Ein Mann springt in einen Teich und verschwindet. Als man das Wasser ablässt, findet man auf dem Grund keine Leiche, sondern die Fußspur eines gewaltigen Drachen. Amateurdetektiv Philo Vance lässt keine unwissenschaftlichen Gaukeleien zu und findet die nichtsdestotrotz bizarre Lösung des Rätsels … – Fall Nr. 7 für einen der größten literarischen Detektive aller Zeiten, streng und glasklar auf den Fall gerichtet, ohne die im Genre so beliebten romantischen Verstrickungen und deshalb zwar gealtert, aber auch zeitlos und mit sichtlichem Bemühen um Anspruch verfasst.
Das geschieht:
Das alte Anwesen derer von Stamm liegt zwar mitten in Manhattan aber wegen seiner von Wäldern, Felsklippen und Steilufern gesäumten Grenzen wie auf einer einsamen Insel. Rudolph, der Hausherr, ist ein manischer Sammler seltsamen Wassergetiers, das er auf ausgedehnten Reisen durch die ganze Welt fängt und in riesigen Aquarien hält. Der exzentrische Mann liebt ansonsten nur seine jüngere Schwester Bernice, die sich gerade mit dem Nichtsnutz Sanford Montague verlobt hat.
Um die reiche Erbin haben sich noch andere männliche Dauergäste des Hauses bemüht. Böses Blut kocht also an einem heißen Sommerabend, als Montague während einer Party ein Bad im Drachenteich hinter dem Haus vorschlägt. Er selbst macht den Anfang, springt – und verschwindet in den Fluten.
Sergeant Ernest Heath, der an den Ort des Unfalls gerufen wird, fragt sich, wieso die Mordkommission gerufen wurde. Hilfesuchend wendet er sich an Bezirksstaatsanwalt F.-X. Markham. Wie der Zufall spielt, sitzt er gerade mit seinem Freund, dem Privatgelehrten und Amateurdetektiv Philo Vance, zusammen. Dieser schließt sich mit seinem Berater und Chronisten S. S. Van Dine den Beamten an.
Die Dekadenz des Hauses Stamm und seiner Bewohner findet sogleich Vances Interesse. Es steigert sich beträchtlich, als der Teich ausgepumpt wird. Im Schlamm des Grundes entdeckt man keine Leiche, sondern die Spuren eines riesigen Drachens! Selbst die New Yorker Polizei, sonst der harten Realität streng verhaftet, beginnt von seltsamen Ungeheuern und Spuk zu raunen. Philo Vance lehnt solche Deutungen kategorisch ab. Er geht streng logisch an den Fall heran und kommt einem Verbrechen auf die Spur, dessen Lösung freilich nicht weniger bizarr ist als der mögliche Auftritt eines Drachens …
Ein Drachenhort in der Stadt
Mitten in der Millionenstadt New York ist in einem abgeschiedenen Winkel die Zeit praktisch stehengeblieben. Eigenartige Menschen halten sich auf dem Stamm-Anwesen auf, zu dem sogar eine uralte Indianersiedlung gehört. Die Mitglieder der Familie residieren hier, seit das Land von den Holländern besiedelt wurde. Viel Blut ist geflossen, um den Reichtum der Stamms zu begründen, wird gemunkelt, und so manches Skelett liegt wohl auf dem weitläufigen Gelände begraben.
In solcher Umgebung (die es übrigens tatsächlich gibt: den Inwood Hill Park) findet man Philo Vance eigentlich selten, wie Herausgeber Volker Neuhaus in seinem Nachwort anmerkt; viel eher würde man John Dickson Carrs Dr. Gideon Fell hier erwarten, den düstere Landhäuser und alte Schlösser geradezu magisch anziehen. Es hat den Anschein, als wollte S. S. Van Dine mit „Der Mordfall Drache“ seinen Kommentar zum ungeliebten, aber bei den Lesern sehr beliebten Spiel mit dem scheinbar Übernatürlichen abgeben.
Rätsel trifft auf Ratio
Niemand ist geeigneter als Philo Vance, einem scheinbar spukenden Mörder den Todesstoß zu versetzen. Mit der ihm eigenen Konsequenz zieht der Detektiv sein Ermittlungsprogramm durch. Das kunstvoll errichtete Gebäude des „Mordfalls Drache“ demontiert er Stück für Stück, bis im Finale eine rein rationale Erklärung übrig bleibt. (Dass es so kommen wird, kündigt er redlich übrigens schon im Eingangskapitel an.)
Bis es so weit ist, liefert Van Dine wunderbare Stimmungsbilder und Landschaftsbeschreibungen. Dennoch steht der Fall stets im Vordergrund. Humorvolle Einlagen, spielerische Exkurse oder gar romantische Einlagen wird man vergeblich suchen. Der Kriminalroman ist für Van Dine kein Spaß, sondern eine ernsthafte Aufgabe, an der er sich akribisch und sachlich abarbeitet. Reichlich sind die Fußnoten, in denen sich Van Dine aufdringlich gelehrt über Themen wie eiszeitliche Gletschertöpfe oder die Schatzsuche auf den Kokos-Inseln auslässt, die mit der Handlung höchstens am Rande zu tun haben. Irgendwann gibt es sogar eine viele Seiten lange Vorlesung über Drachenmythologie auf allen Kontinenten. So bleibt schließlich keine Frage offen – und man muss es der Schreibkunst des Verfassers zugute halten, dass man sich trotzdem wunderbar unterhalten fühlt.
Intelligenz darf arrogant sein
Seit Generationen ist die Meinung über Philo Vance geteilt. Die einen sehen in ihm den amerikanischen Sherlock Holmes (bzw. einen Lord Peter Wimsey, denn der ist das eigentliche Vorbild), die Denkmaschine, die mit kühler Logik an einen Kriminalfall herangeht und dadurch Erfolge erntet, wo andere versagen. Dagegen ärgern sich die anderen hauptsächlich über sein unsympathisches Wesen. Vance ist nicht nur ein reicher Snob, der sich einen Dreck um die Meinung des Pöbels schert. Er ist wirklich klug und brilliert mit Wissen noch auf den seltsamsten Gebieten. (Natürlich entpuppt er sich hier als Fachmann für Zierfische.) Schlimmer noch: Er hat kein Problem damit seinen Mitmenschen diese Überlegenheit in Gestalt angeblicher Fragen unter die Nase zu reiben. („Vielleicht werden Sie sich auch an den Mythos von Hkun Ai und seiner Naga-Prinzessin erinnern, welche die Tochter des Drachenkönigs war …?“, S. 183) Gern streut er in Gespräche mit biederen New Yorker Polizeibeamten Originalzitate lateinischer Klassiker ein. Auch sonst weiß und kann Philo Vance offensichtlich alles. Er selbst hegt keinerlei Zweifel daran.
S. S. Van Dine ist Vances Watson. Im Gegensatz zu diesem sitzt er aber nur schweigend dabei, wenn sein Meister Hof hält oder Tatorte untersucht. Van Dine existiert nur, um Vances Wundertaten zu beobachten und als Ich-Erzähler für die Nachwelt festzuhalten. Wir vergessen schnell, dass es ihn (angeblich) wirklich gibt.
Die Polizei ist ohne Philo Vance anscheinend aufgeschmissen. Kein Wunder, wenn Sergeant Heath ihr typischer Repräsentant ist: eifrig aber dumm – ein amerikanischer Lestrade, um im Bild zu bleiben. Staatsanwalt Markham dient als Vermittler zwischen dem Fußvolk und Gottvater Vance, der ihn huldvoll „mein Alter“ nennt. Eine gelungene Eigenschöpfung des Verfassers ist Dr. Emanuel Doremus, Urvater aller über Zeitnot klagenden und in Skalpell-Sarkasmen schwelgenden Polizeiärzte, die heute in keinem Buch- oder Filmkrimi fehlen dürfen.
Die Stamms und ihre Hausgäste: eine scheinbare Elite, aber tatsächlich ein degenerierter Haufen, deren Mitglieder einander in krankhafter Hassliebe zugetan sind. Viele Klischees prägen Van Dines (dieses Mal ist der Autor gemeint) Figurenzeichnungen. Nichtsdestotrotz sind ihm diese skurrilen und zwielichtigen Typen gut gelungen.
Der „Mordfall Drache“ im Film
„The Dragon Murder Case“ wurde 1934 unter der Regie des Routiniers H. Bruce Humberstone verfilmt. Der heute völlig vergessene Schauspieler William Warren verkörperte Philo Vance – und ein „S. S. Van Dine“ trat überhaupt nicht auf.
Autor
S. S. Van Dine wurde als Willard Huntington Wright 1888 in Charlottesville, Virginia, geboren. Unter den Kriminalschriftstellern muss er geradezu als Patrizier gelten: Er besuchte diverse Colleges und schließlich die renommierte Harvard University. Dort wurde er als bester Student in den Fächern Anthropologie und Ethnologie ausgezeichnet. 1907 wechselte Wright in die Literaturredaktion der „Los Angeles Times“. Sechs Jahre schrieb er Kritiken zu Büchern und Theaterstücken. Ab 1915 arbeitete Wright als Kunstkritiker für „The Forum“. Auch als Musikkritiker versuchte er sich. In raschem Wechsel wurde er für verschiedene Zeitungen und Magazine tätig. Daneben verfasste Wright ab 1913 eine Reihe von Büchern über Kunst, Literatur und Musik, die in Fachkreisen als Standardwerke galten. 1916 entstand auch ein erster Roman.
1925 wurde Wright krank, so lautet die Fama. Zwei Jahre ans Bett gefesselt, vertiefte er sich in das Studium sämtlicher bis dato erschienener Kriminalromane. Was er las, missfiel ihm meist und er beschloss, dem Genre höchstpersönlich Logik und Klasse einzuhauchen. Diese Fassung der Wrightschen Biografie wird immer noch gern nacherzählt; die Wahrheit ist wesentlich profaner: Der hochgelehrte Mann war seiner Leidenschaft für Alkohol und Drogen erlegen und darüber arbeitslos geworden. (Man beachte, wie Van Dines Figuren obsessiv dem Alkohol huldigen; der Verfasser beschreibt stets exakt, was gerade konsumiert wird.) So warf er sich notgedrungen auf die leichte Muse, ohne dabei seine hohen eigenen Standards zu vergessen.
„The Benson Murder Case“ (dt. „Der Mordfall Benson“) markiert das Debüt des reichen, unabhängigen, hochintelligenten, herablassenden Privatgelehrten und Amateurdetektivs Philo Vance – des Mannes, der W. H. Wright gern sein wollte. Um seine wissenschaftliche Reputation zu schützen, wählte er ein Pseudonym als Verfassernamen: Van Dyne war der Name der Großmutter mütterlicherseits.
Philo Vance schlug buchstäblich ein wie eine Bombe. Binnen kurzer Zeit war Wright saniert und konnte nun im Luxus leben wie sein Detektiv. Er hütete zunächst seine Identität, die schließlich doch gelüftet wurde, als Wright sich literaturwissenschaftlich auch dem Krimi widmete. Berühmt wurden 1928 seine „Twenty Rules for Writing Detective Stories“, die sämtlich einen nachvollziehbaren Plot einforderten.
Wright schrieb insgesamt zwölf Philo Vance-Romane, die sämtlich verfilmt wurden. Auch für das Radio wurden sie bearbeitet. Seinen Reichtum genoss Wright in vollen Zügen. Als er im Jahre 1939 an einem Herzanfall starb, belief sich sein Erbe auf gerade noch 13.000 Dollar.
Taschenbuch: 288 Seiten
Originaltitel: The Dragon Murder Case (New York : Scribner’s 1933)
Übersetzung: Manfred Allié
http://www.dumont-buchverlag.de
Der Autor vergibt: