Lucy Wadham – Verschwunden

Auf einer Mittelmeerinsel wird einer englischen Besucherin der Sohn entführt. Die Polizei in Gestalt eines verbitterten Kommissars sieht in einem örtlichen Gangsterboss als Schuldigen, sodass die Ermittlungen bald in eine Privatfehde ausarten. In ihrer Not wendet sich die Mutter direkt an den Gangster, der die Chance wittert, mit ihrer Hilfe seinen Widersacher zu vernichten. Die Frau versucht sie ihr eigenes, gefährliches Spiel, bis sich drei zu allem entschlossene Kontrahenten gegenüberstehen … – Bemerkenswerter Thriller mit Kammerspiel-Charakter; drei Hauptfiguren spielen sich den Ball zu, den sie niemals den Boden berühren lassen. Elegant, mit ständigen Hakenschlägen und fabelhaften Figurenzeichnungen läuft die Geschichte auf das wahrhaft krönende Finale zu: eine echte Entdeckung, diese Lucy Wadham!

Das geschieht:

Mathieu Aron ist bei einem Sportunfall gestorben. Zurück blieben seine englische Frau Alice und die beiden kleinen Söhne Sam und Dan. Sie reisen auf die Insel im Mittelmeer, wo das Haus der Colonnas steht, das ihnen Mathieu hinterlassen hat. Kurz nach der Ankunft wird Sam entführt. Der örtlichen Polizei steht Kommissar Antoine Stuart vor. Schon längst ist er in Routine erstarrt und frönt mit Leidenschaft höchstens seiner seit Jahren schwelenden Fehde mit Claude „Coco“ Santini, dem Boss der mächtigen Separatistenbewegung FLN, den er niemals hat fassen können.

Obwohl er weiß, dass die FLN nicht mit Entführungen ‚arbeitet‘, nennt Stuart Santini als Verdächtigen, denn dies gibt ihm die Chance, den verhassten Feind mit der ganzen Macht des Gesetzes zu verfolgen. Aber Santini ist zumindest in diesem Fall unschuldig. In der FLN stehen seit einiger Zeit starke Kräfte gegen ihn, die ihn stürzen wollen und zudem einen riskanten Waffenhandel treiben. Das ist schlecht fürs Geschäft und erregt Santinis Zorn. Er muss jedoch vorsichtig taktieren.

Alice durchschaut Stuart und wendet sich nun an Santini. Aber auch der Gangster sucht vor allem seinen Vorteil. Er will Alice einsetzen, um Stuart eine Falle zu stellen, die ihm den lästigen Verfolger endgültig vom Halse schaffen soll. Die Rechnung haben die beiden Kontrahenten indessen ohne Alice gemacht. In ihrer Not spinnt sie ihre eigene Intrige. Der Preis ist hoch: das Leben von Sam und womöglich ihr eigenes Leben, denn weder Stuart noch Santini lassen sich manipulieren. Ein gefährliches Spiel beginnt, in dem sich drei Parteien misstrauisch umkreisen. Wer wird den ersten – und letzten – Fehler machen …?

Ort – Handlung – Figuren: perfekt!

Eine ganz einfache Geschichte, ein kriminalistisches Kammerspiel, wenn man so möchte. Es gibt nur ein Bühnenbild – eine recht karge Insel, auf der sich eine überschaubare Gruppe von Menschen ein sechs Tage währendes Katz-und-Maus-Spiel liefern. Nichts soll ablenken vom eigentlichen Geschehen. Nie erfahren wir Zeit und Ort des Dreikampfs. (Letzterer lässt sich immerhin leicht erschließen: Bei der ungenannten Insel muss es sich um Korsika handeln.) Trotzdem wird deutlich, dass Wadham sich in der (französischen) Mittelmeer-Szene auskennt: Die Insel wird zur Kulisse, in der man sich bei der Lektüre leicht zurechtfindet.

Der Tonfall bleibt sachlich, wirkt manchmal sogar kühl; eine erfreuliche Entscheidung, die jede „Kleines-Kind-ist-verschwunden!-Furchtbar!“-Hysterie, die diesem an sich nicht gerade neuen Plot innewohnt, sorgfältig vermeidet. Wadham schildert, aber sie zwingt ihren Lesern keine Reaktionen auf. Deshalb gibt es auch keine billigen Tricks wie z. B. das seitenlang ausgewalzte Bedrohen des entführten Kindes durch vertierte Strolche, bis endlich der letzte Leser jubelt, wenn es diesen nacheinander ganz besonders grässlich an die Kragen geht.

Eine Geschichte wie „Verschwunden“ steht und fällt mit der Glaubwürdigkeit ihrer Figuren. Gedanken und Stimmungen ersetzen vordergründige Handlungselemente wie Schießereien oder Verfolgungsjagden. (Achtung, misstrauische Actionfreunde: Das kann richtig angefasst genauso spannend sein! Und gänzlich ohne Spektakel löst Wadham ihre Story natürlich auch nicht auf.) In diesem Punkt trifft die Autorin ins Schwarze: Für den Leser nehmen Alice Aron, Antoine Stuart und Coco Santini Gestalt an. Das trifft auch auf die Nebenfiguren zu.

Wer ist Schurke, wer ist Held?

Wobei der Bösewicht wie so oft die interessanteste Gestalt ist. Coco Santini ist weder ein irrer Schlagetot noch ein Theater-Mafioso. Er selbst sieht sich als Geschäftsmann, der es nicht nötig hat, sich an die Regeln zu halten. In vielen Jahren hat er sich ein eigenes kleines Reich geschaffen, dessen Bürger bzw. Untertanen ihn durchaus nicht nur fürchten, sondern auch schätzen, denn als guter „Pate“ schröpft er sie nicht nur, sondern sorgt auch für sie – und dies oft besser als die ferne Regierung oder das Gesetz, denn Coco Santini lebt unter ‚seinen‘ Leuten und ist direkt ansprechbar.

Natürlich ist nichts umsonst auf dieser Welt. Es ist gesünder, nach Santinis Regeln zu leben. Wer gegen diesen einfachen „Rat“ verstieß, den musste Kommissar Stuart schon oft in einem abgeschiedenen Inselwinkel finden. Santini ist kein Psychopath, der die Gewalt liebt, aber er setzt sie völlig selbstverständlich ein als Mittel zum Zweck ein – kein Widerspruch, wie Wadham glaubhaft zu veranschaulichen weiß.

Antoine Stuart ist das Paradebeispiel eines unglücklichen Zeitgenossen, der sich selbst das Leben am nachhaltigsten zur Hölle macht. Ans Scheitern hat er sich gewöhnt; ihm ist es quasi in die Wiege gelegt, wie er meint: Der Name „Stuart“ wurde von Amts wegen jenen „Bastard-Kindern“ verliehen, deren Väter – britische Soldaten – sich nach dem Ende des II. Weltkriegs hastig aus dem Staub gemacht hatten.

Konsequent zum Höhepunkt

Das unglücklich begonnene Leben setzte sich ungebrochen als Abwärtsspirale bis in die unerfreuliche Gegenwart fort. Fast ist Stuart dankbar, weil er in Coco Santini eine Feindgestalt fand, auf die er seine Frustration und seinen Zorn projizieren kann. Mit ungesunder Verbissenheit jagt er seither seinen Feind, aber eigentlich sich selbst. Alice Aron sollte also nicht auf die Hilfe eines leutseligen, verständnisvollen oder auch nur tüchtigen Polizisten zählen, denn das alles ist Antoine Stuart nicht!

Alice ist freilich ohnehin keine vom Leben verwöhnte Frau. Der verstorbene Gatte wird vermisst, ohne dass Alice die Einseitigkeit dieser Ehe leugnen kann. Als Mutter neigt sie zur überforderten Ungeduld. Hinzu kommen finanzielle Probleme, da der verstorbene Mathieu sie nicht gerade optimal versorgt zurückließ.

Für die Leser erfreulich ist Wadhams durchgehaltenes Vermeiden allzu beliebter Klischees. Alice verwandelt sich nicht von der durchsichtig-durchschnittlichen Alltagsfrau in eine gangsterfressende Löwenmutter, die selbstverständlich ihr Kind rettet und sogar noch Mr. Right als finale Belohnung einfängt. Stattdessen bleibt sie glaubhaft und fesselnd der etwas spröde, schwer einzuschätzende, nicht unbedingt zur Identifikation einladende Charakter, als den Wadham sie einführt und bis zum bittersüßen Finale beibehält.

Autorin

Lucy Wadham wurde 1964 in London geboren. Sie studierte am Magdalen College in Oxford. 1989 arbeitete sie für den Nachrichtensender BBC Paris. Ab 1994 ist Wadham freie Journalistin und Schriftstellerin. Als Autorin debüterte Wadham 2000 mit Lost (dt. Verschwunden), einem Thriller, der für den Macallan Gold Dagger Award nominiert wurde. In Frankreich ist sie geblieben und lebt dort mit ihrer Familie. 2009 veröffentlichte sie The Secret Life of France, eine Mischung aus Autobiografie und Essays, die sich um ihr Leben in Frankreich ranken.

Taschenbuch: 336 Seiten
Originaltitel: Lost (London : Faber & Faber Ltd. 2000)
Übersetzung: Uschi Gnade
http://www.dtv.de

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