Was schief gehen kann, geht schief in dieser Geschichte. Waite schildert es ohne Eleganz, weil es ohnehin grob entworfene Pläne mit großen Lücken sind, die in die Tat umgesetzt werden. Raffinesse ist in dieser trostlosen Welt ein Fremdwort. Sie wird durch Brutalität ersetzt. Lamar ist dem Kartell gewachsen, weil er noch gemeiner als die mexikanischen Killer ist. Zum Verhängnis wird ihm der eigene Ehrenkodex: Als ihm ein junger, noch ‚unschuldiger‘ Polizist gegenübersteht, bringt er es nicht übers Herz, ihn gnadenlos umzubringen. Wenig später schließt sich der Kreis: Seine letzte Flucht tritt Ray Lamar zu Pferde an. Wie seit jeher wird sich sein Schicksal sehr archaisch draußen in der Wüste entscheiden.
350 Seiten füllt die Handlung. Die Geschichte benötigt Tempo, und Waite hält das Gaspedal gedrückt. Abschweifungen sind selten. Meist beschränken sie sich auf kurze Rückblenden und dienen der direkten Erläuterung gegenwärtiger Taten und Worte. Emotionen werden nicht zelebriert, bleiben aber auch nicht ausgeklammert. Man spricht Gefühle nicht aus, man drückt sie durch Schweigen aus. Dass dies durchaus möglich ist, vermag Urban nur scheinbar kunstlos auszudrücken. Natürlich kommen dabei viele Klischees ins Spiel. Doch manchmal und im „Noir“-Umfeld sicher definiert sich das Klischee als Selbstverständlichkeit, der sowohl die handelnden Figuren als auch die Leser ihre Erwartung zollen.
Autor
Urban Waite wurde am 10. Dezember 1981 in Seattle, US-Staat Washington, geboren. Er wuchs hier auf und studierte vor Ort an der University of Washington Kreatives Schreiben. Später wechselte Waite an die Western Washington University und ans Emerson College. Dank einer Reihe von Stipendien konnte er an seiner schriftstellerischen Fähigkeiten feilen, bis er – ohne die sonst übliche Kette unterbezahlter Lohnjobs – als Autor veröffentlicht wurde. Waites Kurzgeschichten erschienen in zahlreichen Zeitschriften und Magazinen. Sein erster Roman („The Terror of Living“, dt. „Schreckensbleich“) erschien 2011.
Urban Waite lebt und arbeitet weiterhin in Seattle. Über sein Werk informiert er auf dieser Website.
Taschenbuch: 349 Seiten
Originaltitel: The Carrion Birds (New York : William Morrow 2013)
Übersetzung: Marie-Luise Bezzenberger
www.droemer-knaur.de
Der Autor vergibt: