Ursula K. Le Guin gilt unbestritten als eine der bedeutendsten SF-Autorinnen der Welt. Sie hat mit ihren Romanen und Erzählungen weit über den Bereich der Fantasy und der Science Fiction hinaus Beachtung und Bewunderung gefunden.
Zusammen mit Virginia Kidd, einer der verdienstvollsten literarischen Agentinnen der USA, u.a. von hochkarätigen Autoren wie Gene Wolfe und Alan Dean Foster, hat sie in diesem Band Erzählungen bekannter und (noch) unbekannter SF-Autoren zusammengetragen, die ein farbiges Spektrum moderner (1980!) amerikanischer und britischer Fantasy und SF widerspiegeln. Ein Spektrum, das beweist, wie lebendig und phantasievoll sich die SF-Szene der USA und Englands darbietet, was man über der trivialen Konfektionsware der Vielschreiber bisweilen vergisst.“ (Verlagsinfo)
Auf dem Cover behauptet der Heyne Verlag, dass es sich um AMERIKANISCHE SF-Erzählungen handle, aber das ist nicht zutreffend: Auch britische und kanadische AutorInnen habe in diese Auswahl Eingang gefunden. Das Verhältnis zwischen männlichen und weiblichen Autoren dürfte bei 50:50 liegen.
Leider gibt der Heyne-Verlag keine Daten für die einzelnen Beiträge an, aber zumindest von Tiptrees Beitrag „Sphärenmusik“ ist bekannt, dass er 1977 fertiggestellt und hier erstmals veröffentlicht wurde. Das dürfte auch für viele weitere Beiträge gelten.
Die Herausgeberinnen
In Kalifornien als Tochter eines Kulturanthropologen geboren, studierte Ursula K. Le Guin am Radcliffe College und an der Columbia University, lebt aber seit 1962 als freie Schriftstellerin in Portland, Oregon, wo sie an der Uni lehrt. 1962 erschien ihre erste Story („April in Paris“) und 1966 ihr erster Roman, „Rocannons Welt“. Die ersten Romane zeigen bereits Le Guins Verfahren, eine Geschichte über einer (mythologischen) Grundstruktur um bestimmte Metaphern herum anzulegen.
Viele ihrer Geschichten und Romane spielen in einem fiktiven Universum, dem der Ekumen (dt. „Ökumene“). Botschafter und Agenten tauchen auf, die neue Welten für die Planetenliga der Ekumen gewinnen sollen, so etwa in ihrem berühmten Roman „Die linke Hand der Dunkelheit“. In der Fantasy ragt ihr „Erdsee“-Zyklus über die Masse der Produktion turmhoch hinaus. Erst 2002 erhielt sie für ihren neuesten Erdsee-Roman den World Fantasy Award.
Wiederholt wurde Le Guin mit den wichtigsten Preisen der Science Fiction, der Fantasy, aber auch des Mainstream ausgezeichnet. „Sie gehört zu den führendeMichael Moorcockn und formenden Kräften der Science Fiction in den 70er Jahren, und sie fand [als eine der wenigen AutorInnen] auch außerhalb der Science Fiction breite Anerkennung.“ (Reclams Science Fiction Lexikon, 1982) So erhielt sie beispielsweise den National Book Award der USA.
Virginia Kidd ist eine sehr rührige Agentin und Herausgeberin, die sich besonders für weibliche Autoren engagiert.
In der Einleitung, die als Interview gestaltet ist, erzählen die beiden Herausgeberinnen, wie das Projekt entstand und die Beiträge ausgewählt wurden.
Die Erzählungen
1) John Crowley: Der Grund für den Besuch (The Reason for the Visit)
Der Ich-Erzähler empfängt in seiner New Yorker Wohnung immer wieder Schriftsteller anderer zeiten, als würden sie von etwas angezogen. Die meisten sind imaginär, manche real: Dr. Samuel Johnson etwa oder Max Beerbohm. Diesmal ist eine zerbrechlich wirkende Autorin gekommen, die ungewöhnlich real wirkt. Sie lebt südlich von London, wo sie in einem einsam gelegenen Haus Romane und Erzählungen schreibt, aber auch mit Essays brilliert. Ihr Mann heißt Leonard, und in einem ihrer Romantitel ist die Rede von einem Leuchtturm. Es muss sich wohl um Virginia Woolf handeln. Ihre fast durchsichtigen Hände und großen Augen sind unverkennbar.
Es ist dem Gastgeber, der ihr einen Eistee anbietet, sehr peinlich, dass er kaum eines ihrer Werke gelesen hat. Deshalb ist ihre Konversation auch etwas eingeschränkt. Aber er weiß viel über ihr Leben als Autorin, und da haben sie eine gemeinsame Grundlage. Der Grund für ihren Besuch? Wie es wohl sein könnte, dort in der Zukunft. Er macht ihr einen wichtigen Unterschied deutlich: Dass sich die Geschwindigkeit, mit der Veränderungen erfolgen, sehr stark erhöht hat, verglichen mit Virginias Zeit: „Ein Kaminfeuer von 1920 oder 1820 unterscheidet sich kaum von einem im Jahr 1720, doch heute gibt es gar keine Kaminfeuer mehr.“
Mein Eindruck
Wie kann man erzählen angesichts des Wandels, der immer rascher voranschreitet? Das ist eine ganz zentrale Frage für jeden Schriftsteller, der von Vergangenem erzählen möchte: vom Denken und Fühlen der Figuren in einer Umgebung, die sie hervorgebracht und konditioniert haben muss. Der Wandel, der alles relativiert, was man erzählen will, ist natürlich das ureigene Thema der spekulativen Fiktion bzw. Science Fiction & Fantasy.
Der Autor legt den Finger in die Wunde: Wie können Leser überhaupt sogenannten „historischen“ Darstellungen trauen, wenn ihnen doch die echten historischen Figuren fremd sind, so wie Virginia Woolf es dem Ich-Erzähler, ihrem Gastgeber ist? Dass das Thema Zeitreise nie thematisiert wird, braucht nicht erwähnt zu werden. Es gibt nur ganz am Schluss einen Hinweis, wie man sich dies vorzustellen hat. Mehr sei nicht verraten. Ein optimaler Beginn für eine vielseitige Anthologie von Originalbeiträgen.
2) Jill Paton Walsh: Was bleibt? (Set Piece)
Zwei Männer werden zur gleichen Zeit geboren und wachsen in einem Land auf, das von Barbaren bedroht wird. Der Rechtschaffene bezahlt die Erschaffung eines großen, schönen Parkes für seine Zeitgenossen, doch seine Mahnungen, die Stadtmauern zu erhöhen, werden ignoriert. Der Tunichtgut treibt sich ohne Job in zwielichtigen Vierteln herum, und verpulvert sein Geld, wenn man es ihm spendiert, beim Trunk und mit Dirnen. Doch er erschafft Lieder, die sich rasch verbreiten und ins allgemeine Bewusstsein übergehen, auch als „Kultur“ bekannt.
Nach der Eroberung durch die Barbaren ist die Stadt besetzt und der Tunichtgut getötet. Der Rechtschaffene konnte entkommen und hat sich dem Krieg zugewandt. Er soll eine Expedition in die eroberte Stadt unternehmen, vielleicht ist ja noch was zu retten. Die Stadt, so entdeckt er, ist nur noch Schutt und Asche, der Park zerstört und Sand bedeckt große Flächen. Doch ein hungriges Bettlermädchen singt immer noch die alten Weisen, die einst der Tunichtgut erschuf…
Mein Eindruck
Diese Fabel befasst sich mit ihrer zentralen Farge „Was bleibt?“ auf recht vorhersehbare Weise: Der Tunichtgut geht unter, der Rechtschaffene überlebt. Aber kommt es darauf an? Der Park, den der Rechtschaffene anlegen ließ, hat nicht überdauert, wohl aber die Lieder des Tunichtguts. Vita brevis, ars longa, um es zusammenzufassen: Das Leben ist kurz, nur die Kunst überdauert.
3) Hilary Bailey: Wenn alles hochgeht: Ein Abenteuer von Una Persson, der Heldin in Raum und Zeit (Everything Blowing Up: An Adventure of Una Persson, Heroine of Time and Space)
Una Persson ist eine ungestüme Zeitreisende. Diesmal legt sie einen Zwischenstopp in einer französischen Bar ein, die den Drageurs gewidmet ist, den Zockern. Sie stellt ihr Gewehr in eine Ecke und teilt mit Johnny Weatherman einen Drink. Er ist ebenfalls ein Zeitreisender. Draußen liegt eine Stadt in Trümmern, und viele Gegenstände sind von neuartigen Bomben glasiert worden. Johnny warnt sie, wie schon viele Leute, dass die zeit für Una Persson knapp wird. Sie verspürt Schuldgefühle, doch ihr fehlt die Erinnerung, um den Grund dafür zu finden, bis auf ein kleines Fragment: jemand schiebt einen Sprengsatz in ein Loch, das in einer Mauer gebohrt wurde…
Sie fährt ans glasierte Meer, das sich am Ärmelkanal erstreckt, checkt im Cafe d’Anglais ein und erspäht zum ersten Mal einen grünen Landrover, die ihrem eigenen weißen bis aufs Haar gleicht. Sitzt da jemand neben der Fahrerin? In einem Nachkriegshotel gönnt sie sich einen kurzen Schlaf und versucht, ihre Erinnerungsbruchstück zu erweitern.
Nachdem sie mit dem Landrover den Ärmelkanal überquert hat, empfängt sie die Bevölkerung von England abweisend. Sie braucht nur die Worte „Frankreich und Deutschland“ auszusprechen, und schon wird sie hinausgeworfen. Über Umwege, begleitet von dem Phantom-Landrover, gelangt sie an die Forschungsstation. Diese wird von Antoine, einem Ex-Freund, geleitet. Er warnt sie, dass ihre Zeit knapp wird, dass ihr aber Johnny weiterhelfen könne. Kaum ist sie aus dem Fenster gestiegen, ertönen im Haus Explosionen – genau wie damals, als der Sprengsatz in der Mauer einer Kneipe in Nordirland detonierte? Welche Rolle spielte sie dabei, fragt sie sich.
In Yorkshire wird sie offenbar bereits erwartet, und die Leute erinnern sie an ein Heerlager vor der Schlacht. In einer Gewitternacht begegnet sie Johnny Weatherman auf dem Berg – und aus dem grünen Landrover steigt Unas Schwester. Sie haben einander viel zu erzählen…
Mein Eindruck
Dies ist das Multiversum des Autors Michael Moorcock. In ihren späteren Abenteuern begegnet Una Persson der Schwester von Jerry Cornelius, dem Helden eines von Moorcocks vielen Helden. Deshalb darf sich der Leser nicht wundern, wenn an einer Stelle ein gewisser Glogauer erwähnt wird, der die Hauptfigur eines Moorcock-Romans ist: „INRI oder Die Zeitmaschine“: Karl Glogauer tritt an die Stelle eines gewissen Zimmermannsohnes aus Nazareth und wird statt seiner von Römern gekreuzigt.
Una ist ein weit größeres Kaliber: Sie ist ein Archetyp, eine ewig wandernde Hohepriesterin der militärischen, aufrührerischen Gewalt, beispielsweise im Krieg der IRA in Nordirland, wo sie es mit Johnny Weatherman („The Weathermen“ nannte sich eine reale Gruppe kalifornischer Terroristen) zu tun bekommt, ihrem männlichen Gegenstück. Kein Wunder, dass die braven englischen Spießbürger sie verabscheuen. Schade nur, dass ihre Vorgeschichte nur in Andeutungen skizziert wird.
In jedem Fall ist dies eine fulminante Story, die vom Ende der 1960er oder Anfang der 1970er Jahre stammen könnte, als auch Jerry Cornelius auf der Weltbühne erschien. Handelt es sich also um Resteverwertung? Aber warum dann der Auftritt ca. 1977 (die Anthologie musste lange vor der Veröffentlichung fertiggestellt werden) als Originalerzählung?
4) Avram Davidson & Grania Davis: Die neuen Zombies (The New Zombies)
Alex lebt in Berkeley bei San Francisco und hält sich mit Stricherjobs über Wasser. Er hat eine Freundin Namens Leslie, die als Studentin von den Schecks ihrer Eltern lebt. Nun muss er jedoch entdecken, dass Leslie verschwunden ist. Ist sie an der Uni? Er wundert sich noch über die Lieferwagen, auf denen RE-VITA steht, als auch schon anhält, um ihn wie gewünscht nach Oakland zu bringen.
Eigentlich will Alex ja zu seinem älteren Freund, Kunden und Gönner Gonzalez, doch der Fahrer macht einen Umweg und hält vor einer großen alten Villa. Als er sich in dem alten Kasten umsieht, stößt er tatsächlich auf Leslie, die entführt wurde. Doch gleich darauf tauchen drei starke Kerle auf, und Alex nimmt Reißaus. Leider vergisst er dabei Leslie.
Sein Freund Gonzalez freut sich über das Wiedersehen und stellt Alex seinen chinesischen Freund Vong vor. Zusammen wollen sie Alex dabei helfen, Leslie zurückzubekommen. Doch sobald sie die alte Villa betreten und Leslie wiederfinden, verbünden sich Gonzalez und Vong mit den Wärtern und überwältigen Alex. Es gehe um ein Experiment von RE-VITA, behaupten sie, und dafür bekäme Alex 50 Dollar. Wow, eine hübsche Summe.
Doch das „Experiment“ hat schwere Nebenwirkungen. Draußen auf der Straße können sich Alex und Leslie kaum an etwas erinnern. Nur ein Satz fällt ihm noch ein, als er um Kleingeld bettelt…
Mein Eindruck
Die beiden Autoren bieten eine Erklärung für das Phänomen der obdachlosen Student*innen der Uni Berkeley, die für ihre Aufmüpfigkeit mal bekannt waren. Sie boten immerhin Nixon und Gouverneur Reagan die Stirn, um Gleichheit und Freiheit zu fordern. Diese ruhmreichen Tage sind längst vorbei, und nun sieht man die Student*innen auf der Straße um Almosen betteln.
Aber die Erklärung läuft einen tatsächlichen Raub ihrer Jugend und Kraft hinaus: RE-VITA kommt nicht ihnen zugute, sondern den Alten wie Gonzalez. Vong berichtet von seinen Studien im Schweden den 17. und 18. Jahrhunderts – er muss also sehr alt sein, geradezu unsterblich. Die Alten machen den Jungen also nicht Platz, sie errichten eine Gerontokratie. Die Jungen, die das Land eigentlich erneuern sollten, werden zu den „neuen Zombies“ degradiert. Eine bittere Anklage gegen die rechtskonservative Hälfte der weißen Gesellschaft.
5) Robert Holdstock: Stein und Erde (Earth and Stone, 1980)
Der Ethnologe John Farrel reist aus dem 21. Jahrhundert fünftausend Jahre zurück in die Jungsteinzeit. Er landet zwar etwa 400 Jahre neben der Zielzeit, aber wenigstens direkt im irischen Boyne-Tal, wo die ersten Königsgräber vier Tagesmärsche nördlich der späteren Königsstadt Tara gefunden wurden, unweit Dublins. Die menschenleere, aber tierreiche Gegend hier ist teils verlassenes Dorf, teils Friedhof, und die herumschleichenden aggressiven Wölfe jagen John wirklich Angst ein. Nur herumstreunende Hunde halten ihm die Raubtiere vom Leib – und diese wiederum gehorchen einem allein hier lebenden Jungen namens Tig.
Tig leidet unter zwei schweren Tabus, erfährt John: Er darf weder eine Frau noch die Erde berühren. Als Außenseiter freundet er sich mit dem freundlichen Fremden an, der ihm zu essen gibt. Sie leben nahe eines Gräberfelds. Aber wo ist Tigs Stamm? Farrel ist nicht bloß Ethnologe, sondern sucht auch seinen Vorgänger Burton. Auf die Frage, ob Tig diesen Mann getroffen hat, antwortet Tig erst gar nicht, dann ausweichend: Burton hat die Erde berührt. Heißt das, er sei gestorben und begraben worden? Die Sprache Tigs lässt zu Farrels Leidwesen mehrere Deutungen zu.
Aber Tig lässt sich breitschlagen, dem Fremden etwas zu zeigen, was mit Burton zu tun hat: einen weiteren Friedhof. Dieser liegt jedoch weit entfernt, jenseits eines Waldes, den Tig sehr fürchtet. Als Farrel mal kurz in der feuchten Erde scharrt, stößt er auf Blut – und gerät total in Panik. Erst ein großer Schmerz bringt ihn wieder zu sich, und er ist in der Lage, einen weiteren Bericht in seine Herkunftszeit zu schicken.
Es kommt ihm aber so vor, als habe bei der Panikattacke ein böser Geist aus dem Grab Besitz von ihm ergriffen. Doch als er zurückkehrt und die Leiche ausgräbt, muss er feststellen, dass keine Verwesung eingetreten ist – und das Herz alle vier Minuten einmal schlägt! Was für eine Art Wesen ist dies? Die Antwort entdeckt Farrel wenige Tage später, als er beobachtet, wie sich aus den Grabhügeln des ersten Friedhofs eine Leiche erhebt: ein Mann mit einem erigierten Penis, als habe er mit der Erde kopuliert. Dieses Wesen läuft sofort zum Fluss, um sich zu reinigen.
Nach und nach kehrt das ganze verschwundene Dorf aus der Erde an die Oberfläche zurück. Sie werden die Tuthanach genannt, weiß Farrel, doch wieso haben sie den Jungen Tig, der keine Frau und nicht die Erde berühren darf, als einzigen aus ihrer Mitte zurückgelassen? Nachdem sie ihn auch sexuell in ihre Mitte aufgenommen haben, wird Farrel Zeuge des Baus der Königsgräber – nein, es ist ein großer Tempel. Zu wessen Ehre? Und kein anderer als der kleine Tig leitet die Errichtung der Steine und die Arbeit der Steinmetze.
Nun bekommt Farrel wirklich Angst vor Tig, doch dieser beruhigt ihn. Es werde nicht wehtun, wenn sich Farrel endlich wie die Tuthanach in die Erde legt, um mit ihr zu schlafen. Er werde wiedergeboren – als einer der Ihren, und mit vielen neuen Einsichten. Das grausame Schicksal, das seinen Vorgänger Burton ereilte, will Farrel so komplett vergessen. Und so kommt es, dass Farrel ein Jahr später am Tempelbau teilnehmen kann. Zu Ehren seiner Herrin und Geliebten, der Erde.
Mein Eindruck
In vielen seiner phantastischen Erzählungen ist der 2009 verstorbene Autor auf die Kräfte der Erde und des Waldes eingegangen. Für ihn sind sie ebenso wie für die Menschen der Jungsteinzeit mythische, göttliche Kräfte voller Geheimnisse und Macht. Warum also nicht auch die Macht zur Erneuerung? Dass Farrel sich nicht wirklich in die Erde legt, um mit dem Boden zu kopulieren, versteht sich von selbst: Er fühlt sich aber so, als täte er es. Die Vereinigung mit Mutter Gäa ist eine Metapher, die sich in vielen vorzeitlichen Religionen findet, besonders im Kult um Kybele und Astarte. Robert Ranke-Graves hat dazu seine fabelhafte Monografie über „Die weiße Göttin“ geschrieben.
6) Michael Bishop: Das Fahrrad. Ein kurzer geschichtlicher Abriss 401 v.Chr. bis 2677 n.Chr. (A Short History of the Bicycle 401 BC to 2677 AD)
Roald Praeger, ein Xenobiologe, hat sich im 27. Jahrhundert per Materietransmitter auf eine erdähnliche Welt namens Draisienne schicken lassen, um unter den heimischen Arten Feldforschungen anzustellen. Dies ist sein Bericht, und als er ihn an die Zentrale abschickt, hat das schwere Folgen. Denn die intelligenten heimischen Arten haben alle Spielarten des Fahrrads entwickelt. Vom Tandem über Einräder bis zu Vorderrad-Tretkurblern und französischen Speedos sind alle vorhanden.
Nach einigen tiefschürfenden Gedanken über die Erfindung des Fahrrads im Jahre 401 v.Chr. durch den griechischen Söldner Polybices („bike“!) gelangt Praeger zu der Überzeugung, dass platonische Ideale überall im Universum zur Erfindung des Fahrrads und seiner Komponenten beigetragen haben können. Er schickt seine Gedanken an die Zentrale.
Eines Tages stößt ihn sein Lieblingsfahrrad, ein Tandem namens Daisy (nach seiner ehemaligen Frau), an und lädt ihn zu einer Fahrt ein. Diese führt über die Hügel der Savanne an die Küste eines Meeres. Entsetzt realisiert Praeger, was die Menschen dort machen: Sie zerlegen Fahrräder aller Arten in ihre Bestandteile und transmittieren diese an einen unbekannten Empfänger. Praegers Protest gegen diese Sklavenjagd bleibt fruchtlos. Hilflos muss er mit ansehen, wie der Planet Draisienne geplündert wird.
Die letzten schwarzen Fahrräder führen ihn auf den Berg Gottes. Dort oben hat er einen Blick auf das, was von den Draisies übrigbleibt, wenn sie ihr Ende durch Verschleiß usw. ereilt hat: Milliarden von Fahrradkadavern erstrecken sich in einem tiefen Tal unter dem Berg. Entmutigt legt er sich nieder, um ebenfalls zu verenden.
Auf den Welten der Lichtsonden-Allianz führt die Einführung der organischen Fahrräder zur Entsorgung aller mechanischen Zweiräder. Doch als sich die neuen „Sklaven“ weigern, die versprochenen Spezialfunktionen zu erfüllen, werden auch sie entsorgt. Als die Notizbücher Praegers geborgen werden, sind Fahrräder, ob organisch oder mechanisch, eine vergessene Spezies geworden.
Mein Eindruck
Die Erzählung beginnt wie die Parodie eines Forschungsberichts, für die der Autor bekannt ist (etwa „Death and Designation Among the Asadi“). Doch Praeger ergeht es wie vielen Forschern: Er verliebt sich in sein Forschungsgebiet und dessen Vertreter, besonders in die hübschen Exemplare. Das ist der Beginn der Tragödie, die seine Freunde trifft und die er vergebens zu verhindern versucht. Er hat selbst ihren Untergang herbeigeführt, indem er ihre Existenz preisgegeben hat. Nun zahlt er den Preis: Es wird sehr einsam um ihn.
Dieser Text greift auf zahlreiche literarische Quellen zurück, so etwa auf die „Anabasis“ des Xenophon, die auch als „Zug der Zehntausend“ bekannt ist. H.G. Wells und Hemingway tauchen auf, ebenso Lemuel Gulliver (von J. Swift) und viele weitere. Die Philosophie ist, wie erwähnt, platonischer Idealismus. Auch ein Herausgeber mischt sich ein, und er versucht, Praegers Verdacht, der Report könne die Sklavenhäscher angelockt haben, als Unsinn abzutun. Wir wissen es besser. Die ultimative Ironie liegt natürlich in der Pointe: „Was sind Fahrräder?“
7) Vonda McIntyre: Schatten, die wandern (Shadows, Moving)
Eine Frau wandert einsam durch die Wüste, die draußen vor dem Rand der Stadt lauert. Sie wurde, wie schon viele vor ihr, ausgegrenzt und ausgesperrt. Ihr Verbrechen? Sie wurde als zu alt und als hässlich empfunden. Sie gehört zur mittleren Generation, die von den Jungen und Ehrgeizigen ebenso missbilligt wird wie von den Alten und Besitzenden. Sie vermisst jene, die ihr Schicksal geteilt haben, allesamt kompetente Menschen, die von jetzt auf gleich entlassen wurden.
In der Nacht der Wüste kommen die Schatten und einer der Schatten gesellt sich zu ihr, um ihr ins Ohr zu flüstern. Während sie noch lebt und sich im kühlen Sand ausruht, kann sie die Stimme ihrer Vorgänger nicht hören. Das ändert sich erst, als ihr Herz zu schlagen aufhört und sich ihr Geist vom Körper löst…
Mein Eindruck
Die Geschichte lässt sich direkt im Anschluss an „Die neuen Zombies“ lesen, um eine weitere ausgebeutete und ausgegrenzte Generation zu beschreiben. Diesmal trifft es nicht die Jungen und Wehrlosen, sondern die mittleren Generation, die voll in der Produktion steht. Verlangt wird nun Schönheit. Wer sie angeblich nicht besitzt, wird buchstäblich in die Wüste geschickt. Doch wer legt fest, was Schönheit ist? „Schönheit liegt im Auge des Betrachters“, heißt es, und der Betrachter ist stets subjektiv. Von Gerechtigkeit also keine Spur.
Doch der Tod ist nicht das Ende des Geistes: Als Schatten leben die verstoßenen weiter, unter ihresgleichen. Denn sie haben natürlich Spuren und Erinnerungen hinterlassen. Und die lassen sich nicht vertreiben.
8) Laurence Josephs: Zwei Gedichte
a) Der Trompetenschwan
Die Schwäne sind verschwunden, und ihr Mörder steht am Ufer des Sees, um ihre kleineren Vettern zu füttern. Doch die wissen, dass ihm nicht zu trauen ist und werden nie seine Freunde sein können.
b) Stein, Sein, Schein (Lose, Place and Show)
Über den Sinn und Zweck von Monumenten und Denkmälern. Sie stecken voller Liebe, zu Helden und großen Gestalten, zu lieben Menschen, die gegangen. Doch was, wenn Monumente auf fremden Welten errichtet werden, und er, der Betrachter, zurückbleibt? Wird er vergessen werden?
Mein Eindruck
Der Englischlehrer Josephs ist ein Meister des veränderten Blickwinkels. Indem er diesen verschiebt, führt er den Leser zu einer besonderen Erkenntnis: Alles, was derzeit erscheint, kann sich jederzeit in sein Gegenteil verkehren. Der Wandel mag schnell durch Gewalt herbeigeführt werden oder durch eine langsame Bewegung der Verschiebung – der Wandel kommt unausweichlich und bewertet den Betrachter neu.
9) Philippa C. Maddern: Bilder Vergangenheit (The Pastseer)
Ayanti ist die Seherin ihres Stammes und sucht wegen ihres Alters einen Nachfolgers. Sie beherrscht alle drei Ebenen des Sehens in die Vergangenheit: die eigene Erinnerung, die Anrufung ihrer Vorgänger und das Abrufen von deren Erinnerungen. Dass sie Fehler der Jüngeren korrigieren kann, verleiht ihr eine Autorität, die kaum jemand sonst aufweisen kann.
Bei der Nachfolgersuche fällt ihr Blick auf den jungen, aber sehr ernsten Tulyan, der ebenfalls bereits Fehler entdecken und korrigieren kann. Aber woher nimmt er seine Fähigkeit und Ausbildung, fragt sie sich. Sie ermahnt sich, ihm eine Ausbildung angedeihen zu lassen. Doch diesen Vorsatz vergisst sie vorübergehend, weil sie vom Ältestenrat gefragt wird, wohin der Stamm weiterziehen soll. Als sie ihre Stimmen befragt, bekommt sie zunächst nichts und dann den Ablick der südlichen Wüste, von wo noch keiner zurückgekehrt ist. Das kann sie nicht empfehlen.
Sie bekommt Bedenkzeit, doch es wird immer schlimmer mit ihren Visionen: Diesmal sieht sie messerförmige Formen aus dem Himmel fallen, denenen am Boden Wesen wie Ameisen sowie Geräte entsteigen, und alle errichten große Blöcke, um darin zu wohnen. Diese Vision teilt zum Teil auch Tulyan. Er sieht jedoch Heuschrecken statt Ameisen. Solche Dinge hat noch keiner der Ahnen gesehen. Könnte es sich um eine Vision der Zukunft handeln, fragt sie sich und versetzt Tulyan mit dieser Meinung in Bestürzung.
Nun trennen sich die Wege der Seherin und ihres Stamms. Während der hungernde Stamm dem alten Pfad von Asa’an folgt, entscheidet sich Ayanati für die südliche Wüste. Ist dies das Ende ihrer Seherinnenkraft – oder der Weg in die Zukunft?
Mein Eindruck
Die Autorin ist Australierin, hat die Handlung aber scheinbar nach Afrika verlegt, wie man an den westafrikanischen Namen Ayanti und Tulyan merkt. Es ist indes ein eisiges Afrika, da das Eis auf dem See gefriert. Dennoch gibt es auch eine südliche Wüste. Das alles ist wenig realistisch, und das ist der Hauptmangel der Handlung: Ihr fehlt der Hintergrund, der sie real werden lässt. Das wäre die Aufgabe einer Novellen- oder Romanfassung.
Was tun, wenn der bisherige Kompass für die Gemeinschaft versagt? Das ist das stets aktuelle Thema der Story. Ayanti ist nur eine von vielen Frauen, die auftreten, aber die sorgt für das Wohlergehen der Gemeinschaft, indem sie sagt, wann der Stamm weiterziehen muss. Viele Völker hatten dazu, auch in Deutschland (Himmelsscheibe von Nebra, Pfeilkreis von Pömmelte), Observatorien erfunden, die sich an den bekannten Himmelserscheinungen orientierten.
Ayanti hat nur ihre Erinnerungen und die ihrer Vorfahren (ähnlich wie die Bene Gesserit), um sich zu orientieren. Das macht sie flexibler. Keiner stellt ihre Autorität infrage, das ist ist notwendig für den zweiten Schritt: Wenn die Erinnerungen nicht ausreichen, müssen Zukunftsvisionen ebenfalls gelten. Nur, dass bislang niemand an die Zeit, die VOR einem liegt, gedacht hat. Ein schweres Manko, wie sich nun zeigt. Denn das, was Ayanti „sieht“, ist nicht anderes als eine Invasion ihrer Welt.
Eine Story, die sich v.a. auf die Innenwelt einer Frau konzentriert, die aber Verantwortung für das unmittelbare Wohlergehen des Stammes übernommen hat. Zukunft ist ein neuer Begriff, und wie stets muss auch der erste Schritt in die Zukunft erst einmal gewagt werden.
10) Gary Weinberg: Hunger und der Computer (Hunger and the Computer)
Der Ich-Erzähler ist allein an Bord eines Raumschiffes. Da es nicht mal Ratten zu essen gibt, hungert er. Er fragt seinen schlauen Computer, wo es Essen und Ratten an Bord gebe, doch der verneint beide Anfragen. Kurz vorm Durchdrehen fällt dem Piloten ein, dass er ja für seinen Dienst an Bord einen fetten Scheck zu erwarten habe. Den will er nutzen, um Essen zu kaufen. Aber an Bord gebe es keinen Laden, entgegnet der Computer. Macht nichts! Er werde jetzt mit seinem Scheck als Einsatz um Essen spielen. Und wehe, der Computer spiele nicht mit. Na schön, meint der Computer. Dann kann’s ja losgehen…
Mein Eindruck
Mit Vernunft ist einem Hungernden nicht beizukommen, also verfällt er auf Irrationalität – und siehe da: Dafür ist selbst ein schlauer Computer ausgerüstet worden. Lasst die Spiele beginnen, auch wenn es kein Brot mehr gibt. Eine sehr ironische, bissige Geschichte, die sich leicht auf irdische Verhältnisse übertragen ließe.
11) Daphne Castell: Haushaltsgötter (Household Gods)
Die Aliens sind gelandet, haben die Erde mit ihren Vibrapistolen erobert und sacken nun alle Vorräte der letzten Überlebenden ein, um sie auf ihr Mutterschiff oder was auch immer zu schaffen. Die Militärregierung führt die Geschäfte der übriggebliebenen Erdbewohner, nachdem die Vibrationsbomben alles zerstört haben.
Alles? Mitnichten! Bei Mrs. Morris finden sich im Keller noch mehrere Geschirrservice, die heute Abend bei der monatlichen Party zum Einsatz kommen. Mit zwei Militärs, mehreren Nachbarinnen und ihrer Teenie-Tochter Cathy schmeißt Morris eine notgedrungen sehr frugale Party: Eine paar vertrocknete Erbsen zieren die Teller. Aber es gibt Nesseltee aus ihrer alten Teekanne, einem Erbstück von ihrer Oma.
Nachdem alle einander ihr Leid geklagt haben, landet der Helikopter eines dieser „Schneemänner“ auf dem wackeligen Dach von Mrs. Morris‘ Haus. Alle verstummen vor Angst. Als der Schneemann durch die Tür tritt, sackt er das Teeservice ein und verlangt mehr „Artefakte“. Mr. Latham dolmetscht. Und der Schneemann verlangt auch noch Mrs. Morris‘ wertvolle Teekanne! Wutentbrannt tut sie etwas Unvorstellbares: Sie wirft ihm das gute Stück direkt ins Gesicht. Der Schneemann fällt zu Boden und regt sich nicht mehr. Verblüfft merken alle, dass man den Feind ganz leicht ausschalten kann. Die Revolution beginnt…
Mein Eindruck
An vielen kleinen Details schildert die Autor, Mutter mehrerer Kinder und Mesnerin in der Kirche, das Schicksal von Überlebenden einer Invasion. Die Parallele zu jenen kolonialen Entdeckungs- und Eroberungsfahrten im 18. Jahrhundert ist unübersehbar. Welcher Kapitän verschwendete einen Gedanken daran, ob der Eingeborene, den er ausplünderte, danach noch eine Lebensgrundlage hatte? Sie mussten eben ihren „Tribut“ an die Eroberer entrichten.
12) David G. Compton: Bender, Fenugreek, Slatterman und Mupp (Bender, Fenugreek, Slatterman and Mupp)
Bender arbeitet die Nachmittagsschicht im Serum-Zentrum für soziale Anpassung (SZSA). Da er durch seine Uni-Ausbildung für den Job qualifiziert ist, führt er die regelmäßigen Qualitätskontrollen durch. Pünktlich um 16 Uhr 30 kommt Fenugreek, um ihn abzulösen. Eigentlich sollte Slatterman diese Schicht übernehmen, aber wie Fenugreek verrät, hat Slatterman einen Anfall von Irrationalität: Er versuchte, seine Sekretärin zu töten. Beim gehen öffnet Bender seine Post: Das Zentrum will ihn versetzen und gewährt ihm zur Feier einen Luxusgüter-Gutschein. Zwar muss er umziehen, aber seine Frau kommt bestimmt mit.
Heute ist Mittwoch und deshalb Zeit für Körperliche Erfüllung (KE). Dass er daran nicht gedacht hat! Er geht ins Kommunale Zentrum und sucht seine Frau. Da ist bloß sein Kollege Mupp, und den kann er auch nicht leiden. Aber eine Frau namens Gosport spricht ihn an. Da heute ja KE sei, könnten sie ja zusammen was unternehmen. Seine Frau hat ihm inzwischen geschrieben, dass sie auf den Rat ihres Arztes hin weggehen werde. Also nimmt bender Gosport mit in seine Wohnung. Sogar der programmierte Regen hat aufgehört.
Die KE mit Gosport ist durchaus erfüllend, doch sie stellt viele Fragen: Ist sie etwa nicht sozial angepasst?! Bender fasst einen Plan: Er will sich beide Hände abhacken. Wie er im Badezimmer bald feststellt, ist diese Aufgabe unmöglich zu erfüllen…
Mein Eindruck
Obwohl das Copyright des Textes wie immer auf 1980 lautet, scheint die Handlung aus der britischen Ära der sozialen Utopien zu stammen. Damals entstanden Städte wie Milton Keynes am Reißbrett, und die Sozialisten der Labour Party planten den idealen Staat, der Gerechtigkeit und Wohlstand für alle schaffen sollte (ähnlich wie in Schweden). Das Ergebnis war, man ahnt es bereits, eine soziale Katastrophe.
Männer, die ausrasten, Frauen, die misstrauisch werden – die tiefe Ironie liegt darin, dass Bender zwar regelmäßig sein Serum nimmt, das er im SZSA kontrolliert, aber dennoch völlig aus der Anpassung herausfällt. Er merkt nicht einmal, wie irrational sein Wunsch ist, sich beide Hände abzuhacken. Und wenn der Leser ein wenig darüber nachdenkt, wird klar, dass dies eine unausführbare Aufgabe ist. Perfektion kann man in dieser Gesellschaft anstreben, doch der alte Adam, die irrationalität, wird einem stets ein Bein stellen.
13) Edward Bryant: Präzession (Precession)
Unser Chronist, ein College-Professor namens Cal, sitzt in seinem Arbeitszimmer und schaut durchs Fenster dem Vorüberziehen der Wetterphänomene zu, die mit den Jahreszeiten verbunden sind. Weil ihn seine Frau Elizabeth verlassen hat, ist Cal unfähig zu jeder Initiative. Selbst seine Wahrnehmung muss beeinträchtigt sein, meint Elizabeth. Da kann er ihr nicht widersprechen.
Als sie vorbeischaut, um ihn auf ein Picknick im Park mitzunehmen – sein Arbeitstag war wie immer trostlos am Beginn des Semesters – besteht sie darauf, dass er sie Elspeth nennt. Okay, was auch immer. Doch die Sirene eines Krankenwagens deutet bereits darauf hin, dass etwas vorgefallen sein muss. Die Menschenmenge weist den Weg. Jemand sei ins Wasser gefallen, heißt es, und ein Körper wird aus dem Wasser in ein Boot gehievt. Man verfrachtet den Mann in die bereitstehende Ambulanz. Plötzlich richtet er sich wieder auf und fragt, was denn los sei. Ein Arzt hilft ihm auf.
Elspeth besteht darauf, Elise genannt zu werden. Er sehnt sich nach ihrer Wärme und lädt sie zu sich ein, denn an die Gemütlichkeit eines Picknicks ist nicht mehr zu denken. Sie versichern sie ihrer Präsenz im Bett, aber auch das ist nicht sicher…
Mein Eindruck
Die Präzession bezeichnet die Richtungsänderung, die die Rotationsachse eines rotierenden Körpers (Kreisel) ausführt, wenn eine äußere Kraft ein Drehmoment senkrecht zu dieser Achse ausübt. Dabei beschreibt die Rotationsachse einen Umlauf auf dem Mantel eines gedachten Kegels mit fester Kegelachse. Anschaulich zeigt sich die Präzession beim Tischkreisel, der trotz Schiefstellung nicht umkippt, solange er – schnell genug – rotiert.
In der Astronomie bezeichnet Präzession den langsamen Prozess, bei dem sich die beiden jährlichen Tagnundnachtgleichen allmählich nach vorne verlagern, so dass sich diese Äquinoktien immer früher ereignen. Somit ist mit Präzession die Richtungsänderung der Erdachse gemeint, wenn die Richtung des Frühlingspunktes (des Äquinoktiums im Frühjahr), in der sich der Äquator mit der Ekliptik schneidet, in der Ekliptik um rund 50″ (Bogensekunden oder -minuten) pro Jahr voranschreitet.
Die Umlaufdauer dieser Verlagerung beträgt ca. 25.800 Jahre. Die weitreichenden Konsequenzen der Präzession werden im Wikiüedia-Artikel beschrieben, so etwa die Verlagerung des Polsterns: In etwa 13.000 Jahre wird Wega im Sternbild Leier der Polstern sein.
Ähnlich wie dieses Voranschreiten und die einhergehenden Wechsel treten einzelne Phänomene in Cals Leben immer wieder auf, aber in anderer Form. Dazu gehört die ständige Änderung von Elizabeths Namen, aber auch die sich ändernden Bedingungen bei Semsterbeginn oder bei Ereignissen im Park und in der Natur. Was mag die Ursache sein, fragt sich Elizabeth. Liegt es an einer Gehirnoperation, an Medikamenten, die Cal nimmt? Odeer an den besorgniserregenden gesellschaftlichen Veränderungen, die Richtung Faschismus weisen?
Wie auch immer: Diese herausfordernde Kurzgeschichte ist eher der Phantastik zuzuordnen als Fantasy oder Science Fiction – ein echter Grenzfall.
14) Gene Wolfe: Der Prozess (Criminal Proceeding)
Zwei Tage vor Ostern wird Brodie verhaftet, was natürlich von den TV-Sendern, dem FBI und der Ortspolizei dokumentiert und begleitet wird. Von der Miranda-Verlesung seiner Rechte keine Spur. Ein halbes Jahr später beginnt die Auwahl der Schöffen, die im Herbst abgeschlossen ist. Als Austragungsort des Prozesses wird das Bronco-Stadion mit seinen 400.000 Plätzen festgelegt, und alsbald kann die TV-Nation mitverfolgen, wie die umfangreiche Infrastruktur aufgebaut wird.
Nachdem die reservierten Platzkarten vergeben worden sind, darf sich der Rest des TV-Volks um die restlichen über 300.000 Karten reißen, und es kommt zu unschönen Szenen an den Einlässen zum Stadion. Inzwischen sind auch alls Schöffen inklusive ihren Ersatzleuten ausgewählt worden, wobei sich zeigt, dass selbst ein IBM-Computer bei seiner Vorhersage irren kann, denn es gibt mehrere Überraschungskandidaten. Das wird definitiv ein spannender Prozess, darin sind sich die TV-Kommentatoren einig.
Diverse sehr hübsche Zeuginnen mit Namen wie Pflaumenblüte erhalten Gelegenheit, ihre beträchtlichen körperlichen Vorzüge zur Schau zu stellen, was die Ticketverkäufe und Zuschaltquoten durch die Decke gehen lässt. Anträge der Verteidigung, dies sei Beeinflussung, schmettert Richter Russell souverän ab. Inzwischen ist es Mai und der Angeklagte hat bereits zwei sehr interessante Selbstmordversuche hinter sich. Hunderttausende Sympathisanten wollen ihm Blut spenden.
Manche Zuschauer können sich vage an eine zeugin erinnern, die behauptete, brodie habe bei einem Fallschirmsprung ihr Hausdach durchschlagen und das Aquarium zertrümmert. Aber das ist nebensächlich, denn nun hat sich die Präsidentin eingeschaltet und drei der über 30 Anklagepunkte nachträglich mit der Todesstrafe belegt, was ihr viele Pluspunkte einbringt. Eine Bombenexplosion unter der Presse-Tribüne sowie eine Bombenexplosion bei einem von Brodies Verteidigern können den Prozess nicht stoppen. Der Angeklagte bekennt sich teilweise schuldig, hat aber inzwischen den Märtyrer-Status erlangt: Indem seine Hand in die Flamme der Wahrheit, die neben dem Richterstand brennt, getaucht und sich für unschuldig bekannt hat, ereignen sich diverse Wunder und eine halbe Million seiner Anhänger bekehrt sich zum Vegetarianismus. Der Berichterstatter ist sicher, dass der Prozess noch nicht einmal richtig angefangen hat…
Mein Eindruck
Für den Leser ist es von Anfang gewöhnungsbedürftig, dass Brodies Verbrechen – es gibt über 30 Anklagepunkte – kein einziges Mal genannt wird. Auch sonst sind die Prozessumstände bemerkenswert bis besorgniserregend: Der gewaltige Aufwand steht in keinem Verhältnis zu dem bis dato unbekannten Verbrechen Brodies. Über den Angeklagten wird so gut wie nichts bekannt, und nicht nur sein Vorname bleibt ungenannt.
Der Verdacht kommt auf, dass unverhältnismäßige Aufwand der Show und somit der Geschäftemacherei dient. Nur fünf TV-Sender sind übriggeblieben und bilden ein Quasi-Monopol. Der Leser fragt sich, ob die hier waltende Justiz überhaupt noch den alten Prinzipien verhaftet ist: „Im Zweifel für den Angeklagten“ beispielsweise. Es ist denkbar, dass Brodie irgendein Nobody ist, der per Zufall ausgewählt wurde, um an einer riesigen Show teilzunehmen. Kein Wunder, dass er zu einem Märtyrer wird und die Schar seiner Jünger immer größer wird. Die Story, die als Zeitungsbericht aufgemacht ist, entpuppt sich also als Satire. Und Satiren dienen der Warnung.
15) Jean Femling: Für wen pfeifen diese Schlangen da oben? (For Whom Are Those Serpents Whistling Overhead?)
Miranda arbeitet in der Sundown-Agentur irgendwo in Kalifornien, als ein großes Geschöpf durch ihr Bürofenster kracht und auf dem Boden vor ihrem Schreibtisch landet. Es ist eine sehr große Schimäre aus dem Oberköper eines Adlers und dem Unterkörper eines Löwen. Das realisiert sie aber erst viel später, denn der Lärm des Überfalls ruft sofort den Büroleiter Herb und die Kolleginnen auf den Plan. Das Wesen ergreift die Flucht und fliegt wieder durchs Fenster davon.
Im Handumdrehen ist Miranda in der Zeitung. Nachdem sie ein Dutzend Mal ihre Geschichte erzählt hat, will auch ihr Mann Jim genau wissen, was passiert ist, denn die Zeitung verschweigt bestimmt die Hälfte. Dann geht er zu seinem Herrenabend, um den Jungs dort alles brühwarm zu erzählen. Doch Miranda hört ein Geräusch aus der Schlucht, die hinter ihrem Haus liegt, und folgt dem Ruf. Da ist die Schimäre wieder, und sie ist vom Fensterglas an der Pfote verletzt. Sie ist wunderschön und muss versorgt werden. Sie zieht ihr den Glassplitter und füttert sie, dann singt sie ihr die alten Wiegenlieder ihr Kindheit vor.
Während der Tage, in denen sich das Geschöpf erholt und alle Welt nach ihm sucht, um es zu jagen, erinnert sich Miranda immer besser an die Tage ihrer Kindheit. Ah, damals war die Welt voller Wunder und der Himmel weit offen, erfüllt mit Fabelwesen aus ihren Kinderbüchern. Sie nimmt sich Krankenurlaub und versorgt das Geschöpf, das sie zu verstehen scheint. Tage vergehen, und es kann schließlich wieder davonfliegen. Als sich auch Jim mit seinem Freund Charley aufmacht, um es zu erlegen – was sollte Mann sonst mit einem gefährlichen Riesenvieh anstellen? – faucht Miranda ihn an, das zu lassen.
Er will sie gerade für verrückt erklären, da kracht die Schimäre wieder durch ihr Fenster, um sich eifersüchtig auf Jim zu stürzen…
Mein Eindruck
Die Realität Mirandas ist so banal, dass es schon wieder traurig ist: ein Dasein zwischen Büro und Heim, ein nützliches Mitglied der Gesellschaft. Das Fabelwesen ist ein Einbruch in diese Realität, die ihrer tiefen Erinnerung, ihrem Potential, entsprungen ist. Auf einmal findet Miranda einen neuen, unerwarteten Sinn in ihrem Leben: ein Wunder, um das sie sich kümmern kann.
Als sie dieses Wunderwesen verteidigt und anscheinend bedroht wird, scheint dies eine telepathische Botschaft an ihren Schützling zu schicken, der ihr zu ihrer Verteidigung eilt und so die alte Realität zertrümmert. Die Überschrift dieser symbolträchtigen Story über die gescheiterte Befreiung einer phantasiebegabten Frau hat scheinbar nichts mit der Handlung zu tun. Aber es ist bemerkenswert, dass die Fragerin die einzige ist, die die Schlangen „da oben“ zu bemerken scheint.
16) Michael G. Coney: Süßer Sommer, bitt’rer Winter (The Summer Sweet, the Winter Wild)
Ein Atomkrieg hat Kanada verwüstet, und ein Menschenpaar ist von Edmonton hinaus in die Wälder gezogen, um ein verlassenes Farmhaus zu beziehen. Die Karibuherde kommt aus der Tundra nach Süden gezogen, um im Süden die Zeit der Brunft und Paarung zu verbringen. Die Menschen bereiten sich auf die Jagd vor. Sie wird anders als alle Jagden zuvor verlaufen.
Basso, der Leitbulle der Herde, behält die Menschen genau im Auge, muss aber auch über die beunruhigenden Veränderungen nachdenken. Denn seit drei Generationen können immer mehr Tiere ihre Gedanken und Gefühle aussenden. Das führt zu grotesken Szenen. Ein beinahe siegreicher Wolfsrudelführer verspürt plötzlich die Schmerzen eines angegriffenen und verletzten Alt-Karibus und macht einen Rückzieher. Mit Sorge bedenkt Basso die verheerenden Folgen: Nun überleben kranke, alte und sogar verletzte Tiere, um ihre Gene weiterzugeben, statt aussortiert zu werden und den Jungen Platz zu machen.
Der Mensch, der die Karibus jagen wollte, erwischt lediglich eines, und das bringt ihn, seine Gefährtin und das neue Menschenkalb durch den Winter. Im Frühjahr herrscht wieder Hunger, denn die Dosennahrung ist längst aufgebraucht. Indem sie ihre Aufgabe aufteilen, gelingt es dem Paar, bassos ehemalige Gefährtin Goldhuf in einer Grube unweit ihres Hauses zu fangen. Das Tier leidet intensive Schmerzen, und der erste Schuss verfehlt den Kopf. Der Schmerz, den es aussendet, vervielfacht sich. Die Menschen krümmen sich. Die Menschenfrau ist jedoch Schmerz gewöhnt und trifft diesmal den Kopf. Sofort sind beide wie erlöst.
Als Basso wieder vorbeischaut, sind die Menschen auf den Ackerbau umgestiegen und ihr Kälbchen lebt trotzdem noch. Während die Menschen überleben, ist die Herde, ahnt Basso, dem Tode geweiht…
Mein Eindruck
Die Karibus werden ganz aus ihrem eigenen Blickwinkel, dem Bassos, erzählt, und das verleiht der anschaulich geschilderten Ereignissen ihren ganz eigenen Reiz. Es ist der uralte Kampf ums Überleben, doch meilenweit entfernt von Jack-London-Romantik. Auch der Hintergrund eines angedeuteten Atomkriegs verfremdet die altgewohnten Klischees vom „Ruf der Wildnis“.
Das Überleben betrifft aber nicht nur den unmittelbaren Daseinskampf, sondern auch die Fortpflanzung, also eine langfristige Entwicklung. Und auf dieser Ebene verliert die Herde paradoxerweise trotz ihrer neuen Errungenschaft. der Empathie. Diese schreckt die Beutegreifer ab, die die Gesundheit der Herde sicherstellen, indem sie die Alten und Kranken reißen. Es ist eine interessante Dialektik, die der Autor hier schon 1980 zur Beurteilung darlegt, und ein Lehrstück in Evolution.
17) Sonya Dorman: Die Wintergötter (The Gods in Winter): Fünf Gedichte
1) Vater Sonne, Mutter Mond
2) Großmutter Nordwind
3) Herdgeist, die arme Verwandte
4) Schwester Tag, Bruder Nacht
5) Die Vettern Licht und Schatten
Mein Eindruck
Die Überschriften sind selbsterklärend, daher erübrigt sich die Inhaltsbeschreibung. Das lyrische Ich schildert eine naturnahe Umgebung wie in einem Nationalpark, an einem ruhigen See, zwischen Bergen und Wald, aber im Winter (wie der Titel schon andeutet). Hier fühlt sich das lyrische Ich geborgen und umsorgt statt bedroht, die Phänomene und personalisierten Mächte (Vater Sonne usw.) stellen das lyrische Ich an seinen Platz in der Welt. Sehr schöne Gedichte, vielleicht nicht ohne Humor.
18) James Tiptree, jr.: Sphärenklänge (Slow Music, 1977)
Jakko kommt aus den nunmehr leeren Städten an die Küste. Seit der FLUSS von den Sternen, ein Energiestrom, die Menschen verführt, entmaterialisiert und ihre Körper und Geister hinfortgerissen hat, ist die Erde zwar lebendig, aber menschenleer. Er birgt ein Segelboot und lässt sich nolens volens auf seinen vorprogrammierten Kurs mitnehmen.
In einer Meerenge scheitert sein Boot, und Jakko strandet just vor einer alten Station, die wohl mal den Küstenverkehr kontrollierte. Hier lebt Pfirsichdiebin, eine dunkelhäutige junge Frau, inmitten einer improvisierten Farm. Was sie sich am meisten wünscht, sind Kinder, und so lautet eine ihrer ersten Fragen, ob er sie wohl schwängern könnte, bitteschön. Jakko ist etwas überrumpelt, der er will eigentlich zurück zu seiner Familie, die sich dem FLUSS anheimgegeben hat.
Die Pillen, die Pfirsichdieb ihm heimlich und offiziell verabreicht, steigern seinen Sexualtrieb, dass ihn die Lust überkommt – und er sich danach für den Akt schämt und entschuldigt. Obwohl sie genau dies geplant hat, muss sie einsehen, dass es so nicht geht. Er weigert sich, weitere Lustpillen zu nehmen. Indem sie einwilligt, mit ihm zum Endpunkt des FLUSSES zu reisen, hofft, ihn an sich binden zu können.
Sie bestehen gefährliche Abenteuer auf der Reise durch ein menschenleeres Land und gelangen zu einem Flughafen, wo sie ein selbstgesteuertes Luftschiff besteigen können. Sie nehmen eine alte gebrechliche Frau mit, die an Herzflimmern leidet. Ihre Argumente für und wider die Ehe, den FLUSS und die Zukunft bewegen Jakko und Pfirsichdieb, so dass entschlossen sind, nach ihrer Landung ein gemeinsames Heim für ihre Kinder zu gründen.
Doch es soll anders kommen…
Mein Eindruck
Kleine Hinweise führen den Leser zu den großen Vorbildern für diese Erzählung. Von William Blake (1757-1827) nahm sich die Autorin Alice Sheldon das einflussreiche Werk „The Marriage of Heaven and Hell“ als Inpirationsquelle, um die zwei gegensätzlichen Charaktere der Pfirsichdiebin, die anfangs ganz irdisch-körperlich-weiblich ist, und Jakko, der ganz anfangs ganz vernünftig-ausgeglichen-männlich, aber zuweilen auch sehr wütend ist, zusammenzuführen und zu der titelgebenden Vermählung zu führen.
Sie sind vor dem Finale eine Leben hervorbringende Einheit, eine Ehe, geworden, bereit, weiteres Leben hervorzubringen. Doch gerade dann, als sich Jakko von seinem bereits vergeistigten Vater getrennt hat und nun mit Pfirsichdieb zurück nach Hause reisen will, begeht sie einen verhängnisvollen Fehler. Beide geraten in den FLUSS von den Sternen und werden zu Geistern entstofflicht. Das ist die ironische Wendung und Antwort auf Pfirsichdiebs Bemühen um ein Nest: Diese Erde bietet keine Nestwärme mehr, denn es gibt keine Mitmenschen mehr. Die gibt es nur noch im FLUSS.
Die andere Inspirationsquelle war wohl der irische Dichter William Butler Yeats, der die Unabhängigkeit Irlands von der britische Kolonialmacht forderte und förderte, indem er das keltische Erbe Irlands gegen die Kulturmacht Englands setzte. Die alte Frau (in der man problemlos die Autorin selbst erkennen kann) kritisiert Yeats, lobt aber Blake. Sie spielt die Rolle des Outsiders und Kritikers, dessen Kommentar einen katalytischen Effekt auf das Paar hat.
„Slow Music“ ist eine wunderschöne, heitere Adam-und-Eva-Geschichte, nur eben nicht am Anfang der Welt, sondern an ihrem Ende. Hier stimmt Alice Sheldon ein wehmütiges Klagelied auf die letzten Menschen an, ein Lied mit einem so schönen, traurigen Schlussakkord, dass man sich ein paar Tränen verdrücken möchte.
Die Übersetzung
S. 49: „Aber der Ebene von von Salisbury…“: Dort gibt es tatsächlich eine Ebene, aber dann muss es besser „AUF der Ebene“ heißen.
S. 68: Statt „Katheder“, einem Lesepult, geht es hier um einen medizinischen „Katheter“.
S. 107: „Die Flanken und die Rückhut, ja sogar die Vorhut“: Eine sehr gewöhnungsbedürftige Wortwahl.
S. 129: „die uns bißbilligend betrachteten“: Wenn schon, dann tun sie das MISSbilligend“.
S. 160: „wollte den Mund zur O[r]dnung rufen“: Das R fehlt.
S. 193: „in jeder ander[en] Position“: Die Endung -en fehlt.
S. 212: „nach allgeme[i]nem Dafürhalten“: Das E fehlt.
S. 214: „Ella Moneypenny-Hubert“: Kein Fehler, aber einer von etlichen subtilen Hinweisen auf das Showbusiness, hier auf die „James-Bond“-Reihe.
S. 215: „eine B-17 aus dem 2. Weltkrieg, angeblich ferngesteuert von Hess De Lobel“: Ein subtiler Hinweis auf Obernazi Rudolf Hess, der mit seinem Bomber im 2. Weltkrieg nach Schottland flog.
S. 216: „Ostdeutschland, Westdeutschland“: 1980 war Deutschland noch geteilt.
S. 248: Fehler im englischen Original: „carr[y]ing her lamp along“: Das Y fehlt.
Unterm Strich
In ihren vielen Kurzgeschichten, die in „Die Kompassrose“ (Heyne-Verlag) gesammelt sind, hat Ursula K. Le Guin selbst das Korsett der Definitionen von Science Fiction und Fantasy selbst viele Male gesprengt. Viele ihrer Stories darin erstens andere Textsorten, etwa Rezensionen und Essays, oder Pastiches auf verbürgte Ereignisse wie etwa eine Südpol-Expedition, an der nur Frauen teilnehmen.
Alle ihre Geschichten regen zum Denken, Nach- und Überdenken an. Dies tun viele der hier vorliegenden Erzählungen, beispielsweise die „Geschichte des Fahrrads“, die man mit einem Schmunzeln lesen kann bzw. sollte. Es gibt aber auch zwei Gedichtzyklen, die ihren eigenen Reiz haben. Mich hat besonders die Einbeziehung englischer AutorInnen in die Auswahl begeistert: Robert Holdstock ist einer meiner Lieblingsautoren, und die Frau von Michael Moorcock macht seinem Multiversum-Hintergrund mit ihrer Una-Persson-Story alle Ehre: ein echter Knaller.
Dass viele der vertretenen Autoren weiblich sind, dürfte nicht verwundern. Die beiden Herausgeberinnen haben sich seit jeher für Frauen in SF und Fantasy eingesetzt. James Tiptree jr. Ist kein Mann, sondern das Pseudonym von Alice B. Sheldon (1915-1987). Philippa Maddern, Vonda McIntyre, Jean Femling sowie Jill Paton Walsh betonen die weibliche Sensibilität in den Handlungsverläufen und rücken Frauen – früher oder später – in den Mittelpunkt, selbst wenn es sich, wie bei Femling, um ein Mauerblümchen handelt.
Alles in allem bekommt der Leser, der sich an diese Anthologie wagt, eine Menge Ideen geboten, weibliche Blickwinkel und pardistische Neudeutungen. Wer einfach nur Lesefutter verdauen und wiederkäuen will, sollte sich woanders umsehen. Dass sich der Herausgeber Wolfgang Jeschke eine solche gewagte Anthologie in seinem SF-Programm leisten konnte, grenzt an ein Wunder, aber er hatte freie Hand bei der Auswahl – dank der Einnahmen aus den DUNE-Romanen. Er hoffte vermutlich auf die Zugkraft seiner Star-Autorin Ursula K. Le Guin, deren ERDSEE-Romane ja Bestseller waren und immer noch sind.
Taschenbuch: 268 Seiten
ISBN-13: 9783453311404
Heyne Verlag
Der Autor vergibt: